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Anregendes Handbuch zur Poesie Russlands

In der von Felix Philipp Ingold edierten Anthologie läuft die Chronologie der vorgestellten Gedichte rückwärts, die berühmtesten Dichter stehen neben marginalen Poeten. Doch gerade dadurch vermittelt "Als Gruß zu lesen" mosaikartig ein Gesamtbild der russischen Poesie der letzten zwei Jahrhunderte.

Von Karla Hielscher |
    Die Zeit Gedichte zu lesen
    Ist die Zeit ihrer Niederschrift

    das Schrammen
    des hundertflügligen Engels
    des Buches

    das Gespräch der Fische
    vernehmbar geworden
    den Vögeln

    sie liegt irgendwo
    zwischen den Kissen
    und dem Morgen

    Meine Gedichte!

    Auch unter der Folter
    geb ich sie nicht her
    werden alle Abschriften verbrannt
    ist mein Gedächtnis leer

    Die Zeit Gedichte zu lesen

    Beeilt euch!

    Nie wird sie kommen.


    In diesem Gedicht des wenig bekannten Poeten Wladimir Buritsch aus den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts klingen Themen an, die in der vorliegenden Lyrik-Anthologie eine herausragende Rolle spielen: die enorme Bedeutung von Dichtung, insbesondere unter repressiven politischen Umständen und das Nachdenken über den ganz eigenartigen Status eines solchen Textes im Verhältnis zwischen seinem Schöpfer und dem Leser, da eben - wie der Herausgeber Felix Philipp Ingold in seinem Kommentar schreibt - "die intensivste Art, ein Gedicht zu lesen darin besteht, ein solches zu schreiben."

    In dieser Anthologie russischer Lyrik von 2000 bis 1800 ist alles anders als gewohnt: die Chronologie der vorgestellten Gedichte läuft rückwärts aus der Gegenwart in die Vergangenheit; es findet sich kein einziges der verbreiteten Schulbuchklassikertexte; die berühmtesten Nationaldichter stehen neben marginalen, abseitigen Poeten; von jedem Autor ist nur ein Werk abgedruckt, wodurch die etwa 150 ausgewählten Gedichte gegensatzreich, aber völlig gleichgewichtig und "außer Konkurrenz" nebeneinander stehen; die Namen von vielen Dichtern werden auch Kenner der russischen Literatur zum ersten Mal hören. Eine derartige Vorgehensweise bedarf natürlich der Erklärung!

    Der Herausgeber und Übersetzer dieser Anthologie, Felix Philipp Ingold, formuliert in seiner Einleitung den Anspruch, dass diese ungewöhnliche und unkonventionelle Gedichtsammlung trotzdem für die russische Lyrik der vergangenen zwei Jahrhunderte repräsentativ sei: in ihrem Formbestand, ihrer thematischen Horizontbreite, ihrer intertextuellen Vernetzung und historischen Evolution.

    Und es leuchtet schnell ein: gerade durch den Verzicht auf den immer gleichen Fundus des Kanons, durch die ungeheuer breite Streuung der Auswahl und die gegenläufige historische Anordnung tritt uns mosaikartig ein Gesamtbild der russischen Poesie der letzten zwei Jahrhunderte entgegen.

    Dies aber vor allem deshalb, weil im umfassenden Anhang, der mehr als ein Drittel des Buches ausmacht, zu jedem Gedicht ein biografischer Essay über dessen Autor sowie ein informativer Kommentar zum Werk zu lesen ist. Man wird also angeregt, ständig zwischen den Gedichten und den spannenden Auskünften über die häufig abenteuerlichen Lebensgeschichten der Dichter, ihre Einordnung in die literarische Tradition und Hinweisen zur Interpretationen der Texte hin- und her zu springen. Mit großem Gewinn liest man dazu auch den Essay des bedeutenden Sprach- und Literaturwissenschaftlers Roman Jakobson über die "Wege der russischen Poesie", den der Herausgeber hier "Statt eines Nachwortes" zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorlegt.
    Charakteristisch für die Auswahl ist, dass der weitaus größte Teil der abgedruckten Gedichte ins 20. Jahrhundert gehört. Neben den großen Namen Jessenin, Achmatowa, Brodsky sind das eine Menge von vergessenen oder nie bekannt gewesenen Autoren, die verfolgt waren oder unter erbärmlichsten Lebensbedingungen im Exil oder dem Samisdat-Untergrund arbeiteten. Sie alle dokumentieren die ungeheure Lebendigkeit der russischen Poesie auch zu Sowjetzeiten.

    Das 19. Jahrhundert macht nur etwa den fünften Teil aus, jedoch wird die für die russische Literatur typische Tradition deutlich, dass immer wieder bestimmte thematische Komplexe auftauchen wie zum Beispiel der Mythos der Stadt Petersburg oder metapoetische Reflexionen über das Dichten oder das intertextuelle Gespräch mit anderen berühmten Dichtungen. Etwa in Gawriil Batenkows Gedicht "Non exegi monumentum", das eine Antwort auf Puschkins kanonisiertes Vermächtnisgedicht darstellt.

    Ich will von mir kein Monument, in Erz gegossen,
    Das selbst die Pyramiden in den Schatten stellt;
    Meine Gestalt ist umrißlos, bereits zerflossen,
    Und es gibt keine Volkslegende, die von mir erzählt.
    Noch bin ich nicht ganz tot: im Feinstaub der Epoche
    Wird sich erhalten meine längst verwischte Spur.
    "Als Dichter", wird man sagen, "hat er leis gesprochen,
    Doch seine Stimme dringt von weither zu uns durch."


    Aufgenommen werden auch Nachdichtungen aus anderen Sprachen und sogar Beispiele fremdsprachig abgefasster Werke, etwa ein in Russisch geschriebenes Gedicht von Rainer Maria Rilke.

    Bei der Übertragung setzt Ingold den Schwerpunkt auf Formtreue. Das heißt, er bemüht sich durchgängig und vielleicht zu starr und dogmatisch, die formale Gestalt des Originalgedichts – also Versmaß, Reimschema und klangliche Qualitäten - möglichst vollständig zu erhalten. Ihm ist bewusst, dass er dabei "auf der Bedeutungsebene Verluste oder Abweichungen in Kauf nehmen" muss. Ingold möchte – wie er erklärt - mit seiner Übersetzung mehr bieten als eine "interlineare Lesehilfe" zum russischen Text, sondern "das Gedicht als Ganzes nachbauen", sodass "zwei selbstständige Originaltexte" entstehen.

    Das erscheint allerdings gerade für die russische Verskunst, bei der bis heute der Endreim üblich und der freie Vers die Ausnahme ist, als ein durchaus fragwürdiges Prinzip, und die These von den zwei selbstständigen Originaltexten ist anfechtbar.

    Die Bewahrung von Metrum und Reimschema wird – insbesondere bei den sehr verbreiteten komplexen Bauformen wie dem Sonett – oft teuer bezahlt. Mit der vom Versmaß erzwungenen Verdrehung der Syntax, den oft allzu gesuchten, künstlichen oder im Gegensatz zu den im Russischen reinen, im Deutschen aber unreinen und manchmal kaum als solche zu erkennenden Reimen geht die Einfachheit und Klarheit des Originals verloren.

    Für Leser, die Russisch können, wird also – besonders bei den Gedichten aus dem 19. Jahrhundert – sehr schnell deutlich, welche der beiden Versionen der wirkliche "Originaltext" ist.

    Dabei gibt es viele überzeugende Beispiele gelungener Nachdichtung. Das erste Gedicht der Sammlung aus dem Jahr 2000 stammt von dem 1974 geborenen Boris Ryshij, der - Boxchampion und Geologe, im sozialen Underground seiner Heimatstadt zuhause - sich mit 27 Jahren das Leben nahm. Es trägt den Titel "Russland…":

    Russland ist ein alter Kinosaal.
    Woran man sich erinnert, ganz egal –
    Immer hocken sie im Hintergrund,
    Die Veteranen,
    Sie spielen Domino und
    Wenn ich dann im Suff mal sterbe,
    Wird sich der Flieder wiegen in den Winden
    Und für immer wird das Kind verschwinden,
    Das in Shorts dort drüben herumrennt.
    Und der Veteran mit den grauen Brauen
    Steckt die Süßigkeiten wieder ein:
    Wohin – so denkt er – ist der Kleine abgehauen?
    Ich hab mich in den Vordergrund zurückgezogen.


    Dieses inhaltsreiche, schön gestaltete Buch mit seinem ungewöhnlichen Konzept, dem immensen Reichtum an neuen, unbekanntem Texten und Namen und wissenswerten Informationen ist ein außergewöhnlich anregendes, unerschöpfliches Handbuch zur russischen Dichtung.

    Felix Philipp Ingold: "Als Gruß zu lesen". Russische Lyrik von 2000 bis 1800.
    Herausgegeben und übersetzt von Felix Philipp Ingold
    Russisch-Deutsch, Dörlemann Verlag, 535 Seiten, 35 Euro.