Nicht nur Frankreich erlebe eine Bewegung der Radikalisierung und Islamisierung. "Wir sehen diese jungen Männer und manchmal auch Frauen, die in den Irak oder nach Syrien gehen wollen und vielleicht mit Waffen zurückkommen wollen. Das ist eine gemeinsame Frage, die wir in Europa und nicht nur in Frankreich zurzeit erleben", sagte der ehemalige französische Premierminister Jean-Marc Ayrault im Deutschlandfunk.
Der Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" in Paris sei eine Tragödie. "Charlie Hebdo" gehöre zu einer alten Tradition in Frankreich. Das Land stehe unter Schock. "Gestern waren die Demokratie und die Freiheit richtig im Visier", sagte Ayrault.
Der Hass der Mörder sei schwierig zu verstehen, aber die Franzosen hätten gestern mit ihren Solidaritätskundgebungen auf der Straße positiv reagiert und gezeigt, dass sie keine Angst hätten. Ayrault warnte davor, das Blutbad auszunutzen und nun die innenpolitische Debatte zu befeuern.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Mitgehört hat der ehemalige französische Premierminister Jean-Marc Ayrault von der Sozialistischen Partei. Guten Morgen.
Jean-Marc Ayrault: Guten Morgen!
Heinemann: Herr Premierminister, was bedeutet dieses Attentat für Frankreich?
Ayrault: Ja, das ist eine Tragödie. Wir suchen die genauen Wörter, das ist schwierig zu finden. Aber Frankreich ist unter Schock, das ist klar, und gestern war die Demokratie und die Freiheit richtig im Visier und das ist ein Angriff gegen das Symbol der Demokratie, eine Zeitschrift, eine Satirezeitschrift, die zu einer alten Tradition in Frankreich gehört. Das Ziel war klar und die Demokratie darf nicht schwach sein. Gestern sind spontan Tausende von Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gegangen, haben Nein gesagt und haben alle "Wir sind Charlie" gerufen. Das ist eine positive Reaktion nach diesem grausamen Attentat.
Heinemann: Glauben Sie, Herr Ayrault, dass sich französische Journalisten noch trauen werden, Mohammed-Karikaturen oder islamkritische Karikaturen zu veröffentlichen?
"Wir werden der Angst nicht nachgeben"
Ayrault: Ja. Ich glaube, diese Tradition der Karikatur gehört zu der Freiheit der Presse. Und wenn ich die Demokratie erwähne, das heißt, zur Demokratie gehört die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Kunstfreiheit. Und diese Terroristen, die wir nicht genau kennen, sie gehören bestimmt zu keiner internationalen Gruppe, aber kommen vielleicht direkt von Frankreich und die Polizei sucht zurzeit zwei Männer. Aber das Symbol unserer Demokratie, die Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit war gestern direkt angegriffen. Die Franzosen haben spontan reagiert und gesagt gestern Abend auf der Straße, ich war auch dabei und es war sehr wichtig, dass wir alle zusammen waren, haben alle gesagt, wir werden der Angst nicht nachgeben.
Heinemann: Vermutlich - es ist nicht auszuschließen - waren die Attentäter Franzosen mit maghrebinischem Hintergrund.
Ayrault: Ja, das war so.
Heinemann: Entschuldigung! Kurz noch die Frage: Ist die Integration in Frankreich zum Teil gescheitert?
Ayrault: Ja, das ist sie. Wir wissen, wir haben ein Problem mit der Integration. Das französische Modell ist ein Integrationsmodell und zum Teil ist es gescheitert, aber nicht völlig gescheitert. Wir müssen das, was nicht geht, korrigieren. Aber die Integrationstradition gehört zu unserer Konzeption in Frankreich. Heute sprechen wir über dieses Attentat von gestern. Für Mord und Terror gibt es keine Rechtfertigung, keine Erklärung, keine spontane Erklärung. Wir wissen, dass manche Jugendliche isoliert sind. Aber es wäre sehr gefährlich zu verallgemeinern. Das heißt, Moslems oder Islam ist verantwortlich. Es ist zurzeit eine Bewegung der Radikalisierung, nicht nur in Frankreich, aber auch in Europa. Wir sehen diese jungen Männer und manchmal Frauen, die nach Irak oder nach Syrien gehen wollen, und vielleicht werden sie mit Waffen zurückkommen. Das ist eine gemeinsame Frage, die wir in Europa, nicht nur in Frankreich zurzeit erleben.
Heinemann: Herr Premierminister, Sie haben eben die Schriftstellerin Gila Lustiger gehört.
Ayrault: Ja.
"Wichtig, dass die Parteien einig bleiben"
Heinemann: Hat der Front National gestern viele zusätzliche Wählerinnen und Wähler gewinnen können?
Ayrault: Ja, ich hoffe nicht. Ich hoffe, dass das, was im Grunde liegt in Frankreich bei den Bürgerinnen und Bürgern, stärker sein wird als die Angst sein wird, und es ist sehr wichtig, dass in den nächsten Tagen die verschiedenen Parteien einig bleiben, und der französische Präsident Francois Hollande wird heute alle Parteiverantwortlichen, die Fraktionsvorsitzenden und Parteivorsitzenden empfangen. Das ist sehr, sehr wichtig, dass dieser Dialog weitergeht und dass keiner versucht, diese traurige und dramatische Situation auszunutzen. Das ist auch eine Gefahr. Ein solches Blutbad dürfte kein Anlass sein, innenpolitische Debatten zu befeuern. Es gibt eine Gefahr, aber gestern haben wir alle Parteien gehört und wir haben auch die internationale Solidarität sehr hart gehört, und das war auch sehr positiv. Gestern Abend auf den Straßen waren die Menschen da ganz spontan gekommen.
Heinemann: Wie erklären Sie sich den Hass der Mörder?
Ayrault: Es ist schwierig zu verstehen. Wir hatten 2012, das war direkt im Wahlkampf der Präsidentenwahl, erinnern Sie sich daran...
Heinemann: Toulouse und Montauban.
Ayrault: Das war ein isolierter Mensch, der auch das gleiche gemacht hat. Es war das Militär, das getroffen war, eine jüdische Schule, und diesmal ist es eine Zeitschrift, also immer Symbol der Demokratie und der modernen Gesellschaft. Aber das Problem liegt auch nicht nur in unseren Gesellschaften. Das gibt es auch im Mittleren Osten oder im Nahen Osten und das ist ein Problem, das ist ein Argument manchmal für die Radikalisierung.
Heinemann: Jean-Marc Ayrault, der frühere französische Premierminister von der Sozialistischen Partei. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Ayrault: Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.