Bevor das Brandenburger Tor wieder durchlässig und Schinkels Neue Wache in Berlin als gesamtdeutscher Gedenkort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft eingerichtet wurde, hatte deren Funktion jahrzehntelang die Berliner Gedächtniskirche inne – zumindest für den Westteil der Stadt. Die Turmruine der im Zweiten Weltkrieg zerstörten wilhelminischen Kirche mit dem direkt daneben errichteten Neubau von Egon Eiermann fand sich als Wahrzeichen des Berliner Westens auf unzähligen Postkarten, Büchern, auf Briefmarken und Werbebroschüren. Hier wurden Staatsgäste hingeführt, und wer über den Bahnhof Zoo, den damaligen West-Berliner Hauptbahnhof ankam, sah sie bei der Einfahrt sofort – und drumherum das Gefunkel von Leuchtreklamen und Werbetafeln, wie man es damals sonst eigentlich nur aus amerikanischen Großstädten kannte.
Kirchenruine sollte auch Zeichen an die Welt sein
In unmittelbarer Nähe befinden sich der Kurfürstendamm und das Kaufhaus des Westens; auf dem Hochhaus des Europa-Centers dreht sich noch immer der große Mercedes-Stern. Die Inszenierung dieses ganzen Ortes im Kalten Krieg bündelte das Wesen der alten Bundesrepublik wie in einem Brennglas. Die Kirchenruine sollte natürlich als Mahnmal dienen und als Zeichen an die Welt: Wir Deutschen haben unsere Lehren aus dem Krieg gezogen. "Der Turm soll an das Gericht Gottes erinnern, das über unser Volk hereinbrach", heißt es auf einer Gedenktafel im unverkennbaren Jargon der Zeit, der die Deutschen eher selbst als Opfer des Krieges, nicht als dessen Ursache verstanden wissen wollte. Drumherum präsentierte die freie Marktwirtschaft ihre Leistungsschau und durfte sich im Schatten der Gedächtniskirche als Symbol für Freiheit und Frieden mitgemeint fühlen.
Nach dem Mauerfall war es aber damit erst einmal vorbei. Die Gegend um die Gedächtniskirche erfuhr einen drastischen Bedeutungswandel und wurde zumindest für die Berliner zum Symbol für den abgehängten Westen, der hinter dem Aufbau Ost zurückstehen musste, alles zog in die neue Mitte, während die Einkaufsstraßen im Westteil der Stadt verödeten. Erst seit einigen Jahren steuert die Berliner Stadtbaupolitik gegen, zwei Hotelhochhäuser in direkter Nachbarschaft überragen seitdem den Turm der Gedächtniskirche um Längen und bringen ihn fast zum Verschwinden.
Gedächtniskirche als Friedenssymbol
Seit dem 19. Dezember 2016 hat sich die Symbolik des Ortes wieder drastisch gewandelt.
Vielleicht haben die Urheber des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt tatsächlich die Gedächtniskirche als Friedenssymbol gemeint und es nun in ein Symbol des Krieges, des Dschihad umwerten wollen. Ein Symbol des Krieges aber war die alte Gedächtniskirche schon einmal – auch vor ihrer Zerstörung durch einen britischen Luftangriff im November 1943. Zu Kaiser Wilhelms Zeiten wurde auf Mosaiken unter anderem der Sieg im Deutsch-französischen Krieg von 1870/71 verherrlicht. Doch die Stimmung in der Stadt ist gelassen, wenn auch voller Trauer. Nichts spricht heute dafür, dass sich die Berliner heute wieder auf symbolische Kriegstreiberei einlassen.