Rohullah Jan kann es immer noch nicht fassen, was ihm da mitten in der Nacht passiert ist: "Meine drei Brüder und ich waren zu Hause, als plötzlich die Scheiben der Fenster barsten. Die Splitter trafen meinen Kopf. Ich bekam noch mit, dass meine Brüder in Ordnung waren – und was dann passierte, weiß ich nicht mehr. Als ich die Augen wieder öffnete, lag ich im Krankenhaus."
Aziz Khan, ein Ladenbesitzer im dicht besiedelten Stadtviertel Shah Shahid, steht ebenfalls noch unter Schock: "Alles wackelte. Ich dachte, das sei ein Erdbeben. Es war schrecklich."
"Hier sind Kinder und Frauen getötet worden"
Tatsächlich war, gegen zwei Uhr in der Früh, ein Lastwagen explodiert, die Attentäter hatten ihn voll mit Sprengstoff beladen. Dort, wo der Lkw stand, ist jetzt ein riesiger Krater mit einem Durchmesser von vielleicht 20 Metern. Die umstehenden Häuser sind zerstört. Ziel des Anschlags war offenbar ein Armeestützpunkt ganz in der Nähe. Die Opfer aber sind allesamt Zivilisten.
"Hier sind Kinder und Frauen getötet worden, viele von ihnen liegen noch unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. Was ist denn das für eine Regierung, die so etwas zulässt?" Mohammad Naseem, ein Anwohner, ist wütend. Auf die Behörden, die den Anschlag nicht verhindern konnten, und auch auf diejenigen, die ihn ausgeführt haben. Bisher hat noch keine Gruppe die Verantwortung übernommen. In der afghanischen Hauptstadt detonieren häufig Sprengsätze, oft jagen sich Selbstmordattentäter in die Luft. Die Liste der Anschläge auch in diesem Jahr ist sehr lang.
Aber dass ein ganzer Lastwagen voller Sprengstoff eingesetzt wird, ist selten. Es gibt mehrere Checkpoints, an denen Sicherheitskräfte eigentlich auch die Ladung der Lkw untersuchen sollen. Entsprechend hilflos reagieren viele Menschen auf diesen Anschlag, so auch dieser Passant: "Die Sicherheitslage wird hier mit jedem Tag schlechter. Wir müssen jeden Tag Angst um unser Leben haben."
Der Krieg tobt mit unverminderter Härte
Fast 5.000 Zivilisten sind in diesem Jahr bereits in Afghanistan getötet oder verletzt worden, diese Zahl haben die Vereinten Nationen vor zwei Tagen veröffentlicht. Der Krieg tobt mit unverminderter Härte, es gab allein mehr als 200 Anschläge in diesem Jahr. Zwar ist immer wieder die Rede von Friedensgesprächen zwischen Regierung und Taliban. Aber die Extremisten scheinen sich nicht einig zu sein, ob sie diese Gespräche überhaupt wollen.
In der vergangenen Woche mussten sie zugeben, dass ihr Gründer und religiöser Führer Mullah Omar schon vor zwei Jahren gestorben ist. Mullah Omar war die einigende Figur für viele Taliban, deshalb haben die Extremisten lange versucht, seinen Tod geheim zu halten. Selbst westliche Geheimdienste hatten offenbar bis zuletzt keine Ahnung, ob und wo Mullah Omar lebte.
Unklar ist jetzt, wie viel Rückhalt der neue Taliban-Anführer Mullah Mansur hat. Mansur gilt als vergleichsweise gesprächsbereit. Viele jüngere Kämpfer, darunter der Sohn des Taliban-Gründers Mullah Omar, scheinen ihn aber nicht zu unterstützen. Zudem sind einige Taliban-Gruppen zum Islamischen Staat übergelaufen, der sich auch in Afghanistan etablieren will.
Der IS hat bereits die Verantwortung für Anschläge in Afghanistan übernommen. Es gab heftige Kämpfe zwischen Taliban und IS-Anhängern. In anderen Provinzen, auch im Norden Afghanistans, gibt es seit Monaten Auseinandersetzungen zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften. All das sorgt dafür, dass sich das Land, seine Gesellschaft und die Wirtschaft nicht entwickeln können. Und wie in der vergangenen Nacht in Kabul sind die Leidtragenden vor allem: unschuldige Zivilisten.