Alle Vorbereitung war vergeblich. Nizza wurde in einem symbolischen Augenblick getroffen. Die Feiern zum Nationalfeiertag, das Feuerwerk am Strand ist traditionell Anziehungspunkt für Familien, ein Pflichttermin im Kalender für Eltern, Großeltern Kinder, Enkel, für Touristen aus aller Welt, auch aus Deutschland.
"Ein weißer Lastwagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf die Menschenmenge zu", schildert ein Augenzeuge.
In der Stadt am Mittelmeer, Nizza, mit der lang gezogenen Promenade, der lebendigen Altstadt, in der sich italienische mit französischen Tönen aus historischen, aus geografischen Gründen mischen, dieses Nizza kennt Großveranstaltungen. Der Karneval im Februar gilt der ganzen Welt als Magnet, wie Rio und Venedig. Sicherheitskräfte, Notaufnahmen - alle sind geübt in Ausnahme- und Notfallszenarien. Zumal es immer wieder auch Terrorwarnungen für Nizza gegeben hat.
Dennoch: Die vier Fußballspiele im Rahmen der Europameisterschaft liefen weitgehend ruhig ab, ein Attentat jedenfalls blieb aus. Auch die Befürchtung, eine Attacke könne vom Mittelmeer aus auf die Stadt verübt werden, erwies sich als unbegründet. Pläne, wie auf einen denkbaren Cyberangriff zu reagieren wäre, auch sie konnten in der Schublade bleiben.
Hollande wollte den Ausnahmezustand aufheben
Der Angriff, der Nizza jetzt traf und mit der provenzalischen Stadt ganz Frankreich, dieser Angriff lief unterhalb der Schwelle hoch spezialisierter Attentatspläne ab. Ein Lastwagen, der in die feiernde Menschenmenge rast. Ein Fahrer, der töten will und tötet, bevor er selbst von Sicherheitskräften erschossen wird. Nicht Cyberattacken, nicht Sprengstoffgürtel in Fan-Zonen, nicht Angriffe vom Meer aus – ein Lastwagen, der mehr als achtzig Menschen in den Tod reißt.
Als das Fußballfest vorüber war und die Feiern zum Nationalfeiertag anstanden, da hatte der französische Staatspräsident seinen Landsleuten gesagt, der Ausnahmezustand werde Ende des Monats aufgehoben: Der Notstand, der nach den blutigen Anschlägen des 13. November ausgerufen worden war, ende am 26. Juli. Es dauerte nur wenige Stunden, da musste Francois Hollande diese Ankündigung wieder zurückziehen. Wieder wurde die "Alarmstufe Attentat" ausgerufen – nun auch in der Provinz, an der Mittelmeerküste, im Urlaubsland Frankreich. Der Ausnahmezustand wird um drei Monate verlängert, das Parlament soll in den nächsten Tagen um Zustimmung gebeten werden.
All das verordnete die Regierung noch in der Nacht. Da war der Täter kaum identifiziert, da standen die Hausdurchsuchungen im Norden Nizzas, in der Wohnung des Lastwagenlenkers, noch bevor. Der Fahrer sei getötet worden, informierte der Staatspräsident seine Landsleute in der Nacht. Das Profil des Mannes, das Motiv war zu dieser Stunde unklar. Dennoch lenkte der französische Staatspräsident die Aufmerksamkeit sogleich auf den islamistischen Terror: Der terroristische Hintergrund der Attacke könne nicht geleugnet werden, sagte Francois Hollande und ergänzte: "Es ist klar, wir müssen alles tun, um gegen die Plage des Terrorismus ankämpfen zu können."
"Die Menschenrechte werden von den Fanatikern in Abrede gestellt"
In einer Stadt, von der die Sicherheitsbehörden sagen, dass sie eine auffällige Dschihadisten-Szene habe, fiel der Satz des Staatspräsidenten auf fruchtbaren Boden. Mit Nizza ist der Name des Franco-Senegalesen Oumar Diaby verknüpft, der als radikaler Imam als einer der eifrigsten Anwerber für den Dschihad gilt. Zuletzt hatte er sich gebrüstet, mindestens 80 junge Franzosen rekrutiert zu haben. Der Salafist war in den sozialen Netzwerken durch seine Propagandafilme zu den Anschlägen des 11. September bekannt geworden. Gerüchte darüber, dass Diaby, der sich Omar Omsen nennt, tot sei, waren unlängst erst durch Fernsehaufnahmen des Senders France 2 wiederlegt worden.
Die Verbindungslinie zwischen syrischen Ausbildungscamps und Nizza wurde in Frankreich also immer wieder gezogen, auch deshalb formulierte der Staatspräsident in der Hauptstadt Paris wenige Stunden nach dem Angriff: "Frankreich wurde an seinem Nationalfeiertag getroffen. Dem Symbol der Freiheit. Die Menschenrechte werden von den Fanatikern in Abrede gestellt, Frankreich ist damit deren Ziel."
Die Attentate des 13. November 2015 auf den Konzertsaal Bataclan, die Café-Terrassen und das Fußballstadion von Paris; der Anschlag auf den Supermarkt für jüdische Lebensmittel und die Redaktion von Charlie Hebdo wenige Monate zuvor – all das prägt die Gefühlswelt vieler Franzosen. Was hat der Staat getan, um seine Mitbürger zu schützen?
Diese Frage hatte sich ein Untersuchungsausschuss des französischen Parlaments vorgelegt, als es zuletzt um die islamistisch motivierten Anschläge ging. Vor wenigen Tagen erst legte die parteiübergreifende Kommission ihren Bericht vor. Tenor: Die Geheimdienste haben an mehreren Stellen versagt.
Geheimdienstmethoden basierend auf den Erkenntnissen der 80er-Jahre
Sicher, sagte bei der Gelegenheit Sébastien Pietrasanta von den Sozialisten in einem Zeitungsinterview, es sei nachher immer leicht, die Geschichte neu zu schreiben. Dennoch sei richtig, dass viele der Attentäter des Jahres 2015 den Behörden bekannt waren. Und richtig sei auch, dass die Geheimdienstmethoden auf den Erkenntnissen der 80er-Jahre fußten und nicht mehr zeitgemäß seien. Alles müsse auf den Prüfstand. Heute sei die Bedrohung gänzlich anders. Bessere Ausstattung der nationalen Dienste, bessere und echte Zusammenarbeit der europäischen Geheimdienste forderte der französische Untersuchungsausschuss.
Aber: Bei allem Bemühen, die Sicherheit der Bevölkerung zu verbessern - für die Ermittler ist die Lage nahezu verzweifelt. Das räumte der sozialistische Berichterstatter im Untersuchungsausschuss, Sébastian Pietrasanta, nach dem Anschlag von Nizza ein. Eine Tat wie diese, entspreche einerseits den Handlungsempfehlungen des sogenannten "Islamischen Staates", der seine Sympathisanten in Propagandavideos aufgerufen hatte, mit Fahrzeugen oder notfalls mit Messern gegen Zitat, die "Ungläubigen", vorzugehen. Aber, so sagte der Sozialist Pietrasanta dem Sender France 24. Aber: Ein Anschlag wie dieser auf der Strandpromenade lasse sich mit keinem der Vorschläge, die seine Kommission vorgelegt habe, verhindern. Einzeltäter ließen sich kaum stoppen.
Das Interview mit dem Psychologen Jens Hoffmann in der Sendung Hintergrund vom 15. 7. 2016 zum islamistischen Terror können Sie in Auszügen nachlesen und vollständig als Audio hören.