Nach dem tödlichen Anschlag von Magdeburg mit fünf Toten hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) einen besseren Schutz der Bevölkerung zugesichert. Die Details der Todesfahrt von Taleb A. auf dem Weihnachtsmarkt von Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt sorgen derweil parteiübergreifend für Bestürzung, wie nach einer Sondersitzung des Innenausschusses des Bundestages deutlich wurde.
Im Zentrum weiterer Sitzungen in den kommenden Wochen soll nun die Frage stehen, warum die Behörden den Attentäter nicht stoppten, obwohl er viele Male mit Gewalt gedroht hatte. Kurz vor Heiligabend hatte die Amokfahrt des 50-Jährigen Taleb A. mit fünf Toten und mehr als 200 Verletzten auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg Deutschland erschüttert. Das Motiv des mutmaßlichen Täters, der mit einem Auto durch die Menschenmenge raste, passt nicht in übliche Muster.
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Warum ist der Innenausschuss zusammengekommen?
Mit dem Zusammenkommen des Innenausschusses kurz vor dem Jahreswechsel hat die parlamentarische Aufarbeitung des Anschlags von Magdeburg begonnen. Wenn die Tat schon nicht verhindert worden sei, müsse diese jetzt wenigstens schnell aufgearbeitet und über Konsequenzen gesprochen werden, so der stellvertretende Ausschussvorsitzende Lars Castellucci (SPD).
Wie der AfD-Abgeordnete Gottfried Curio aus der Sitzung berichtete, hatten die Behörden Dutzende Hinweise, dem als Querulanten bekannten späteren Täter näher nachzugehen. Auch andere Ausschussmitglieder bestätigten im Grundsatz, dass es rund 80 Anhaltspunkte dieser Art gegeben habe. Bundesinnenministerin Faeser wurde von Ausschussmitgliedern vorgehalten, anders als zugesagt keine lückenlose Liste über die Berührungspunkte des späteren Täters mit den Behörden vorgelegt zu haben.
Grüne und FDP verlangen, dass jemand die politische Verantwortung für das mutmaßliche Behördenversagen übernimmt. "Ich finde, dass am Ende eines solchen Geschehens politische Verantwortung übernommen werden muss", sagte Konstantin von Notz (Grüne). FDP-Ausschussmitglied Konstantin Kuhle schloss sich dem an.
Welche Maßnahmen diskutiert die Politik?
Die Kommunikation zwischen den Landesbehörden ist als eine Schwachstelle erkannt worden. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sagte der "Welt am Sonntag", der Daten- und Informationsaustausch zwischen den Behörden müsse verbessert werden. Die Co-Vorsitzende der Grünen, Franziska Brantner, fordert eine Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen Verfassungsschutz und Polizei. Es habe wohl kein Erkenntnisproblem vorgelegen - vielmehr seien die Erkenntnisse nicht zusammengeführt worden.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verweist auf Gefährder-Dateien, die es für bestimmte Phänome im Bereich des Extremismus gebe, nicht aber für psychisch Kranke, die eine Gefahr darstellten. Es reiche nicht aus, Register für Rechtsextremisten und Islamisten anzulegen, in Zukunft müsse das auch für psychisch Kranke geschehen, fordert er. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese warnt hingegen vor voreiligen Schlüssen: Erst müsse aufgeklärt werden, welche Fehler gemacht wurden.
Schon im Oktober hatte der Bundestag das von SPD, Grünen und FDP nach dem islamistischen Messeranschlag von Solingen beschlossene "Sicherheitspaket" angenommen. Ein Teil wurde jedoch vom Bundesrat gestoppt. Dabei ging es um Pläne für den Abgleich von Fotos und anderen biometrischen Daten im Internet durch die Sicherheitsbehörden.
Stimmen aus der Union fordern nun eine Einigung auf diese Teile des Sicherheitspakets sowie eine Anrufung des Vermittlungsausschusses. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich dafür ausgesprochen, noch ausstehende Gesetzentwürfe zur inneren Sicherheit umgehend zu beschließen – beispielsweise das neue Bundespolizeigesetz, das die Bundespolizei stärken soll.
Was ist über Taleb A. bekannt?
Taleb A. sitzt in Untersuchungshaft. Ihm werden fünffacher Mord, mehrfacher versuchter Mord und mehrfache gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. A. soll Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sein. Der 50-Jährige stammt aus Saudi-Arabien und hat einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Er lebt seit 2006 in Deutschland, zuletzt in Bernburg im Salzlandkreis, und arbeitete dort als Arzt. In Saudi-Arabien studierte er Psychologie, bevor er nach Deutschland ging. Vom Islam hat er sich losgesagt. Hinweise auf eine psychische Erkrankung verdichten sich.
Welche Hinweise gab es vor dem Anschlag von Magdeburg auf Taleb A.?
Interviews und Onlineaktivitäten von A. zeigen das Bild eines Mannes, der sich als vehementer Islam-Kritiker gibt, die deutschen Polizeibehörden zunehmend verachtete, mit der AfD sympathisierte und Elon Musk bewunderte. Auch fiel er in den sozialen Medien durch verschwörungstheoretische Äußerungen auf.
A. war offenbar bei verschiedenen Behörden bekannt, unter anderem hatte ein Rechtsanwalt Strafanzeige gestellt, weil er sich bedroht fühlte. Die saudi-arabische Botschaft warnte deutsche Behörden vor A.
Die Polizei führte außerdem im September 2023 und Oktober 2024 sogenannte Gefährderansprachen durch, sagte Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang. Zu den Gründen dafür machte sie keine weiteren Angaben.
Wegen eines Posts von A. auf der Plattform X Anfang Dezember 2023 nahm die Polizei Ermittlungen auf. Das Verfahren wurde aber später eingestellt. Laut Staatsanwaltschaft befand sich A. "nicht im Fokus" der Ermittler als möglicher Gewalttäter.
Warum wurde den Hinweisen auf Taleb A. nicht nachgegangen?
Konstantin Kuhle, Vizevorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, spricht von einem Fall mit einer ungewöhnlichen Motivlage, die nicht in bekannte Muster passe. Deswegen sei A. vermutlich durch das Raster gefallen, obwohl er auffällig geworden sei.
Die Raster passten auf Menschen, die bestimmte islamistische, rechts- oder linksextreme Motive hätten. Doch gebe es keine Vorgaben, wie mit Menschen umzugehen sei, die sich über Jahre gegenüber Behörden „wirr und abseitig“ äußerten oder mit Gewaltandrohungen in die Öffentlichkeit auffielen. Auch bei Personen, bei denen sich möglicherweise Verfolgungswahn mit anderen psychischen Erkrankungen oder Problemen mischten, wüssten die Behörden in Deutschland oftmals nicht weiter.
In Großbritannien gebe es seit einigen Jahren eine zusätzliche Kategorie für die Sicherheitsbehörden, sagt dazu der Politikwissenschaftler und Terrorexperte Peter Neumann: Hier würden mögliche Täter mit einer „gemischten, instabilen und unklaren Ideologie“ erfasst. Dies sei eine Reaktion darauf, dass es immer mehr Fälle von Einzeltätern gebe, die sich ihre eigenen Ideologien mit Anleihen aus verschiedenen Quellen zusammenbauten, deren Absichten aber vor allem von der persönlichen Vulnerabilität und psychischen Anfälligkeiten getrieben seien.
Nach Angaben von Kuhle gibt es außerdem zu viele unterschiedliche Zuständigkeiten für das Thema Innere Sicherheit in Deutschland. Befugnisse der verschiedenen, mit dem Thema befassten Behörden seien unübersichtlich und oft unklar. Die Strukturen der Sicherheitsbehörden müssten verbessert, deren Aufgaben eventuell neu geordnet werden.
Warum konnte sich das Tatmuster vom Breitscheidplatz wiederholen?
Der Attentäter konnte mit einem gemieteten Pkw ohne Hindernis das Gelände des beliebten Weihnachtsmarkts erreichen. Die deutschlandweit üblich gewordenen Poller als Schutz vor Amokfahrten fehlten an der von ihm gewählten Zufahrt. Die Stadt Magdeburg begründete dies damit, dass der Weg als Rettungsgasse für Krankenwagen und Feuerwehren bei Notfällen vorgesehen war.
Der Anschlag konnte also nach dem gleichen Muster wie die Amokfahrt am Breitscheidplatz im Jahr 2016 durchgeführt werden. Ein offensichtlicher Fehler, kritisiert der Politikwissenschaftler Peter Neumann: Zwar könne nirgendwo hundertprozentige Sicherheit garantiert werden, doch die Fehler der Vergangenheit sollten zumindest nicht wiederholt werden. Es bringe wenig, wenn zwar Poller installiert würden, dann aber eine Zufahrt offenbleibe. Hier müsse ein Polizeiauto stehen - und zwar ständig.
Warnungen aus der Öffentlichkeit müssten überdies sorgfältiger bearbeitet werden, fordert Neumann – sie müssten an die richtigen Stellen weitergeleitet, systematisch verknüpft und nachverfolgt werden.
cs, jad