Amokfahrt auf Weihnachtsmarkt
Hätte der Anschlag von Magdeburg verhindert werden können?

Nach dem Anschlag von Magdeburg wird in Deutschland über die Arbeit der Sicherheitsbehörden diskutiert. Hätte die Amokfahrt verhindert werden können? Warum wurde Hinweisen nicht nachgegangen?

    Absperrungen (mobile Terrorsperren) gegen Anschläge mit Fahrzeugen am Kölner Weihnachtsmarkt
    Nach der Amokfahrt in Magdeburg herrscht deutschlandweit eine angespannte Sicherheitslage auf Weihnachtsmärkten - wie auch hier in Köln. (picture alliance / Panama Pictures / Christoph Hardt)
    Kurz vor Heiligabend hat eine Amokfahrt mit fünf Toten und über 200 Verletzten auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg Deutschland erschüttert. Das Motiv des mutmaßlichen Täters, der mit einem Auto in die Menschen raste, passt nicht in übliche Muster.

    Inhalt

    Was ist über Taleb A. bekannt?

    Taleb A. soll Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sein. Der 50-Jährige stammt aus Saudi-Arabien und hat einen unbefristeten Aufenthaltstitel. Er lebt seit 2006 in Deutschland, zuletzt in Bernburg im Salzlandkreis, und arbeitete als Arzt. In Saudi-Arabien studierte er Psychologie, bevor er nach Deutschland ging. Vom Islam hat er sich losgesagt. Hinweise auf eine psychische Erkrankung des Täters Taleb A. verdichten sich.
    Er sitzt in Untersuchungshaft. Ihm werden fünffacher Mord, mehrfacher versuchter Mord und mehrfache gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg hat das Verfahren übernommen.

    Welche Hinweise gab es vor dem Anschlag von Magdeburg auf Taleb A.?

    Interviews und Onlineaktivitäten zeigen von A. das Bild eines Mannes, der sich als vehementer Islam-Kritiker gibt, die deutschen Polizeibehörden zunehmend verachtete, mit der AfD sympathisierte und Elon Musk bewunderte. Auch fiel er in den sozialen Medien durch verschwörungstheoretische Äußerungen auf.
    A. war offenbar bei verschiedenen Behörden bekannt, unter anderem hatte ein Rechtsanwalt Strafanzeige gestellt, weil er sich bedroht sah. Auch gab es beispielsweise eine Warnung der saudi-arabischen Botschaft an deutsche Behörden.
    Die Polizei führte außerdem im September 2023 und Oktober 2024 sogenannte Gefährderansprachen durch, sagte Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang. Zu den Gründen der Gefährderansprachen machte Zieschang keine weiteren Angaben.
    Außerdem nahm die Polizei wegen eines Posts des Mannes auf der Plattform X am 1. Dezember 2023 Ermittlungen auf. Das Verfahren wurde aber später eingestellt. Laut Staatsanwaltschaft befand sich A. "nicht im Fokus" der Ermittler als möglicher Gewalttäter.

    Warum wurde den Hinweisen auf Taleb A. nicht nachgegangen?

    Konstantin Kuhle, Vizevorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion, spricht von einem Fall mit einer ungewöhnlichen Motivlage, die nicht in bekannte Muster passe. Deswegen sei A. vermutlich durch das Raster gefallen, obwohl er auffällig geworden ist.
    Die Raster passten auf Menschen, die bestimmte islamistische, rechtsextreme oder linksextreme Motive benutzen. Doch gebe es keine Vorgaben, wie mit Menschen umzugehen sei, die sich über Jahre gegenüber Behörden „wirre und abseitig“ äußerten oder mit Gewaltandrohungen in die Öffentlichkeit treten. Auch bei Personen, bei denen sich möglicherweise Verfolgungswahn mit psychischen Erkrankungen oder Problemen mischten, wüssten die Behörden in Deutschland oftmals nicht weiter.
    In Großbritannien gebe es seit einigen Jahren eine zusätzliche Kategorie für die Sicherheitsbehörden, sagt dazu der Politikwissenschaftler und Terrorexperte Peter Neumann: die Kategorie der „gemischt, instabil und unklare Ideologie“. Dies sein eine Reaktion darauf, dass es immer mehr Fälle von Einzeltätern gebe, die sich ihre eigenen Ideologien mit Anleihen aus verschiedenen Quellen zusammenbauen, deren Absichten aber vor allem von der persönlichen Vulnerabilität und psychischen Anfälligkeiten getrieben sei.
    Dazu komme ein weiteres, organisatorisches Problem, so Kuhle: Es gebe zu viele unterschiedliche Zuständigkeiten für das Thema Innere Sicherheit in Deutschland. Befugnisse seien unübersichtlich und oft unklar. Hier gelte es, die Strukturen der Sicherheitsbehörden zu verbessern und eventuell deren Aufgaben neu zu ordnen.

    Warum konnte sich das Tatmuster vom Breitscheidplatz wiederholen?

    Der Attentäter konnte mit seinem gemieteten Pkw ohne Hindernis das Gelände des beliebten Weihnachtsmarkts erreichen. Die deutschlandweit üblich gewordenen Poller als Schutz vor Amokfahrten fehlten an der von ihm gewählten Zufahrt. Die Stadt Magdeburg begründete dies damit, dass der Weg als Rettungsgasse für Krankenwagen und Feuerwehren bei Notfällen vorgesehen war.
    Der Anschlag konnte also nach dem gleichen Muster wie die Amokfahrt am Breitscheidplatz im Jahr 2016 durchgeführt werden. Ein offensichtlicher Fehler, kritisiert der Politikwissenschaftler Peter Neumann: Zwar könne nirgendwo hundertprozentige Sicherheit garantiert werden, doch die Fehler der Vergangenheit sollten zumindest nicht wiederholt werden. Es bringe wenig, wenn zwar Poller installiert würden, dann aber eine Zufahrt offenbleibe. Hier müsse ein Polizeiauto stehen - und zwar ständig.
    Warnungen aus der Öffentlichkeit müssten überdies sorgfältiger bearbeitet werden, fordert Neumann – sie müssten an die richtigen Stellen weitergeleitet, systematisch verknüpft und nachverfolgt werden. So sollte beispielsweise überlegt werden, eine Stelle zu schaffen, an der solche Warnhinweise aus der Bevölkerung zusammenliefen.

    Welche Maßnahmen diskutiert die Politik jetzt?

    Schon im Oktober hatte der Bundestag das von SPD, Grünen und FDP nach dem islamistischen Messeranschlag von Solingen beschlossene "Sicherheitspaket" im Oktober angenommen. Ein Teil wurde jedoch vom Bundesrat gestoppt. Dabei ging es um Pläne für den Abgleich von Fotos und anderen biometrischen Daten im Internet durch die Sicherheitsbehörden.
    Stimmen aus der Union wie Andrea Lindholz (CSU) fordern nun eine Einigung auf diese Teile des Sicherheitspakets sowie eine Anrufung des Vermittlungsausschusses. Dabei werden vor allem folgende Punkte genannt: die Mindestspeicherfrist für IP-Adressen, die die Union seit vielen Jahren fordert. Dazu Befugnisse zur automatisierten Gesichtserkennung und zum Internetabgleich von Polizeidaten.
    Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich dafür ausgesprochen, noch ausstehende Gesetzentwürfe zur inneren Sicherheit nun umgehend zu beschließen – beispielsweise das neue Bundespolizeigesetz, das die Bundespolizei stärken soll.
    Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Dirk Wiese, sagte, er sei sehr offen für eine weitreichende Speicherung von IP-Adressen. Eine Vorratsdatenspeicherung sei schwierig. Mehrfach sei eine Einführung am Bundesverfassungsgericht gescheitert.
    Politiker der Grünen - wie etwa Konstantin von Notz - wiesen die Forderungen nach Einführung einer Vorratsdatenspeicherung zurück. Es gebe kein Erkenntnisproblem der Behörden zum mutmaßlichen Täter, sondern eher ein Umsetzungsproblem, sagte Grünen-Parteichefin Franziska Brantner. Es müsse auf einen besseren Informationsaustausch bei Nachrichtendiensten hingearbeitet werden.
    Diese Themen und Vorschläge sollen im Innenausschuss des Bundestags diskutiert werden. Der soll noch vor dem Jahreswechsel, am 30. Dezember, zu einer Sondersitzung zusammenkommen.

    cs