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Anschlagsgefahr in Berlin
"Die Lage wird nicht ernst genommen"

Die Gefahr von Anschlägen etwa mit LKW sei schon seit Jahren bekannt, sagte der Berliner FDP-Politiker Marcel Luthe im DLF. Dies sei aber offenbar nicht hinreichend ernst genommen worden. Hier wäre es notwendig gewesen, präventiv zu arbeiten. Auch die Polizei sei nicht dort aufgestockt worden, wo es notwendig wäre.

Marcel Luthe im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Ein gepanzertes Polizeifahrzeug steht vor dem Brandenburger Tor nahe dem Hotel Adlon in Berlin, in dem US-Präsident Barack Obama mit Bundeskanzlerin Angela Merkel am 17.11.2016 zusammentrifft. Obama befindet sich auf seiner Abschiedsreise durch Europa.
    Ein gepanzertes Polizeifahrzeug steht am Brandenburger Tor nahe dem Hotel Adlon. (AFP / John MACDOUGALL)
    Dirk-Oliver Heckmann: Vor anderthalb Stunden hat sich der Innenausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses konstituiert, aus aktuellem Anlass übrigens früher als geplant, denn es gibt natürlich großen Informationsbedarf. Innensenator Geisel und Polizeipräsident Kandt, die stellten sich den Fragen der Abgeordneten zur Sicherheitslage in Berlin und auch möglichen Pannen. Telefonisch zugeschaltet ist jetzt Marcel Luthe von der FDP. Er ist innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion im Abgeordnetenhaus und er hat für uns extra die Sitzung verlassen. Schönen guten Tag, Herr Luthe, und danke dafür schon mal.
    Marcel Luthe: Guten Tag, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Luthe, die Nachricht vom Tod des mutmaßlichen Berlin-Attentäters, wie bewerten Sie diese Nachricht?
    Luthe: Zunächst muss festgestellt werden, ob Herr Amri tatsächlich der Täter war, und zum anderen, ob - so jedenfalls unser Stand - der Erschossene auch Herr Amri ist. Insofern kann man daraus im Moment noch keine weiteren Schlüsse ziehen.
    Heckmann: Gibt es aus Ihrer Sicht noch Zweifel daran, dass Herr Amri der Täter, der Berlin-Attentäter gewesen ist?
    "Grundsätzlich leisten die Beamten hervorragende Arbeit"
    Luthe: Das muss letztlich die Ermittlung der Bundesanwaltschaft ergeben und entsprechend bestätigt werden. Vorher verbieten sich da Schlüsse.
    Heckmann: Der Bundesinnenminister geht allerdings davon aus, dass das der Fall ist. Das hat er gestern klar gemacht. Aber, Herr Luthe, um mal auf die Situation in Berlin zu kommen. Nach dem, was bisher alles bekannt ist, und nach dem, was der Innensenator und auch der Polizeipräsident jetzt vor dem Ausschuss heute womöglich bereits gesagt haben, haben Sie den Eindruck, dass die Sicherheitsbehörden in Berlin die Sicherheitslage grundsätzlich im Griff haben?
    Luthe: Grundsätzlich ist es so, dass die Beamten hervorragende Arbeit leisten. Das hat man auch an den Reaktionen gesehen. Gleichzeitig hat aber auch die Reaktion des Innensenators im Ausschuss gezeigt, dass er offensichtlich ein falsches Verständnis davon hat, was in solchen Lagen notwendig ist.
    Heckmann: Inwiefern?
    "Es wäre notwendig gewesen, frühzeitig präventiv zu arbeiten"
    Luthe: Die SPD sprach jetzt vielfach davon, man müsse ja besonnen reagieren, und genau das erscheint aus unserer Sicht das große Problem zu sein.
    Heckmann: Wieso?
    Luthe: Wir wissen seit mehreren Jahren, dass Islamisten zu Terroranschlägen mit Alltagsgegenständen aufrufen und dazu sogar Anleitungsvideos veröffentlichen. Das heißt, die Möglichkeit, dass ein Attentat mit einem PKW oder LKW durchgeführt wird, gerade bei einer solch großen Veranstaltung, war über Jahre bekannt. Statt jetzt darauf besonnen zu reagieren, wie man sich das vorstellt, und mal über einige Monate zu prüfen, wie man denn weiter zum Beispiel auch Boulevards sichern kann, wäre es notwendig gewesen, da frühzeitig entsprechend präventiv zu arbeiten. Wir haben Gebäude, beispielsweise wie auch das Abgeordnetenhaus oder der Reichstag, die mit Metallpfählen entsprechend gesichert sind. Die fallen nicht weiter auf, die kann man einrichten, die kosten nichts in der Wartung, aber sie sorgen dafür so wie in vielen anderen Ländern, die solche Gefahren kennen und darauf reagieren, dass solche Taten zumindest deutlich erschwert werden.
    Heckmann: Sie würden da von einem Versagen des Senats beziehungsweise auch der Vorgängersenate, also der Großen Koalition sprechen?
    "Man hat die Gefahr eines Terroranschlags nicht hinreichend ernst genommen"
    Luthe: Ich fürchte, dass man die Gefahr eines Terroranschlags in Berlin nicht hinreichend ernst genommen hat. Das setzt sich jetzt auch wieder fort dahingehend, dass ich mich erkundigt habe, da ja auch israelische Staatsbürger unter den Opfern waren und gezielt bei den meisten anderen Anschlägen auch jüdische Einrichtungen angegriffen wurden, inwieweit denn dort der Innensenator von einer hohen abstrakten Gefährdungslage durch Islamisten in Berlin gesprochen hat, inwieweit dann jüdische Einrichtungen besonders geschützt werden. Tatsächlich ist das bisher nicht der Fall. Auch da wird offensichtlich die Lage, von der er selbst spricht, nicht ernst genommen.
    Heckmann: Herr Luthe, kommen wir zu einem anderen Aspekt, den wir gerade auch schon mal angesprochen hatten, und zwar sind diese Duldungspapiere von Anis Amri ja erst Stunden nach dem Anschlag im Führerhaus des LKW entdeckt worden. Ist das für Sie ein gravierender Vorgang?
    Luthe: Ich habe mich auch danach erkundigt, nachdem der erste Tatverdächtige festgenommen wurde und unmittelbar ja wohl die Tat bestritten hat, ob es denn erwartungsgemäß üblich sei, dass ein Terrorist seine Tat bestreitet, statt sich damit zu brüsten, und ob man das denn nicht zum Anlass genommen hat, die Ermittlungen und die Tätersuche zunächst mal weiterzuführen. Auch darauf haben der Polizeipräsident und der Innensenator keine klare Antwort geben können.
    Heckmann: Das heißt, diese Ermittlungen in andere Richtungen, die sind nicht fortgesetzt worden?
    "Wir haben mehrere Moscheen, die von Gefährdern häufig frequentiert werden"
    Luthe: Es ist mir jedenfalls nicht positiv bestätigt worden, dass die unmittelbare Tätersuche weiterging.
    Heckmann: Anis Amri ist ja vor der Kami-Moschee in Berlin-Moabit fotografiert worden, und zwar mehrere Tage vor dem Anschlag und auch mehrere Stunden nach dem Anschlag, also am Morgen des Dienstag. Und das ist eine Moschee, die von Insidern "Moschee der ISIS-Leute" genannt wird. Ist auch das ein Versäumnis, dass diese Moschee nicht längst geschlossen wurde?
    Luthe: Auch das ist ein in Berlin bekanntes Problem. Wir haben ja mehrere Moscheen, die von Gefährdern häufig frequentiert werden. Auch da ist die Frage danach bisher unbeantwortet geblieben, ob denn die Behörden auch tatsächlich dahingehend ermitteln, ob Herr Amri möglicherweise durch Leute aus dieser Moschee oder ihrem Umfeld zu der Tat angestiftet worden ist. Bekanntermaßen ist der Anstifter wie der Täter zu bestrafen. Ich gehe auch nicht davon aus, dass die Intensität der Ermittlungen, wenn es tatsächlich Herr Amri gewesen sein und er getötet worden sein sollte, dass die Intensität der Ermittlungen an irgendeiner Stelle jetzt nachlässt. Es ist ganz wichtig, an die Hintermänner, die Anstifter und die Drahtzieher zu kommen.
    Heckmann: Gehen wir zu lasch mit solchen Moscheen, wo radikale Tendenzen sich breit machen, um?
    "Die Staatsanwaltschaften werden nicht angehalten, jede Tat auch zu verfolgen"
    Luthe: Radikale Tendenzen, da sind sie natürlich bei einer gewissen Gesinnungs-Bedingbarkeit. Aber da, wo ganz offensichtlich zu Straftaten aufgerufen wird, da, wo dazu aufgerufen wird, bestimmte Gruppen von Menschen anzugreifen oder zu töten, da müssen Sie natürlich unmittelbar unterbinden, denn letztlich sind das nichts anderes als öffentliche Anstiftungen zu Straftaten.
    Heckmann: Kommen wir noch mal zu einem anderen Aspekt, wenn Sie erlauben, Herr Luthe, und zwar ist Anis Amri ja aus der Abschiebehaft entlassen worden. Er hatte eine Duldung, die sich aber auf Nordrhein-Westfalen bezogen hat. Den Behörden war aber bekannt, dass er sich in Berlin aufhält. Deswegen wurde er ja auch zeitweise beobachtet. Wie kann das eigentlich sein, dass niemand reagiert, wenn man feststellt, dass ein Gefährder sich frei bewegt in Deutschland?
    Luthe: Weil ganz offensichtlich - so haben es mir auch verschiedene Beamte bestätigt - es wenig Verfolgungsinteresse bei all diesen zunächst einmal ja noch kleineren Straftaten gibt, die Herr Amri im Vorfeld begangen hatte. Dadurch, dass ganz offensichtlich die Staatsanwaltschaften durch ihre jeweilige Großleitung, durch die zuständigen Innensenatoren beziehungsweise Innenminister nicht angehalten werden, jede einzelne Tat auch zu verfolgen und entsprechend ernst zu nehmen, kann sich dann eine Lage immer weiter hochschaukeln.
    Heckmann: Man wusste ja offenbar, dass er sich Waffen organisieren wollte und dass er nach Mitstreitern gesucht hat für den Dschihad.
    "Polizei ist nicht an den Stellen aufgestockt worden, an denen wir es brauchen"
    Luthe: Genau und deswegen hätte man entsprechend unverzüglich reagieren müssen. Das passiert aber offensichtlich nicht ausreichend.
    Heckmann: Und die Polizei, die hat gerade mal acht Beobachtungseinheiten, um diese 150 Gefährder in Berlin zu beobachten. Da kann man zweieinhalb Gefährder normalerweise rund um die Uhr mit beobachten. Muss man an dieser Stelle von Staatsversagen sprechen?
    Luthe: Zumindest muss man von Organisationsversagen sprechen an ganz vielen Stellen. Die Berliner Polizei beispielsweise hat ihre Kräfte in den letzten Jahren tatsächlich ja auch durchaus aufgestockt. Die sind aber genau nicht an den Stellen aufgestockt worden, an denen wir es brauchen, sondern letztlich machen vor allem die Berliner Polizisten extrem viel Bürokratie und Schreibarbeiten, statt sich tatsächlich mit der Observation von Verdächtigen und Ermittlungsarbeit beschäftigen zu können, und da müssen wir ganz, ganz dringend ran.
    Heckmann: Marcel Luthe war das, innenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Herr Luthe, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch und dass Sie die Sitzung verlassen haben für uns.
    Luthe: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.