Vor 85 Jahren übernahm Hitler-Deutschland die Macht in Österreich. Die „Vereinigung“ mit dem Deutschen Reich, meist „Anschluss“ genannt, sorgt bis heute für geschichtspolitische Debatten über die Rolle Österreichs in der Nazi-Zeit. Ein Überblick der wichtigsten Ereignisse und der Diskussionen von 1945 bis heute.
Wie lief der „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland 1938 ab?
Autoritärer Ständestaat
Auch in Österreich gab es in den 1930-Jahren eine Nazi-Partei. Lange war sie aber verboten. Sie wurde jedoch von Berlin aus gefördert, wo der in Österreich, in Braunau am Inn, geborene Adolf Hitler seit 1933 an der Macht war. In Wien regierte von 1932 bis 1934 zunächst der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, ab 1933 de facto als Diktator. Alle Parteien wurden verboten, bis auf die neue Vaterländische Front, eine rechtskonservative Einheitspartei. Der Wiener Historiker Wolfgang Maderthaner: „Wir haben bei Dollfuß eine ganz, ganz klare Ideologie eines katholischen Österreich, eines katholischen deutschen Staates; des sozusagen besseren deutschen Staates – es ist eine Ideologie, die wenig im Realen Korrespondenz findet, aber es ist etwas, was man gegen das ‚preußische Heidentum‘, sozusagen, eines Hitler und ähnlicher Bewegungen stellt.“
Im Jahr 1934 versuchte die österreichische NSDAP zu putschen. Zwar scheiterte der Staatsstreich – aber: Bundeskanzler Dollfuß wurde dabei ermordet. Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg stellte sich den Nationalsozialisten weniger entschlossen entgegen. Er setzte eher auf eine Hinhaltetaktik.
Hitler, Mussolini und die „Achse“
Lange aber mussten sich die Nationalsozialisten mit ihren Österreich-Ambitionen zurückhalten. Denn Italiens Diktator Benito Mussolini fürchtete einen deutsch-österreichischen Machtblock nördlich des Brenners. Erst als Mussolini wegen seines Kriegs in Ostafrika Verbündete brauchte, arrangierte sich der „Duce“ mit Hitler: die „Achse“ Berlin-Rom war geboren.
Nazi-Deutschland erhöhte immer stärker sein Einfluss in Österreich. Erst im Februar 1938 begriff Schuschnigg, wie gefährlich die Lage war. Zum Widerstand gegen die Deutschen im Bündnis mit der österreichischen Arbeiterbewegung kam es nicht mehr. Hitler setzte Schuschnigg weiter unter Druck, bis dieser eine für Anfang März 1938 angekündigte Volksabstimmung absagte. Deutschland hatte ein militärisches Drohszenario aufgebaut.
Der „Anschluss“
Am 11. März 1938, kurz vor 20 Uhr, gab Bundeskanzler Schuschnigg auf. Aus dem Büro, in dem sein Vorgänger ermordet worden war, wandte er sich mit gebrochener Stimme über das Radio an die Bevölkerung: „Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volke mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen!“ Auf Druck aus Deutschland ernannte daraufhin Bundespräsident Wilhelm Miklas den österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum neuen Bundeskanzler. Am 12. März marschierten Soldaten der Wehrmacht und deutsche Polizei mit rund 65.000 Mann in Österreich ein.
Einen Tag später vereinbarten Hitler und Seyß-Inquart das "Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich". Hitler kam dafür nach Linz. Sein zweitägiger Aufenthalt machte ganz Österreich zum Mittelpunkt der Weltpolitik. In Linz hatte Hitler seine Jugend verbracht. Jetzt fiel hier die Entscheidung zum vollständigen "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich. Umgehend kam es zu Schikanen gegen die jüdische Bevölkerung. Wie zum Hohn initiierte Hitler zudem nun seinerseits in Österreich eine Volksabstimmung über den sogenannten "Anschluss". Am 10. April 1938 votierten angeblich 99 Prozent dafür.
Die Nazi-Propaganda verkaufte den „Anschluss“ als Wahrwerden des angeblichen alten Traums von Großdeutschland. Das allerdings bog die Geschichte zurecht. Denn als deutsche Patrioten einst von der „großdeutschen Lösung“ geträumt hatten - vor allem während der Revolution 1848 –, da war das Kaisertum Österreich eine Großmacht gewesen. Es reichte vom Arlberg bis in die heutige Ukraine. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Habsburger-Monarchie aber war Österreich auf ein Sechstel geschrumpft. Und die Siegermächte untersagten nach dem Kriegsende 1918 eine Vereinigung mit dem Deutschen Reich. Ab dem „Anschluss“ 1938 aber gehörte Österreich zu Deutschland – bis zur Kapitulation 1945.
Wie ging Österreich nach dem Krieg mit der Nazi-Vergangenheit um?
Als die Barbarei vorüber war, standen die wieder zugelassenen demokratischen Parteien hunderttausenden Altnazis gegenüber. Potentiellen Wählern, die man nicht vergraulen wollte. Der Historiker Wolfgang Maderthaner: „Das heißt aber auch, dass eine Aufarbeitung sehr, sehr lange hinausgezögert wurde. Noch dazu, da die alliierten Mächte Österreich zum ersten Opfer der Hitler-Aggression erklärt haben und diese Vorgabe natürlich von der Nachkriegspolitik, man würde fast sagen, mit Begeisterung aufgenommen wurde. Und man hat sich sehr, sehr lange sehr gut in dieser Opferrolle gefallen: Man versucht, das Geschehene so schnell wie möglich zu verdrängen – und Verdrängung ist ja, wie wir seit Sigmund Freud wissen, eine nicht unwesentliche österreichische Charaktereigenschaft.“
Der Fall Waldheim
1986 aber erlebte das Land einen erbitterten Streit über die Frage, wieviel der neue Bundespräsident Kurt Waldheim einst als Offizier der Wehrmacht von Kriegsverbrechen in seiner Truppe gewusst habe. Es war ein Streit mit Folgen.
Der Historiker Hannes Leidinger: „Im Grunde beginnt die intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erst rund um die Waldheim-Affäre – die Frage: Was hat der Präsidentschaftskandidat und spätere Präsident im Weltkrieg gemacht? Was haben überhaupt viele Österreicher gemacht, gar nicht unbedingt nur die bei der Partei, sondern auch in der Wehrmacht? Und schließlich: Wie gedenken wir jetzt noch? Da haben die kritischen Stimmen dann gleich fortsetzen können; so hat sich zivilgesellschaftlich, aber auch in den unterschiedlichen Parteien dann die Bereitschaft gezeigt, hier die braunen Flecken allmählich anzugehen.“
Verstärkte Forschung und Gedenkkultur
Aus Österreich kamen schließlich auch Täter des Völkermordes: wie der in Österreich aufgewachsene Adolf Eichmann oder Ernst Kaltenbrunner sowie die SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik und Walter Schimana. Dazu gibt es eine intensive Forschung sowie Gedenk- und Erinnerungskultur. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist nach Ansicht von Historikern in Österreich seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre intensiver geworden.
Altkanzler Bruno Kreisky (SPÖ) hatte schon 1986 gemahnt, wachsam zu bleiben: 1938 wäre nicht denkbar gewesen ohne die Schwäche der österreichischen Demokratie.
Welche Debatten gibt es heute in Österreich zum „Anschluss“ 1938?
Einen offiziellen Gedenktag gibt es rund um die Ereignisse im März 1938 nicht. Abgesehen von runden Jahrestagen bekommt der "Anschluss" weniger Aufmerksamkeit als etwa der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust am 27. Januar.
Aber einige Gedenkveranstaltungen, Kranzniederlegungen, Diskussionsrunden rund um den Jahrestag gibt es. Allerdings war das lange keine Selbstverständlichkeit. Viele Jahrzehnte lang betrachteten sich Österreicherinnen und Österreicher nahezu ausschließlich als Opfer von Nazi-Deutschland. Dass etwa beim "Anschluss" im März 1938 Zehntausende Menschen in Linz und Wien Adolf Hitler zugejubelt hatten, wurde lieber unterschlagen.
Bis weit in die 1980er-Jahre hinein galt das Österreichische Opfernarrativ als gesellschaftlicher Konsens. Die seitdem laufende, kritischere Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und Schuld während der NS-Zeit wurde maßgeblich von außen beeinflusst, unter anderem durch Druck aus den USA und der dortigen geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung der Shoah. Seitdem wurde zum Beispiel auch der Geschichtsunterricht an österreichischen Schulen überarbeitet.
Die Regierungsparteien Grüne und ÖVP stehen mit ein für die differenzierte Aufarbeitung, wie sie seit einigen Jahren Usus ist. An Zeremonien etwa im Österreichischen Parlament, dem Nationalrat, nahmen bisher alle Parteien teil. Auch die in Teilen rechtsextreme FPÖ.
Diese ignoriert den Tag ansonsten weitgehend. Denn die Diskussion um den "Anschluss" bringt die Partei in eine Bredouille. Einerseits betont sie ihren Österreich-Patriotismus, die österreichische Identität. Sie bekennt sich auch zur Republik Österreich. Sie schreibt aber in ihrem Parteiprogramm auch, die Mehrheit der Österreicher gehörten zur "deutschen Volksgemeinschaft". Die Burschenschaften, die einen Teil der FPÖ ausmachen, gelten als deutschnational.
Allerdings verbietet der österreichische Staatsvertrag einen erneuten "Anschluss" an Deutschland. Österreich sichert darin zu, "das Wiederaufleben und die Tätigkeit jeglicher Organisationen, welche die politische oder wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland zum Ziel haben, sowie großdeutsche Propaganda zugunsten der Vereinigung mit Deutschland" zu verhindern.
Rechtsextremismus-Experten sehen in dem Dilemma den Grund dafür, dass die FPÖ zum "Anschluss"-Gedenken öffentlich keine Haltung bezieht.
Die Zivilgesellschaft ist gefragt
Die Diskussion um das "richtige" Gedenken ist in Österreich, so scheint es, noch lange nicht beendet. Vereine und zivilgesellschaftliche Organisationen spielen dabei eine wichtige Rolle. Sie sind maßgebliche Initiatoren etwa von Gedenkveranstaltungen, nicht nur zum "Anschluss".
Dabei gibt es auch immer wieder Anknüpfungspunkte zur Tagespolitik. So gehen jährlich Tausende Menschen gegen den "Akademikerball" rechter Burschenschaften auf die Straßen. Dieser findet in der Wiener Hofburg statt, direkt am Heldenplatz – wo am 15. März 1938 Hitler auf dem Balkon der Neuen Hofburg den "Anschluss" verkündete.
Lange Jahre hatten Angehörige der deutschnationalen Burschenschaften und einzelne FPÖ-Politiker am Heldenplatz am Tag der Befreiung am 8. Mai auch ein "Totengedenken" abgehalten. Auch hier gelang es durch zivilgesellschaftliches Engagement, einen Kontrapunkt zu setzen. Seit rund zehn Jahren wird am 8. Mai auf dem Heldenplatz inzwischen das "Fest der Freude" gefeiert.
Dennoch ist die in Teilen rechtsextreme FPÖ ein fester Bestandteil der österreichischen Politik. Aktuell führt sie die landesweiten Umfragen in Österreich an, mit rund 29 Prozent Zustimmung.
Quellen: Michael Kuhlmann, Silke Hahne, tei