Der österreichische Medienwissenschaftler Stefan Weber wirft der Grünen-Politikerin Annalena Baerbock vor, Passagen in ihrem Buch mit dem Titel "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" abgeschrieben und die Urheber nicht erwähnt zu haben. So soll die Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen unter anderem Teile von Publikationen der Bundeszentrale für Politische Bildung, Wikipedia, dem Nachrichtenmagazin "Spiegel" und aus dem Parteiprogramm der Grünen plagiiert haben. Das Magazin "Focus" hatte zuerst darüber berichtet. In dem Buch beschreibt Baerbock unter anderem politische Konzepte der Grünen und verbindet diese mit persönlichen Erlebnissen.
Fünf Textstellen im Verdacht
Insgesamt hat der Plagiatsjäger Stefan Weber fünf Textstellen auf 241 Seiten ausgemacht, die er als Plagiate erkannt haben will. An diesen fünf Stellen gibt es starke Ähnlichkeiten zwischen Quellen – wie etwa einem Text der Bundeszentrale für politische Bildung – und dem Buchtext. Einige Wörter sind zum Teil zwar umformuliert, die Satzstellung ist aber oft sehr ähnlich. Außerdem äußert Weber den Vorwurf, Baerbock habe zahlreiche Sätze fast wörtlich aus dem Parteiprogramm der Grünen übernommen – für die sie mit diesem Buch Wahlkampf macht.
Fußnoten mit Quellenverweisen nutzt Baerbock nicht. Allerdings handelt es sich bei ihrem Buch auch nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, es gilt also nicht das Gebot, Fußnoten setzen zu müssen. Bei den fraglichen Abschnitten handelt es sich außerdem um die Zusammenfügung öffentlich bekannter Informationen – beispielsweise die Auflistung von Ländern, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der EU beigetreten sind –, so dass wohl auch keine urheberrechtlichen Aspekte berührt werden. Der Jurist und ZDF-Journalist Felix Zimmermann kann keine Verfehlung Baerbocks erkennen. Per Twitter legt Zimmermann dar, dass "in einem populären Sachbuch nicht zitiert wird" und Baerbock deshalb auch kein Plagiat vorgeworfen werden könne.
Ein akademischer Titel wurde mit dieser Publikation nicht erlangt – wie etwa im Falle von Franziska Giffey, Karl Theodor zu Guttenberg oder Annette Schavan. Die Aberkennung eines akademischen Grades droht Baerbock also ebenfalls nicht. Was bleibt, ist aber der öffentliche Plagiatsvorwurf und damit ein Imageschaden für die Kanzlerkandidatin mitten im Bundestagswahlkampf.
Annalena Baerbock ist nicht die erste Politikerin, mit deren Publikationen sich Stefan Weber auseinandergesetzt hat. Der österreichische Kommunikationswissenschaftler hat sich mit der Überprüfung zahlreicher wissenschaftlicher Gutachten und wissenschaftlicher Arbeiten von Politikerinnen und Politikern einen Namen gemacht. Unter anderem hat er die Dissertation des ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert als Plagiat ausgemacht. Die Ruhr-Universität Bochum sah das allerdings nicht so – Lammert trägt seinen Doktortitel noch. Anders der österreichische Landrat Christian Buchmann von der ÖVP: Wegen Webers Analysen verlor er 2017 seinen Titel.
Webers Schwerpunkt sind wissenschaftliche Arbeiten. Er nimmt Prüfaufträge entgegen, sagte gegenüber der dpa aber, Baerbocks Buch habe er auf eigene Rechnung untersucht, er habe sich in das Thema Baerbock verbissen. Am 10. Mai veröffentlichte er erstmals einen Eintrag zu Baerbock in seinem Blog. Dabei ging es um "Ungereimtheiten um den Bachelor-Abschluss". Alle weiteren Beiträge handeln seitdem ausschließlich von der Grünen-Politikerin. Vor allem mit ihrem Lebenslauf hat sich Weber intensiv auseinandergesetzt. Tatsächlich hatte Annalena Bearbock zuletzt mehrfach Angaben in ihrem Lebenslauf korrigieren müssen.
Die Grünen haben die Plagiatsvorwürfe gegen ihre Kanzlerkandidatin zurückgewiesen. Bei den beschriebenen Passagen in Baerbocks Buch handele es sich um allgemein zugängliche Fakten oder bekannte Positionen der Grünen, erklärte der Wahlkampfsprecher der Partei, Andreas Kappler. Er sprach im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen Baerbock von "Rufmord".
Der von den Grünen beauftragte Medienanwalt Christian Schertz sagte, er könne nicht im Ansatz eine Urheberrechtsverletzung erkennen: "Bei den wenigen in Bezug genommenen Passagen handelt es sich um nichts anderes, als um die Wiedergabe allgemein bekannter Fakten sowie politischer Ansichten." Es handele sich offenbar erneut um den Versuch einer Kampagne zum Nachteil von Baerbock.
Der CSU-Generalsekretär Markus Blume nahm die Vorwürfe Webers hingegen zum Anlass für harte Kritik: "Vorsätzlich getäuscht, schlampig gearbeitet und bei der eigenen Leistung schon wieder hochgestapelt – das hat bei Annalena Baerbock scheinbar System und erschüttert einmal mehr ihre Glaubwürdigkeit", sagte er "Focus online".
In der ungewöhnlich massiven Kritik, der Annalena Baerbock seit Beginn ihrer Kanzlerkandidatur ausgesetzt ist, sehen Grünen-Politiker, aber auch einige Journalisten eine Art Kampagne gegen die Grünen-Vorsitzende. Philipp Menn, WDR-Korrespondent in Berlin, verwies im WDR auf ein sich wiederholendes Muster. Plagiatsjäger Weber sei in seinem Blog schon ähnlich im Zusammenhang mit Baerbocks Lebenslauf verfahren: "Er veröffentlicht Vorwürfe auf seiner Homepage, ganz zufällig kommen dann wenige Stunden später CDU-Influencer auf Social Media damit, dann der Springer Konzern - fertig ist die Kampagne."
"Kampagne" sei ein sehr dehnbarer Begriff, sagte hingegen der Journalist und Leiter des Politikressorts bei RTL, Nikolaus Blome, im Deutschlandfunk: "Ich habe manchmal das Gefühl, dass aus der Sicht des Lagers A immer das Kampagne ist, was Lager B macht und umgekehrt." Annalena Baerbock als Spitzenkandidatin der Grünen stehe neu auf "dieser Form der grell ausgeleuchteten Bühne". Daher finde man bei ihr nun erstmals Dinge – weil man auch zum ersten Mal hinschaue. Bei ihren Kontrahenten Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) sei das schon länger der Fall.
Der Kommunikationsberater und frühere Regierungssprecher
Bela Anda sagte im Deutschlandfunk
, er sehe keine Kampagne der "Bild"-Zeitung gegen Annalena Baerbock. Es sei ein ganz normaler Mechanismus, "dass wenn man so in der Kritik steht, dass man dann einen Gegner ausmacht – im Falle der Grünen war das eben die Bild." Das mache man auch, um sich auch selber zu stabilisieren. Anda glaubt auch nicht, dass die Grünen ihre Spitzenkandidatin nach den Plagiatsvorwürfen und Diskussionen um Lebenslauf und Nebeneinkünfte noch austauschen. Das käme einem Totalschaden gleich, sagte er im Dlf weiter. Gleichzeitig sei es sinnvoll, Robert Habeck wieder stärker in den Wahlkampf einzubeziehen. Und Baerbock dürfe sich nun keine handwerklichen Fehler mehr erlauben: "Die rächen sich!"
Unterdessen forderte Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, auf Twitter einen fairen Wahlkampf ein: "Hört auf mit diesem Schmutz. Demokratischer Wettbewerb hat auch mit Anstand zu tun", appellierte sie an ihre politischen Konkurrenten.
Quelle: Ann-Kathrin Büüsker, Dlf