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Anselm Kiefers Skulptur in New York
Zwischen Größenwahn und Gaukelei

Anselm Kiefer präsentiert sein erstes Werk im öffentlichen Raum in New York an bester Adresse. Auf der Plaza des Rockefeller Center schwingt nun ein offenes Buch seine Adlerflügel - und verführt zu prosaischen Interpretationen.

Von Sacha Verna |
    02.05.2018, USA, New York: Die Skulptur «Uraeus» von Anselm Kiefer steht vor dem Rockfeller Center. Vor dem Rockefeller Center in New York ist eine Skulptur des Künstlers Anselm Kiefer aufgestellt worden. Dutzende Menschen bestaunten und fotografierten die «Uraeus» betitelte Skulptur bereits direkt nach der offiziellen Einweihung am Mittwoch. (zu dpa «Skulptur von Anselm Kiefer vor dem Rockefeller Center aufgestellt» vom 02.05.2018) Foto: Christina Horsten/dpa | Verwendung weltweit
    Lädt zu Interpretationen ein und zum Nachahmen: Anselm Kiefers Adler-Buch-und-Schlangen-Skulptur "Uraeus" (picture alliance / dpa / Christina Horsten)
    "Uraeus" hat eine Menge Konkurrenz auf der Plaza des New Yorker Rockefeller Centers. Da ist der goldene Prometheus, der im Sonnenlicht glänzt. Da sind die plätschernden Brunnen der Channel Gardens mit ihrer üppigen Blumenpracht sowie die anmutigen Details der Art Deco-Fassaden. Von den Schaufenstern der Edelboutiquen, die der Gebäudekomplex im Herzen Manhattans beherbergt, ganz zu schweigen.
    Kein Wunder also, dass Anselm Kiefer seinem ersten Werk im öffentlichen Raum in den Vereinigten Staaten gewaltige Ausmasse verliehen hat: Elf Meter hoch und neun Meter breit ist die Skulptur aus Blei und Edelstahl. Benannt nach der Kobra, die im alten Ägypten Macht und göttliche Herrschaft symbolisierte, thront ein offenes Buch mit Adlerflügeln auf einem Pfahl, um den sich eine züngelnde Schlange windet. Weitere aufgeschlagene Bücher liegen verstreut auf dem massiven Betonsockel.
    "Uraeus ist ein typischer Kiefer"
    "Uraeus" sei eine Zusammenfassung aller Themen und Motive, mit denen sich der 73-jährige Künstler seit 50 Jahren beschäftige, sagt Nicholas Baume:
    "Nicht nur das Buch, die Flügel, die Schlange, sondern das gesamte Tableau, das er für diesen Ort geschaffen hat. Die Gebäude verstärken den perspektivischen Effekt der Skulptur, sodass es fast so wirkt, also hätte Kiefer das Rockefeller Center in eines seiner Werke integriert, nicht umgekehrt. 'Uraeus' ist ein typischer Kiefer, aber einer mit neuen Dimensionen, in einem neuen Kontext. Es stecken Jahrzehnte gelebter Geschichte und Kiefers ganze Autorität als Künstler dahinter."
    Nicholas Baume ist der Leiter und Chefkurator des Public Art Fund, der Nonprofitorganisation, die seit 20 Jahren jeden Sommer zusammen mit der Immobilienfirma, die das Rockefeller Center betreibt, ein eigens für die Plaza entworfenes Kunstwerk präsentiert.
    Vorgänger am Platz: Koons, Bourgeois, Murakami
    Der Auftrag ist mit beträchtlichem Prestige verbunden. Aber Anselm Kiefer vermerkte schon als Teenager in seinem Tagebuch, dass er gedenke, zum bedeutendsten Künstler der Welt zu werden. Deshalb dürften ihn weder das teure Pflaster noch die Namen seiner Vorgänger beeindrucken, darunter Jeff Koons, Louise Bourgeois, Haruki Murakami. Anselm Kiefer sorgte in New York bereits mit seiner ersten Einzelausstellung in einer Galerie für Furore, und das war 1981. Dennoch komme dieser Auftritt in einem günstigen Moment für den Künstler, so Nicholas Baume:
    "Kiefer ist seit über 35 Jahren in den USA bekannt. Da ist es reizvoll, jetzt zurückzukommen, etwas Neues zu schaffen und damit ein neues Publikum, eine neue Generation zu erreichen. Mit 'Uraeus' spricht er sowohl langjährige Fans als auch junge Leute an, die sein Werk vielleicht zum ersten Mal sehen."
    Ein Symbol unweit des Trump Towers
    Wie immer bei Kiefer verschwimmt die Grenze zwischen Mystizismus und Mist, zwischen Grössenwahn und Gaukelei. "Uraeus" reckt sich wie ein Zahnstocher zwischen den Wolkenkratzern, der seinen Mangel an ästhetischen Reizen mit potenzieller Bedeutung wettzumachen versucht.
    Allerdings ist prosaischste Interpretation ist diesem Fall die gnädigste: Der Adler entspricht dem Wahrzeichen der Vereinigten Staaten, die zurzeit von einem Mann regiert werden, der dem Vernehmen nach noch nie ein Buch von vorne bis hinten gelesen hat und dessen Wahrheitsbegriff dem der sprichwörtlichen Schlange mit der gespaltenen Zunge sehr nahe kommt.
    Der Trump Tower liegt nur zehn Häuserblocks weiter nördlich von "Uraeus". Und weder der Turm des Präsidenten noch diese Skulptur von Anselm Kiefer gereichen der Fifth Avenue zur Zierde. Die vielen Passanten kümmert das freilich nicht. Die posieren für Selfies vor beiden.