"Ja, dieser Fluss heißt für uns Litauer Nemunas, natürlich, und nicht anders, obwohl man weiß ja, dass der Fluss auch andere Namen hat, er kann in Weißrussland Neman heißen. Irgendwo anders sagt man Memel dazu. Aber für uns ist das Nemunas."
Die Memel kennen die Deutschen aus Volksliedern, vielleicht auch aus einer nicht mehr gesungenen Strophe der Nationalhymne. Kaum jemand denkt an einen Fluss, der in Weißrussland entspringt und hunderte von Kilometern durch Litauen strömt.
"Und das ist der Fluss, der in vielen Volksliedern besungen worden ist. Und die Natur ist wunderschön. Das ist der größte Fluss Litauens, was für deutsche Verhältnisse fast ein kleiner Bach wäre. Aber jeder Litauer, der an dem Nemunas oder an der Memel lebt, hat ein besonderes Verhältnis zu diesem Fluss…"
… erzählt der Deutschlehrer und Übersetzer Robertas Čyvas. Sein Haus steht am Ufer der Memel, bei Kaunas. Einhundertfünfzig Kilometer weiter südlich verläuft die Grenze zwischen Weißrussland und Litauen – mitten durch den Fluss. Es gibt hier keinen Zaun, aber einen Kontrollposten.
"Bis zum Ufer können Sie gehen. Sie können den Fluss auch fotografieren, aber nicht den Grenzposten."
Die Geschichte vom Fürsten und dem Falken
Wir laufen die Uferwiese hinunter, am litauischen Grenzer mit seinem eingezäunten Posten vorbei. Das andere Ufer ist nur einen Steinwurf entfernt. Es sind keine Sperranlagen zu sehen. Die EU-Außengrenze wird unauffällig bewacht. Noch einige Kilometer fließt die Memel zwischen den beiden Staaten, dann gehört sie ganz zu Litauen und erreicht bald die erste Stadt, den Kurort Druskininai. Der Name leitet sich von litauisch "druska" ab – Salz. Um das Salz ranken sich Legenden. Nerijus Gudaitis, Historiker und Angestellter der Stadtverwaltung von Druskininkai, erzählt eine davon:
"Vor vielen Jahren ging ein Fürst dort auf die Jagd, wo heute Druskininkai liegt. Die Jagd war erfolgreich, doch sollte zum Abschluss nach alter Sitte als Dank an die Götter auch noch ein Falke geschossen werden. Alle versammelten sich am Ufer, der Fürst schoss, und der Falke stürzte in die Memel. Der Fürst schwamm ihm nach und versank. Alle glaubten, er sei ertrunken, denn er ward nicht mehr gefunden. Seine Frau lief zum Fluss, rief nach ihrem Mann und vergoss bittere Tränen. Da tauchte er wieder auf, vollständig gesund - und an der Stelle, wo die Tränen auf den Boden gefallen waren, schoss salziges Wasser hervor."
Die Wahrheit ist prosaischer. Die Sole unter Druskininkai taugte nicht zur Gewinnung von Speisesalz, aber Ende des 18. Jahrhunderts für die Einrichtung eines Kurbetriebs. Die ersten Gäste waren die Notabeln der polnisch-litauischen Adelsrepublik, die damals beide Länder verband und kurz darauf von der europäischen Landkarte verschwand.
"Durch die Auflösung der polnisch-litauischen Adelsrepublik kam Druskininkai unter russische Herrschaft, und die Russen beschlossen, hier einen richtigen Kurort nach europäischem Vorbild auf die Beine zu stellen. Allmählich vergrößerte sich der Radius. Kurgäste kamen aus Minsk, aus Grodno. Man baute eine Eisenbahnstrecke von Warschau nach St. Petersburg, und bis zum Ersten Weltkrieg war Druskininkai einer der beliebtesten Kurorte im ganzen Zarenreich."
Der Kurort Druskininkai floriert wieder
Der Historiker Nerijus Gudaitis erzählt von Höhen und Tiefen in der Geschichte Druskininkais. Zwischen den Weltkriegen gehörte der Kurort zum wiedergegründeten Polen. Nun erholte sich hier die Warschauer Prominenz wie Polens Staatsgründer und Präsident Józef Piłsudski. Später schlug Stalin die Gegend Sowjetlitauen zu. Nun hieß es: Masse statt Klasse. Nach der Wende brach der sozialistische Kurbetrieb zusammen. Dann wurde saniert, und inzwischen floriert Druskininkai wieder, versichert Gudaitis.
"Es gibt heute nicht nur die Sanatorien, sondern auch einen Aqua Park, eine Skihalle und ein Reha-Zentrum für Sportler. Die Hälfte der Besucher kommt aus Litauen, die andere aus dem Ausland, aus Weißrussland, Lettland, Estland, Polen, Deutschland und Skandinavien."
Zwischen den neuen Kur- und Freizeitanlagen finden sich Relikte der bewegten Vergangenheit. Neben der leuchtend blauen russisch-orthodoxen Holzkirche steht ein zehnstöckiger sowjetischer Hotelblock leer, die unteren Fenster mit Brettern vernagelt. Aber das Zentrum mit vielen Springbrunnen und einer breiten Promenade wirkt gemütlich. Viele der alten Holzhäuser wurden liebevoll saniert. Und dann steht da das Denkmal für Mikalojus Konstantinas Čiurlionis, der in Druskininkai aufgewachsen ist. Der Maler und Komponist gilt auf beiden Gebieten als Wegbereiter der klassischen Moderne in Litauen. Die Memel hat den Nationalkünstler inspiriert, er hat sie gemalt und ihr Musik gewidmet.
Zusammenfluss von Nemunas und Neris in Kaunas
In Schleifen windet sich der Fluss von Druskininkai nach Norden, knickt nach Westen und erreicht Kaunas, die zweitgrößte Stadt Litauens. Die Altstadt liegt dort, wo sich die Memel mit der Neris verbindet.
"Das hier ist der Zusammenfluss der Memel mit der Neris. Hier gehen wir oft im Park spazieren, manchmal auch bis zur Spitze. Mir gefällt dieser Raum, diese Vereinigung der beiden größten litauischen Flüsse…"
… erzählt eine junge Frau, die mit ihren Kindern über die Landzunge spaziert. Auch den jungen Historiker Gediminas Kasparavičius fasziniert dieser Ort. Kasparavičius hat unlängst ein Buch über die Memel veröffentlicht.
"Als Kind war ich begeistert, ein gewaltiger, sehr eindrucksvoller Fluss. Heute als Erwachsener, wo ich die großen Ströme in Amerika gesehen habe, kommt sie mir nicht mehr so groß vor. Aber meine Kindheitserinnerung ist geblieben. Als Student habe ich dann begonnen, Material und alte Fotos über die Memel zu sammeln, Interviews aufzunehmen – über das Leben am Fluss, auch die romantischen Details. Hier in Kaunas, wo die beiden größten und schönsten Flüsse unseres Landes zusammenfließen, die Neris und der Nemunas, wie die Memel auf Litauisch heißt, haben wir es doch mit einem sakralen Ort zu tun. Es ist die schönste Stelle in Kaunas."
Mit einer Standseilbahn aus den 1930er Jahren erreicht man das steile Südufer der Memel. Von dort geht der Blick über die alten Kirchen und Gassen. Sehenswert ist auch das Čiurlionis-Museum. Es stammt aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, als Kaunas die provisorische Hauptstadt Litauens war, weil Vilnius zu Polen gehörte. Museumsdirektorin Vaiva Laukaitienė schildert uns die wechselvolle Geschichte der Sammlung:
"Schon nach seinem Tod 1913 erkannte man, was für ein Genie Čiurlionis war, und wollte seine Bilder sammeln. Da brach der Erste Weltkrieg aus. Die Werke wurden nach Moskau gebracht und in der Wohnung eines Diplomaten aufbewahrt. Nach Kriegsende, als Litauen seine Unabhängigkeit ausrief, fürchtete, man die Bilder könnten in Russland bleiben. So wandte sich Čiurlionis' Schwester Valerija angeblich direkt an Lenin und erreichte so die Rückgabe der Gemälde 1920 nach Litauen."
Memelland - Ziel für Heimwehtouristen
Čiurlionis malte auch Flusslandschaften, die an die steilen nördlichen Memel-Ufer erinnern. Wir fahren die Uferstraße von Kaunas nach Westen und erreichen Smalininkai. Vom früheren Hafen des malerischen Orts ist eine Mole geblieben. Am anderen Ufer liegt nun das Kaliningrader Gebiet, das frühere Ostpreußen. In Smalininkai wird die Memel wieder zur EU-Außengrenze, diesmal mit Russland. Und nördlich, auf litauischer Seite, beginnt das sogenannte Memelland, das bis 1920 zu Deutschland gehörte. Ein Ziel für Heimwehtouristen:
"Mein Vater ist aus diesem Ort, wir suchen den Bahnhof gerade, dort unten ist er abgebildet, aber wir haben ihn noch nicht gefunden, es könnte das Gebäude da sein. Wenn man im Internet guckt, da gibt es ein Bild und da steht noch auf Deutsch Schmalininken drauf…"
… erzählt eine Frau aus Hamburg, die hier auf der Spur ihres Vaters ist. Solche Besucher sind längst keine Ausnahme mehr, sagt Svetlana Jašinskienė, Direktorin eines regionalen Kulturzentrums:
"Touristen aus Deutschland kommen wirklich sehr viele in unsere Region. Viele suchen hier nach ihren Wurzeln."
Svetlana Jašinskienė bereitet auch die Mittsommerfeiern am Rambyno kalnas vor. Auf der Anhöhe am Nordufer der Memel kommen die Menschen nun bereits seit 135 Jahren zusammen und warten sehnsüchtig darauf, dass es 150 Jahre werden. Denn das würde eine Aufnahme ins litauische Kulturerbe bedeuten. Svetlana erklärt:
"Sie sind hier an einem ganz einmaligen Ort in ‚Klein-Litauen‘, das heißt in der fünften offiziell anerkannten Region Litauens. Vor 135 Jahren war das deutsches Gebiet, und das Litauische war geradezu verboten. Aber es fanden sich Leute, die sich für die Sprache einsetzten. Die organisierten hier das Fest und brachten aus dem übrigen Litauen Chöre hierher, damit die Leute das Litauische nicht verlernten. Bei uns ist es heute besonders schön, weil wir wirklich mit Chören feiern."
Neben Svetlana steht der Journalist Juozas Šalkauskas und erzählt uns von Georg Sauerwein, einem Sprachforscher aus Hannover. 1877 kam er in diese Gegend und wurde zum Vorkämpfer für das Litauische. Ein litauisches Gedicht des Deutschen Sauerwein wurde zur Hymne des sogenannten Klein-Litauen. Juozas Šalkauskas kann es auswendig:
"Als Litauer sind wir geboren, Litauer müssen wir sein, diese Ehre erhalten wir bei der Geburt, wir dürfen sie nicht verlieren."
Brücke über die Grenze nach Russland
Vom Rambyno kalnas schaut man weit über die Memel bis nach Sowjetsk, dem früheren Tilsit. Die Stadt ist berühmt für einen Käse und den 1807 geschlossenen Frieden zu Tilsit, wofür sich die preußische Königin Luise mit Napoleon traf. Zum 100. Jahrestag des Tilsiter Friedens wurde die Königin-Luise-Brücke über die Memel eingeweiht. Heute ist nur noch eines der neobarocken Brückenportale erhalten. Auf russischer Seite steht es vor heruntergekommenen Plattenbauten, eine eher trostlose Szenerie.
Die Brücke nutzen nur wenige Autofahrer und Fußgänger. In einem Café am litauischem Ufer hat ein Mann mit seinen Kindern Platz genommen.
"Wir wohnen in Sowjetsk. Wir kommen oft nach Litauen, um hier Eis zu essen, fahren aber auch nach Vilnius, Kaunas ... Heute sind wir einfach über die Brücke gelaufen, um ein bisschen spazieren zu gehen. Die Passkontrolle geht ganz schnell."
Hinter Sowjetsk teilt sich der Fluss in mehrere Arme - das Memeldelta. Hier wird gefischt und gebadet. Unzählige Kanäle durchziehen die flachen Kuhweiden.
Besonders malerisch ist Minija am gleichnamigen Fluss, der von der Atmata aufgenommen wird, die wiederum ins Kurische Haff mündet. Der Memelforscher Gediminas Kasparavičius:
"Minija ist wohl das einzige Dorf, in dem der Fluss die Straße ersetzt. Die Höfe stehen an beiden Ufern. Eine Brücke gibt es nicht. Wenn die Leute sich hier Zucker oder Salz von ihren Nachbarn borgen wollen, müssen sie mit dem Kahn fahren."
Was auch wir tun – zu Gast im einstigen Schulhaus von Minija, aus dem die neuen Besitzer eine Pension gemacht haben. Vor dem großen Holzhaus in rostroter und blauer Farbe steht Inga, die Wirtin:
"Dieses Haus wurde im 19. Jahrhundert erbaut und ist nie zerstört worden. 1999 haben wir das ganze Gehöft gekauft. Mein Mann ist Künstler. Er hat sich eigenhändig um alle Details gekümmert. Das Dorf sollte seinen ursprünglichen Charakter zurückbekommen, den es vor dem Zweiten Weltkrieg hatte. Die Erinnerung an die Geschichte dieser Gegend zu bewahren, das ist eine Mission."
Mündung am Kurischen Haff
Nur wenige Meter entfernt nisten Störche. Hier am Kurischen Haff leben besonders viele Vögel oder machen zumindest Station.
Direkt am Ufer des Haffs der Leuchtturm von Ventė. Von hier sieht man lange Sanddünen der Kurischen Nehrung zwischen dem Haff und der Ostsee. Der Blick geht nach Nida, auf Deutsch Nidden. Dort, im früheren Sommerhaus des Schriftstellers Thomas Mann, findet seit Jahren ein deutsch-litauisches Kulturfestival statt. Nationale Berührungsängste gibt es keine, sagt Festival-Leiterin Lina Motuzienė:
"Diese Gegend kann man als deutsch oder auch als Kleinlitauen auffassen, denn es lebten ja auch Litauer in dieser Region, und die Kultur ist unser gemeinsames Erbe."
So denkt auch der Deutschlehrer und Übersetzer Robertas Čyvas und sagt:
"Es gab eine Zeit, da waren Litauer und Deutsche Nachbarn, zum Beispiel an der Memel. Und ich weiß das von beiden Seiten, dass sie gute Nachbarn waren."