Gewaltlosigkeit hat nichts mit Feigheit zu tun, sie ist im Gegenteil "die höchste Tugend der Tapferen." Wenn dieses Wort Mahatma Gandhis zutrifft, muss man sich Judith Butler als tapferen und tugendhaften Menschen vorstellen. Die US-amerikanische Philosophin plädiert in ihrem jüngsten Buch für unbedingte Gewaltfreiheit im Kampf um eine bessere, gerechtere Welt. Wobei sich natürlich die Frage stellt: Wie definiert man Gewalt? Verhält sich gewalttätig, wer politische Gegner in einer Parlamentsrede polemisch attackiert? Ist die Blockade eines Castor-Transports eine Form von Gewalt? Haben Streiks etwas mit Gewalt zu tun? Handeln Tierschützerinnen, die Versuchstiere aus medizinischen Laboren befreien, gewalttätig? Darf man Gewalt gegen Sachen auch Gewalt nennen? Oder beginnt Gewalt, echte Gewalt, erst mit dem physischen Angriff auf reale Personen? Auf all diese Fragen kann es keine eindeutigen Antworten geben, betont Judith Butler:
"Argumente für oder gegen Gewaltlosigkeit setzen voraus, dass wir möglichst zwischen Gewalt und Nichtgewalt differenzieren. Es gibt aber keinen einfachen Weg zu einer stabilen semantischen Unterscheidung."
Wobei man feststellen darf: Reale, konkrete, handfeste Gewalt erkennt man sofort, wenn man mit ihr konfrontiert wird. Wer von belarussischen Polizeischlägern mit Gummiknüppeln malträtiert wird oder die Tränengasschwaden atmet, die Einsatzkommandos auf den Straßen Hongkongs oder Istanbuls gezündet haben, braucht nicht Foucaults gesammelte Werke gelesen zu haben, um zu wissen, dass er oder sie zum Opfer gewalttätiger Attacken geworden ist.
Unterschiedliche Aspekte der Gewaltfrage
Die Inhaber realpolitischer Macht können physische Gewalt anordnen. Damit haben Diktatoren und Autokraten kein Problem. Das Problem haben die Anderen, die Oppositionellen, die Aufbegehrenden, die gegen ihren Willen Beherrschten. Die reden sich traditionellerweise die Köpfe heiß, wann und unter welchen Umständen physische Gewalt im Kampf gegen "die da oben", gerechtfertigt ist. Judith Butler kennt diese Diskurse:
"Eines der stärksten Argumente für den Einsatz von Gewalt auf der Linken lautet, dass Gewalt taktisch erforderlich ist, um struktureller oder systemischer Gewalt wirksam zu begegnen oder um gewalttätige Regime wie das Apartheid-Regime, Diktaturen oder totalitäre Regime zu überwinden. Das mag stimmen, ich widerspreche dem nicht. Damit dieses Argument jedoch überzeugen kann, müssten wir zunächst einmal wissen, wo der Unterschied zwischen der Gewalt des Regimes und der Gewalt liegt, die das Regime zu Fall bringen will. Kann man diesen Unterschied immer benennen? Muss man unter Umständen hinnehmen, dass sich kein Unterschied zwischen der einen und der anderen Gewalt mehr angeben lässt? Anders gefragt: Kümmern die Gewalt diese Unterscheidungen und unsere Typologien überhaupt? Verdoppelt der Einsatz von Gewalt die Gewalt, und zwar in Richtungen, die sich nicht vorher eingrenzen lassen?"
Anknüpfend an Kant, Freud und den Antikolonialismus-Philosophen Frantz Fanon dekliniert Judith Butler in ihrem überraschend eingängig zu lesenden Werk die unterschiedlichsten Aspekte der Gewaltfrage durch. Den rassistischen, antiegalitären patriarchalischen Kräften dieser Welt tritt man in Butlers Sicht der Dinge am wirkungsvollsten aggressiv, aber in jedem Fall gewaltlos gegenüber.
"Aggression wird oft mit Gewalt verwechselt, aber für die Argumentation im vorliegenden Buch muss unbedingt festgehalten werden, dass Formen gewaltlosen Widerstands auf durchaus aggressive Weise verfolgt werden können und müssen. Aggressive Gewaltlosigkeit ist daher kein Selbstwiderspruch."
Historische Prozesse als Gewaltprozesse
Eine deutlich andere Position vertritt die Pariser Philosophin Elsa Dorlin in ihrem Buch "Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt". Man dürfe sich keine Illusionen über die Friedfertigkeit des Menschen machen, historische Prozesse seien immer auch Gewaltprozesse, lautet eine von Dorlins Prämissen. Und in der Regel sei diese Gewalt von oben nach unten gerichtet.
In ihrer Studie analysiert die französische Poststrukturalistin, wie, wo und mit welchen Intentionen unterdrückte Gruppen in der Geschichte der letzten zwei- bis dreihundert Jahre Gegengewalt ausgeübt haben. Die prinzipielle Legitimität physischer Selbstverteidigung steht für Dorlin außer Frage:
"Die Philosophie sieht in der Gewalt vor allem etwas eher Negatives. In den letzten Jahren gibt es - zumindest, was die politische Philosophie betrifft - sehr wenige Arbeiten über die Gewalt, außer, um sie als etwas Ungerechtfertigtes darzustellen oder um sie ausschließlich als Gegengewalt gelten zu lassen. In den letzten Jahren gab es also in der Politischen Philosophie kaum theoretischen Überlegungen in Bezug auf die Gewalt."
Sieben Jahre hat Elsa Dorlin an ihrer Studie über "Selbstverteidigung" gearbeitet. Sie analysiert den antirassistischen Befreiungskampf der "Black Panther" und anderer militanter Bürgerrechtsgruppen in den 1960er- und 70er-Jahren; sie beleuchtet den verzweifelten Aufstand der jüdischen Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto, der den Insurgenten nicht die Wahl zwischen Leben und Tod, sondern nur die Wahl zwischen verschiedenen Arten des Sterbens gelassen hat; und sie widmet sich den militanten Selbstschutz-Vereinigungen, mit denen LGBTQ-Aktivisten im Gefolge der 68er-Bewegung in San Francisco und New York den Kampf gegen die Verfolgung sexueller Minderheiten durch die Polizei aufgenommen haben.
Sattelfest in Diskursanalyse
Eine der zentralen Protagonistinnen in Dorlins materialreicher Studie ist aber natürlich die feministische Bewegung, der sich die Philosophin auch biografisch verpflichtet fühlt: Da reicht der historische Bogen von den "Amazonenbataillonen" der Jakobinerin Théroigne de Méricourt in den 1790er-Jahren über die Jiu-Jitsu-Schulen der britischen Sufragetten bis hin zu feministischen Taktiken der Selbstverteidigung im 20. und 21. Jahrhundert. Elsa Dorlin hat einiges an Material zusammengetragen für ihr Buch, einen Band, dessen historische Passagen – sie machen etwa achtzig Prozent des Inhalts aus – auch die philosophische Laiin mit Gewinn lesen kann. Wer allerdings wirklich Profit aus Dorlins Studie ziehen möchte, sollte in post-foucaulistischer Philosophie ebenso sattelfest sein wie in Fragen der Diskursanalyse und der avancierteren Queer-Theory. Nur, wer im kleinen Finger hat, was er – oder sie – sich unter "segregationistischen Dispositiven" und "rassialisierten Epistemen" vorzustellen hat, wird den Inhalt dieses Buches in seiner ganzen poststrukturalistischen Differenziertheit ausloten können.
Da macht es einem Judith Butler mit ihrer Untersuchung über die "Macht der Gewaltlosigkeit" um einiges leichter. So verständlich wie in ihrem jüngsten Werk hat die Queer-Theoretikerin aus Berkeley noch kaum je geschrieben. Ob sie allerdings mit ihrer Hauptthese richtig liegt – dass man im politischen Kampf mit konfliktbereiter Friedfertigkeit am weitesten kommt -, würde man empirisch gern noch einmal kritisch überprüft sehen.
Judith Butler: "Die Macht der Gewaltlosigkeit – Über das Ethische im Politischen",, aus dem Englischen von Reiner Ansén,
Suhrkamp-Verlag, 250 Seiten, 28,00 Euro
Suhrkamp-Verlag, 250 Seiten, 28,00 Euro
Elsa Dorlin: "Selbstverteidigung – Eine Philosophie der Gewalt", aus dem Französischen von Andrea Hemminger,
Suhrkamp-Verlag, 315 Seiten, 32,00 Euro
Suhrkamp-Verlag, 315 Seiten, 32,00 Euro