Jonas Zerweck: Am 6. April, also gestern, jährte sich der Todestag eines sehr berühmten Komponisten zum 50. Mal: Igor Strawinskys. Die Klassikbranche und vor allem der Klassikmarkt lieben ja solche Jubiläen. Da können nicht nur neue Alben dem Anlass entsprechend aufgenommen, sondern auch alte Aufnahmen neu herausgebracht werden. Letztes Jahr war Beethoven omnipräsent, und im vergangenen März, war Astor Piazzollas Geburtstagsjubiläum. Auch da gab es einige neue Alben. Aber jetzt: nichts, oder zumindest fast nichts. Strawinsky findet kaum statt zu seinem Jubiläum. Lediglich die Label Warner und Deutsche Grammophon haben jeweils eine große Box mit alten Aufnahmen veröffentlicht. Warum das so ist, darüber spreche ich jetzt mit dem Musikwissenschaftler und -journalisten Michael Stegemann.
Wie erklären Sie sich, dass zu so einem runden Gedenkjahr von einem so wichtigen Komponisten kaum neue CDs erschienen sind?
Michael Stegemann: Das ist relativ schwer zu erklären oder relativ leicht. Machen wir's mal leicht am Anfang. Die Strawinsky-Rezeption hat in den letzten 20, 30 Jahren deutlich nachgelassen gegenüber einem Boom, der kurz nach seinem Tod 1971 in der Schallplattenindustrie festzustellen war. Es sind natürlich die großen Kernwerke, die kontinuierlich, immer wieder und auch weiter aufgenommen und produziert werden. Aber große Teile des Gesamtwerks von Strawinsky liegen tatsächlich schon seit Jahrzehnten brach. Insofern ist es zwar bedauerlich, aber auf der anderen Seite auch nicht wirklich erstaunlich, dass dieser 50. Todestag nicht mehr hervorgebracht hat als einige Einzelproduktionen, die eher am Rande erschienen sind, als dass man sich zentral um große Werke von ihm bemüht hätte.
Zerweck: Sie haben gesagt, dass es die leichte Variante. Was ist die schwierige Variante es zu erklären?
Stegemann: Die schwierige Variante ist Strawinskys Stellung in der Musikgeschichte und insbesondere seine Bedeutung für die zeitgenössische Musik, für die Moderne, die Avantgarde oder, wie auch immer man das nennen will. Ich sage es mal ganz subjektiv: Für mich ist Igor Strawinsky der bedeutendste Komponist des 20. Jahrhunderts, und zwar deswegen, weil er alle denkbaren Facetten in seinem Werk abbildet und man quasi anhand seines langen Lebens und seines umfangreichen Schaffens die gesamte Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts nachverfolgen kann.
Aber dieses Urteil ist durchaus nicht ungeteilt: Es hat schon sehr, sehr früh - auch schon zu seinen Lebzeiten - eine deutliche "Anti-Strawinsky-Koalition" gegeben.
"Es gab im Grunde drei Strawinskys"
Zerweck: Gab es da prominente Vertreter, die das vorangetrieben haben?
Stegemann: Ja! Es gab zum Beispiel einen ganz fundamentalen Streit in der französischen Neuen Musik zwischen Nadia Boulanger, die eine eifrige und kontinuierliche Verfechterin von Strawinsky war, und Olivier Messiaen, der zwar ein Werk wie den "Sacre du printemps" über alle Maßen geliebt und gelobt hat, aber ansonsten mit Strawinsky nicht viel anfangen konnte. Und dann gibt es eine spätere Trennlinie als sich Strawinsky in den 1950er-Jahren mit einer ganz eigenen Form der Zwölftönigkeit beschäftigt. Da wenden sich Interpreten wie Ernest Ansermet und andere gegen ihn. Dieses legendäre, schreckliche Buch "Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein" von Ernest Ansermet ist eine Abrechnung mit Strawinskys "Zwölfton-Verirrung", wie er es nennt.
Auch unter einigen der Komponisten am Ende des 20. Jahrhunderts gibt es Kritiker oder beziehungsweise Vorbehalte gegen Strawinsky, sodass sich das wie ein roter Faden ein kleines bisschen durch die Rezeptionsgeschichte zieht. Aber das ist ein Phänomen, das Strawinsky insgesamt betrifft und das eben auch dazu geführt hat, dass man um manche Werke einen weiten Bogen geschlagen hat. Das gilt vor allem für die späten Werke.
Zerweck: Sind die denn auch auf den CDs der neuen Boxen zu hören?
Stegemann: Ja, sie sind auf diesen Boxen zu hören, allerdings in demselben Missverhältnis, den man auch in vielen Biographien begegnet. Vielleicht noch mal zur Erinnerung: Es gibt im Grunde genommen drei Strawinskys. Es gibt den russischen Strawinsky vor 1910 mit so grandiosen Werken wie "Feuerwerk" oder dem "Scherzo" und anderem. Dann gibt es den französisch-europäischen Strawinsky, als er 1910 mit Serge Diaghilew und den Ballets Russes nach Paris geht und dann nacheinander mit dem "Feuervogel", "Petruschka", "Le Sacre du Printemps", "Les Noces", "Pulcinella" eine Ballettsensation nach der anderen schafft.
Als er dann 1940 in die Vereinigten Staaten emigriert, bricht das Bewusstsein von dem, was Strawinsky geleistet hat und weiter leistet, plötzlich weg. Er hat ja dann noch über 30 Jahren in den Vereinigten Staaten gelebt, hat bis 1968 komponiert. Einige wenige Werke aus dieser Spätzeit sind tatsächlich präsent. Dazu gehört die Oper "The Rake’s Progress" aus dem Jahr 1951, und dazu gehören einige der ganz späten, für Venedig komponierten Kirchenmusiken. Aber vieles von dem, was er da schreibt und was absolut experimentell ist - nicht nur in Richtung Schönberg-Adaption und anderem - das ist bei uns in Europa so gut wie überhaupt nicht rezipiert worden.
"In den Boxen sind sehr wichtige Aufnahmen mit dabei"
Zerweck: Jetzt haben wir mit diesem Boxen zwei Zusammenstellungen, wo alles irgendwie mal aus den verschiedenen Jahren zusammensortiert wurde und gemeinsam herausgebracht wurde. Aber im Konzertleben begegnen uns, wenn das Konzertleben denn stattfindet - ja vor allem Werke wie der "Sacre", der "Feuervogel" und so weiter. Bei den Aufnahmen, was ist Ihre Einschätzung? Welche Werke sollte man dringend mal aufnehmen?
Stegemann: Beide, sowohl die Deutsche Grammophon als auch Warner mit den alten EMI-Beständen haben natürlich ihre Boxen nach dem zusammengestellt, was sie in ihrem Katalog hatten. Da sind einige sehr, sehr gute und wichtige Aufnahmen dabei, die jetzt endlich wieder veröffentlicht sind. Es sind aber auch viele dabei, wo man denkt: Naja, das ist nun nicht unbedingt, was die Interpretation angeht, der Weisheit letzter Schluss.
Zerweck: Da ist es schön, dass sie überhaupt gibt.
Stegemann: Ja, natürlich ist es schön. Aber was hilft es, wenn man mit alten Schätzchen wieder an die Öffentlichkeit tritt? Diese beiden Boxen sind nicht hochpreisig, muss man dazusagen, weil sie Wiederveröffentlichungen sind. Und sie sind so ein bisschen - das ist ein böses Wort - aber sie sind so ein bisschen Resterampen. Das heißt, die Frage "Wen kann diese Box für Strawinsky interessieren oder begeistern?" - ich weiß nicht, ob das so breiter Kreis an Musikliebhabern ist. Aber es wäre etwas Anderes, wenn sich zum Beispiel die großen Interpreten mal um Strawinskys späte Werke kümmern würden. Etwa die Pianisten, also Werke wie die "Movements", die er in einer freien Zwölftönigkeit für Klavier und Orchester komponierte. Die sind so gut wie nicht existent, es gibt eigentlich überhaupt keine neuen Aufnahmen davon. Jetzt hat immerhin Daniil Trifonov auf seiner letzten Grammophon-CD die "Serenade in A" aufgenommen. Aber das ist auch so ein bisschen, sagen wir mal ‚Alibi‘.
Wenn, dann spielen die Pianisten eben doch die drei Stücke aus "Petruschka". Und das, was nach 1940 entstanden ist, wie der phänomenale "Tango" oder anderes wie die eben erwähnten "Movements", das wird einfach zur Seite gedrängt. Dann gibt es eine ganze Reihe von Kammermusikwerken: das Septett, das Oktett zum Beispiel. Die hat Strawinsky in den USA geschrieben und die gehören für mich zum spannendsten, was er auf dem Weg zu seiner eigenen Zwölftönigkeit entwickelt hat. Es gibt keine Neuaufnahmen davon, und man muss schon sehr tief in die Geschichte zurückgehen, um überhaupt eine vernünftige Produktion zu entdecken. Klar, in den beiden Boxen sind sie dann wieder drin, aber eben als uralt Produktion.