Johann Sebastian Bach gilt zwar nicht gerade als emotionaler Künstler, im Gegenteil: Seine Musik wird häufig als verkopft wahrgenommen und mit wenig Bezug zu einer modernen Welt. Doch die Pianistin, Organistin und Bachvermittlerin Ann-Helena Schlüter sieht das anderes: Genau diese Musik habe das Potenzial, in Zeiten wie dieser zu einer vielfachen Quelle von Zuversicht zu werden.
"Die Erfahrung mit Tod, die Spiritualität in Bachs Musik hat damit zu tun, dass er weiß, dass das Leben endlich ist. Er deutet in seiner Musik immer auf etwas hin, auf etwas weiter Entferntes, auf Ewigkeit finde ich, und das merkt man auch an der Auswahl der Texte, wenn er welche ausgewählt hat, irgendwie muss er gewusst haben, ich sterbe, aber wir gehen alle am Ende wohin."
Und so folgen: Fünf Werke aus Bachs großem OEuvre – und ihr Bezug zur Pandemie.
1. Trauer
Musik: Chaconne, d-Moll-Partita für Violine solo, BWV 1004
Die d-Moll-Partita gilt als eines der tiefgründigsten Werke, die Johann Sebastian Bach je komponiert hat. Die mitschwingende Trauer ist hier nur ein Affekt, der sich immer wieder harmonisch aufhellt. Hochkomplex als Variationensuite komponiert klingt die Musik jedoch verblüffend simpel.
"Ungefähr so als würde man in einer Kathedrale stehen oder ein Gedicht lesen und sich denken: So ist es, das hat jemand unfassbar gut in Worte gefasst, und es ist vor allem eines, wunderschön. Da trifft was zusammen: die Schönheit, die Wahrheit, damit kann ich mich identifizieren, und dass jemand das in eine schöne Form gefasst hat."
2. Einsamkeit
Musik: Italienisches Konzert - III. Presto, BWV 971
In seinem Italienischen Konzert imitiert Bach das Zusammenspiel eines Soloinstruments mit einem Orchester, indem er die unterschiedlichen Klangfarben der beiden Cembalomanuale einander gegenüberstellt. Die Interpretin sitzt also alleine auf der Bühne, spielt aber eine Musik, in der mehrere Partner miteinander kommunizieren – allein, aber nicht einsam.
Musik: Italienisches Konzert - III. Presto, BWV 971
3. Überforderung
Musik: Fuge C-Dur, BWV 545
"Bach hat diese Art, dass er in seinen Fugen aber auch in den freien Werken, dass da immer eine Kernbotschaft durchläuft," sagt Ann-Helena Schlüter über die manchmal überfordernde Komplexität in Bachs Werk.
"Da läuft immer etwas ganz gleichmäßig und klar strukturiert durch, und drüber und drunter sind lebendige Stimmen, die da herumschwirren, […] dann verdichtet sich das zu einer Art Höhepunkt, da wird es dann wie so ein Cluster, und mit einer wunderschönen Coda lässt er das ganze ausgehen. Die Art, wie er das macht, sagt viel darüber aus, wie man das Leben sehen kann."
4. Langeweile
Musik: Kunst der Fuge, BWV 1080
Welches Werk könnte langweiligen Momenten effektiver entgegenwirken als die "Kunst der Fuge"? Bach schrieb es auf dem Totenbett, fast blind und schon sehr schwach – und erschuf in diesem Zustand eines der bewunderten Meisterwerke der Kontrapunktik. Hörend erscheint die Musik kaum komplexer als andere Bach-Werke zu sein – doch fordert sie den Geist noch einmal auf eine ganz andere Art und Weise.
Musik: Kunst der Fuge, BWV 1080
5. Hoffnung
Musik: Goldberg-Variationen, Aria, BWV 988
Auch die Goldberg-Variationen gelten als eines der unübertroffenen Meisterwerke. So planvoll und streng, wie die Variationen gebaut sind, so unterschiedlich sind die Charaktere der einzelnen Sätze. Aus einem einzigen schlichten Thema in der "Aria" entwickelt Bach ein Universum an Möglichkeiten – und möglichen guten Ausgängen: "Dieses Fokussierte in der Musik tut einem schon gut," sagt Ann-Helena Schlüter. "Man merkt auch, dass er gefunden hat, was er finden wollte. Er hat gefunden, hat den Sinn des Lebens gefunden."
Musik: Goldberg-Variationen, Aria, BWV 988
Vielleicht kann Bachs Musik wirklich für den einen oder die andere eine Stütze sein. Für Ann-Helena Schlüter ist sie es allemal: "Seine Musik ist zeitlos, das heißt auch ich bin 2021 total begeistert von seiner Musik, sie ist in gewisser Weise intellektuell aber nicht auf einer überheblichen Art und Weise. Er verbindet das Kluge und genial Begabte mit etwas so Warmherzigem und Demütigem, was ich von anderen Komponisten, von keinem anderen Komponisten kenne."