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Anspiel - Cellomusik aus Prousts Salon
Unausgesprochene Geheimnisse

Im Juli 2021 jährt sich Marcel Prousts Geburtstag zum 150. Mal. Zu diesem Anlass hat der Cellist Steven Isserlis ein Album aufgenommen, das von vielen zarten Andeutungen und unausgesprochenen Geheimnissen lebt. Dazu lädt er in den Salon von Proust ein.

Von Christoph Vratz |
    Ein Mann mit weiß-grauen Locken in der Halbtotalen: Er hält vor sich ein holzfarbenes Cello und in der rechten Hand den Bogen.
    Blickt mit Freude auf das Proust Jubiläum im Juli 2021 und hat dafür ein Album konzipiert. ( https://imgartists.com / Satoshi Aoyagi)
    Musik: César Franck - Violinsonate in A-Dur, FWV 8 (Arr. J. Delsart für Cello und Klavier): I. Allegretto ben moderato
    Es ist nur ein winziger Moment. Aber ein Moment für die Ewigkeit. Man hört nichts weiter als ein kleines musikalisches Thema, eine Phrase innerhalb einer Violinsonate. Doch diese kurze Melodie wird zum Synonym für ein immer wieder kehrendes Gefühl, für etwas Erhabenes und für tiefstes Empfinden.
    Diese "petite phrase", wie es im französischen Original heißt, ist eine der Schlüsselstellen im ersten Band von Marcel Prousts Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Was aber steckt hinter dieser Phrase? Ein Meisterwerk, ungekannt und ungeahnt? Auf jeden Fall handelt es sich um eine vom Autor frei erfundene Musik, komponiert von dem ebenfalls erfundenen Komponisten Vinteuil. Literaturwissenschaftler haben sich seither immer wieder den Kopf zerbrochen, welche wirklich existierende Musik für diese erdachte Musik Vorbild gewesen sein könnte. Dabei fallen Namen wie Saint-Saëns, Fauré und, immer wieder, César Franck.
    Musik: César Franck - Violinsonate in A-Dur, FWV 8 (Arr. J. Delsart für Cello und Klavier): IV. Allegretto poco mosso

    Ein Literat mit engem Kontakt zur Musik

    Stephen Isserlis und die Pianistin Connie Shih haben César Francks A-Dur-Violinsonate an den Schluss ihres Albums "Musik aus Prousts Salon" gestellt, in einer Bearbeitung für Cello. Alles klingt fein aufeinander abgestimmt und minutiös abgewogen: der wohlig-warm tönende Klang des Stradivari-Cellos und der hell leuchten Diskant des Flügels ergänzen sich tadellos.
    Marcel Proust war von klein an mit Musik vertraut. Er und seine Mutter spielten Klavier, eine seiner Verwandten führte einen Salon, in dem Komponisten wie Maurice Ravel und Nadia Boulanger ein- und ausgingen, und als Proust in späteren Jahren kaum mehr das eigene Bett verlassen konnte, ließ er in seiner Wohnung ein Streichquartett aufspielen. Zu seinen engsten Freunden zählte der Komponist Reynaldo Hahn. Mit dessen "Variations chantantes" aus dem Jahr 1905 eröffnen Isserlis und Connie Shih ihr neues Album.
    Musik: Reynaldo Hahn - Variations chantantes sur un air ancien
    Überraschend findet sich auf dieser Aufnahme der Name von Augusta Holmès. Die César Franck-Schülerin stand in keinem engeren Zusammenhang mit Marcel Proust. Nur ein eher zufälliges Treffen in einem Salon ist belegt. Holmes steht auf der CD repräsentativ für den damaligen Zeitgeist in Frankreich. Bei der Uraufführung einer ihrer Kantaten im Pariser Weltausstellungs-Jahr 1889 sollen 30.000 Menschen dabei gewesen sein. Stephen Isserlis hat ihre Musik neu arrangiert - eine aparte Entdeckung mit ihrem Melodienreichtum und ihrer Sinnlichkeit.
    Musik: Augusta Holmès - "La vision de la reine" (Arr. Isserlis: "Récitatif et chant")

    Voller Klarheit, aber auch Geheimnisse

    Steven Isserlis und Connie Shih tauchen die ausgewählten Werke dank der überlegt eingearbeiteten Klangfarben in eine spätromantische, schon leicht impressionistische Atmosphäre. Zu den Besonderheiten der Aufnahme zählt auch die erste Cello-Sonate von Camille Saint-Saëns. Nach der Uraufführung legte seine Mutter ein energisches Veto ein - ihr missfiel das Finale. Artig zog sich Saint-Saëns für ein paar Tage zurück und komponierte einen komplett neuen Schlusssatz. Hier nun präsentieren Isserlis und Shih beide Final-Fassungen. Dies ein Ausschnitt aus der heute selten zu hörenden ersten Version:
    Musik: Camille Saint-Saëns - Cellosonate Nr. 1 in c-Moll, Op. 32: III. Allegro quasi presto (Originalversion)
    Werke von Fauré und Duparc ergänzen dieses klug konzipierte Programm, das Entdeckungen garantiert und beim Hören auffallend kurzweilig erscheint. Stephen Isserlis und Connie Shih harmonieren, wie schon bei früheren Aufnahmen, exzellent miteinander, vor allem weil ihr Spiel zwar von Klarheit geprägt ist, gleichzeitig aber von vielen zarten Andeutungen lebt, von Ahnungen und unausgesprochenen Geheimnissen.
    "Musik aus Prousts Salson"
    Werke von Reynaldo Hahn, Gabriel Fauré, Camille Saint-Saëns, Henri Duparc, Augusta Holmès / Steven Isserlis, César Franck / Jules Deslart
    Steven Isserlis, Violoncello
    Connie Shih, Klavier
    Label: BIS