Jonas Zerweck: In der Klavierliteratur gab und gibt es die Angewohnheit von Komponistinnen und Komponisten Werkzyklen zu schreiben, die auch als pädagogische Stücke für den Unterricht funktionieren. Bach etwa hat "Klavierbüchlein" geschrieben, so nannte er sie. Für seinen Sohn Wilhelm Friedemann und auch seine Frau Anna Magdalena. Auch die Etüden, spätestens bis sie von Chopin zu Konzertstücken gemacht wurden, waren in der Regel Werke, an denen Schülerinnen und Schüler lernen konnten. Die Idee, diese Werke als zusammenhängenden Zyklus zu schreiben, hat sich dabei immer stärker geformt. Bei Bach gibt es diesen Zyklus-Gedanken noch nicht, aber ein paar Jahrhunderte später ist er bei Béla Bartók ganz da. Bartók schrieb in den 1930er Jahren - übrigens ebenfalls für seinen Sohn - den Mikrokosmos. Der Mikrokosmos besteht aus über 150 Stücken, angefangen mit ganz einfachen Stücken für den Einstieg bis hin zu Werken für Fortgeschrittene. Auf diesen Mikrokosmos hat sich dann ganz direkt George Crumb bezogen. Er hat den Makrokosmos komponiert. 40 Jahre nach Bartók, Anfang der 1970er Jahre. Der Pianist Martin Klett hat diesen Zyklus von George Crumb neu aufgenommen und auf einer CD mit Préludes von Claude Debussy veröffentlicht. Darüber spreche ich jetzt mit ihm.
Herr Klett, In seinem Makrokosmos arbeitet George Crumb ja ganz viel mit Klängen, die im Innenraum des Flügels erzeugt werden. Da werden Saiten gezupft, gestrichen oder so gedämpft, dass Flageoletttöne entstehen. Er probiert das an diesen zwölf Stücken, die dieser Zyklus hat, scheinbar so aus, als würde er alle Klangmöglichkeiten, die zu entdecken sind, ein bisschen erforschen. Hat dieser Zyklus für Sie in diesem Sinne auch etwas Pädagogisches, wie in dem Mikrokosmos von Bartók, dass man alle Spieltechniken im Flügel kennenlernt?
Martin Klett: Also ich würde sagen, dass das ein enzyklopädisches Werk ist, also vielleicht nicht pädagogisch in dem Sinne, dass man irgendwie leicht anfängt und schwer aufhört. Denn es ist von Anfang bis Ende wahnsinnig schwierig und herausfordernd. Aber es ist schon besonders, dass man den Flügel oder die Möglichkeiten des Flügels so voll ausschöpft mit dem Innenraum. Also das war in der Zeit, in der er das geschrieben hat, zwar nichts komplett Neues, das gab's schon, aber er nutzt diese Möglichkeiten auf so derartig klangmalerische oder magische Weise, dass es nochmal zeigt, dass das nicht nur irgendwie eine Spielerei für Nerds ist, sondern irgendwie doch auch etwas Sinnliches.
"Crumb bezieht sich explizit auf Debussy"
Zerweck: Wie würden Sie denn den Bezug zu Bartók beschreiben? Geht das über den im Namen hinaus?
Klett: Ich würde sagen, es geht um diesen Kosmos "Klavier" sozusagen - dass das irgendwie einen Klangraum ist, in dem wir unendliche Möglichkeiten entdecken. Abgesehen davon, ist es völlig andere Musik, muss man eigentlich sagen. Der Mikrokosmos von Bartók hat eine unglaubliche Klarheit und ist sehr rhythmisch geprägt. Es geht um Strukturen und ein bisschen auch um die Schärfe von Dissonanzen. Und das ist bei Crumb wirklich ganz anders. Eigentlich würde ich sagen, er setzt sich davon ab, hat nur so diese Idee des pianistischen Gesamtwerks aufgegriffen.
Zerweck: Es gibt ja schon einige Aufnahmen von Crumbs Makrokosmos, aber ich konnte keinen finden, die diesen Zyklus mit einem anderen kombiniert. Das haben sie jetzt getan, und zwar mit Debussys erstem Buch der Préludes. Warum?
Klett: Wenn man das Vorwort liest zum Makrokosmos, dann stößt man ganz schnell auf Claude Debussy. Der wird selbst genannt von Crumb. Das heißt, auch auf diesen Zyklus bezieht sich Crumb ganz explizit. Und da ist es ganz eindeutig die klangsinnliche Seite, auf die er sich da bezieht.
"Crumbs Musik ist auch impressionistisch"
Zerweck: Aber inwiefern gibt es denn da Überschneidungen der Stile Debussy und Crumb? Sie sind nicht nur zeitlich sehr weit auseinander, auch die Stile unterscheiden sich ja. Wie würden Sie diese Gemeinsamkeiten, die Sie schon angesprochen haben, genau beschreiben?
Klett: Crumb hat natürlich viel, viel später seine Werke komponiert. Andererseits würde ich es irgendwie doch als impressionistische Musik bezeichnen. Da es eigentlich um Momentaufnahmen geht und um Stimmungsbilder. Ich glaube auch nicht, dass es ein Zufall ist, dass es zwölf Stücke sind. Es sind natürlich erst einmal die zwölf Tierkreiszeichen, auf die sich Crumb bezieht. Aber es sind auch zwölf Stücke, so wie es zwölf Préludes bei Claude Debussy und damit gibt es auch so allein zahlensymbolische Gemeinsamkeiten.
Zerweck: Sie haben die beiden Zyklen jetzt im Ganzen gelassen und nicht irgendwie ineinander verschoben. Aber wenn Sie zwei Stücke nebeneinander halten müssten, sodass man diese Verbindung, die Sie gerade beschrieben haben zwischen Crumb und Debussy, besonders gut wahrnehmen kann. Welche beiden Stücke wären das?
Klett: Sehr augenscheinlich nah beieinander sind gerade die ganz ruhigen, sphärischen Stücke: zum Beispiel Dream Images, die Love-Death music, Liebestodmusik von Crumb, die einfach so eine ganz zauberhafte, warme, mysteriöse Stimmung erzeugt. Und das könnte man zum Beispiel mit der versunkenen Kathedrale sehr gut vergleichen von Debussy. Das sind beides Stücke, wo sozusagen diese Unendlichkeit eine Rolle spielt. Auch im Zeitmaß, da ist alles ganz langsam und ein einziger Ton soll irgendwie ist so eine Art Ewigkeit darstellen.
"Die Bezüge lassen sich direkt erleben"
Zerweck: Dann machen wir das jetzt auch. Wir hören erst "Dream Images", die Love-Death music von George Crumb aus Makrokosmos I und im Anschluss einen Ausschnitt von "La Cathedral engloutie", die versunkene Kathedrale, von Claude Debussy aus seinem ersten Buch der Préludes.
Musik: Crumb - Dream Images
Musik: Debussy - La Cathedral engloutie
Zerweck: Warum haben Sie überhaupt diesen Zyklus mit einem anderen Zyklus kombiniert? Ich vermute, dass der Ausgangspunkt George Crumb war. Was reizt Sie daran, einen anderen Zyklus daneben zu stellen?
Klett: Es reizt mich eigentlich immer gegensätzliche Stile gegenüberzustellen. Ich habe das in meiner sonstigen Diskographie auch immer irgendwie versucht. Im Album davor zum Beispiel waren es Bachkonzerte mit Tangos gegenübergestellt. Also mich reizt grundsätzlich der Kontrast, so würde ich es auch immer im Konzertprogramm machen. Und so naheliegend das sein mag, den zweiten Makrokosmos mit dem ersten aufzunehmen oder die kompletten Debussy Préludes. Das wurde für meinen Geschmack schon häufig genug gemacht. Und für mich ist einfach immer das Nebeneinander oder das Hintereinander das übt einen besonderen Reiz aus, weil man irgendwie die Bezüge dann doch direkter erleben kann.
Mehr als Standardrepertoire
Zerweck: An welchen Stellen hat denn dieser Zyklus von Crumb für Sie in der Klavierliteratur des letzten Jahrhunderts? Meine Wahrnehmung ist, es ist irgendwie ein Stück, das ziemlich unter dem Radar fliegt. Es wird selten aufgeführt. Es gibt einige Einspielungen, aber die stehen auch nicht in der Beobachtung. Und andererseits taucht dieser Zyklus dann doch immer wieder als Referenz bei Pianistinnen und Pianisten auf.
Klett: Tatsächlich ist es immer noch so, dass die meisten Musiker irgendwie, sagen wir mal, wenig zeitgenössische Musik spielen. Zeitgenössisch ist das ja eigentlich schon gar nicht mehr nach 50 Jahren. Aber wie soll ich sagen, es ist immer noch etwas total Besonderes und es ist speziell und man muss sich wirklich sehr intensiv damit beschäftigen. Es ist viel Arbeit, diese Werke überhaupt einzustudieren. Man muss sich in die Notation einfuchsen, in die ganzen Effekte. Man muss gucken, wie kann ich diese ganzen Flageoletts und Spezialeffekte so auf den Punkt bringen und auch verlässlich, dass das wirklich im Konzert super funktioniert. Das ist schon nochmal eine spezielle Herangehensweise an das Instrument, an das einfach der sagen wir mal typische Pianist, der Standardrepertoire spielt, erst einmal nicht gewöhnt ist.
"Diese Stücke sind scharf gezeichnet"
Zerweck: Ein weiterer Aspekt dieser Werke ist die astrologische Bedeutung. Jedes dieser zwölf Stücke bezieht sich auf ein Sternzeichen des Tierkreises. Spielt das für Sie eine Rolle bei der Interpretation dieser Werke?
Klett: Die astrologische Seite spielt für mich beim Spielen nicht direkt eine Rolle. Ganz interessant ist aber, dass Crumb sich hat inspirieren lassen von ihm bekannten Personen. Er hat unter jeden Satz Initialien geschrieben, die für eine bestimmte Person stehen, die von der Musik charakterisiert werden. Das ist irgendwie schon eine Spielerei von ihm.
Diese Musik ist so zwingend, dass man eigentlich ganz wenig Spielraum hat. Man könnte denken, dass sie teilweise total improvisiert klingt. Es ist aber alles so akribisch notiert, dass es - ich sage es jetzt mal so ein bisschen platt - es ist fast schon egal, um welches Tierkreiszeichen es sich handelt. Die Musik hat einfach einen ganz eigenen Charakter. Jeder Satz ist so scharf gezeichnet, und er charakterisiert dann dieselben Tierkreiszeichen im Makrokosmos II zum Beispiel ganz anders. Er zeigt dann sozusagen unterschiedliche Seiten auf von jedem Tierkreiszeichen.
Zerweck: Die Frage muss jetzt noch sein: Welches Sternzeichen sind denn Sie?
Klett: Ich bin Steinbock.
Zerweck: Haben Sie durch Ihr Sternzeichen eine besondere Beziehung zum Stück Steinbock gehabt?
Klett: Ich muss gestehen, ich empfinde mich als so vielseitig, dass ich sagen kann: "Also wenn, dann hat er nur eine Seite von mir getroffen."
Zerweck: Ich würde vorschlagen, dass wir dennoch "Cruzifixus", wie das Stück für den Steinbock heißt, jetzt hören, aus dem Makrokosmos von George Crumb.