In diesem Jahr bewegen uns viele dramatische und wichtige Themen. Neben der Pandemie waren da etwa in den letzten Monaten die Black Lives Matter Bewegung in den USA und die dann auch bei uns verstärkte Diskussion über Rassismus in unserer Gesellschaft und unseren Behörden. Ein anderes Thema waren die Feindseligkeiten gegen LGBTI in Ländern wie Polen.
Die Musik des Komponisten Julius Eastman setzt sich mit beiden Themen auseinander. Glücklicherweise wird seine Musik immer öfter aufgeführt, besonders seine Klaviermusik. 1990 ist er gestorben, ab den frühen 2000ern bekommt seine Musik mehr und mehr Aufmerksamkeit. Eastman war ein schwarzer Homosexueller. Seinen Stücken hat er sehr provokante Namen gegeben: zwei heißen etwa "Evil Nigger" und "Gay Guerilla". In beiden Titeln überdreht er jeweils eine seiner persönlichen Eigenschaften, die für ihn zu Diskriminierung geführt haben, und stellt sie selbst als etwas Böses dar: als teuflisch oder aufständisch kriegstreibend. Dahinter steckt natürlich eine politische Absicht. Und es lenkt die Aufmerksamkeit mit einer schonungslosen Direktheit auf Themen, die bis heute nicht geklärt sind – nämlich die strukturelle Benachteiligung von People Of Color und Homosexuellen in unserer Gesellschaft.
Bei Edel ist in der Reihe Neue Meister eine Live-CD mit Eastmans beiden großen Werken "Evil Nigger" und "Gay Guerilla" erschienen. Malte Hemmerich hat sich die Aufnahme angehört.
Musik: Julius Eastman - Evil Nigger
Wie kleine Nadeln bohren sich die Töne in unsere Ohren, immer wieder, nur drei unterschiedliche Noten. Aber unzählige Repetitionen. Der Werktitel sticht und provoziert ebenfalls bewusst: "Evil Nigger" heißt diese Komposition des afroamerikanischen Komponisten Julius Eastman.
Eastman ist Ende der 1970er Jahre freier Komponist in New York. Immer wieder tritt er auf - als Pianist und Sänger. Auch seine Kompositionen werden aufgeführt – wenn auch nur vereinzelt. Nach Klavierstudium und Kompositionskursen am Curtis Institute of Music arbeitet der Komponist auch kurz mit John Cage zusammen.
Musik: Julius Eastman - Evil Nigger
Musik zwischen den Genres
1979 komponiert er Stücke, die heute meist auf Klavieren interpretiert werden, aber eigentlich für beliebige Instrumentengruppen konzipiert sind. Auch "Evil Nigger" gehört dazu.
Eastmans Musik zu dieser Zeit ist ziemlich frei und experimentell. Sie bricht mit dem Minimalismus, indem sie diese Prinzipien überzeichnet und Improvisation miteinbindet. Und auch sonst lässt sie sich keinem Genre, keiner Strömung zuordnen. Sie ist zu cool, nervig und aufgeregt! Und lässt sich wenn überhaupt, dann nur ganz kurz einfangen.
Musik: Julius Eastman - Evil Nigger
Eine feste Basslinie ist das zweite Motiv in "Evil Nigger" und gesellt sich zu den fallenden Motiven des Beginns hinzu. In der Partitur steht dann auch nicht viel mehr Notenmaterial, allenfalls ein paar Zeitangaben noch.
Dass aus so wenig Stoff dann ein 20 Minuten-Stück Musik wird, dafür müssen die Interpreten und Interpretinnen sorgen, die innerhalb der vorgegebenen Patterns recht frei wählen können.
Mit Gespür für kleine, aber starke Gesten
Im Fall dieser Liveaufnahme vom Moers Festival im Mai 2020 sind das Kai Schumacher, Patricia Martin, Mirela Zhulali und Benedikt ter Braak, die ihre Instrumente abwechselnd hart und dann wieder anmutig pulsieren lassen.
Diese Passion, vereint mit dem unglaublichen Gespür des Komponisten Eastman für kleine, starke Musikgesten, entfesselt eine vereinnahmende Wucht, die sich schon in den ersten radikalen Noten erahnen lässt.
Musik: Julius Eastman - Evil Nigger
Und diese Musik ist nicht nur simpel gebaut- Die zweite Komposition auf der Platte heißt- ähnlich provokant – "Gay Guerilla". Das Stück bringt im wabernden Repetitionswirrwarr eine bekannte Melodie: den Luther-Choral "Eine feste Burg ist unser Gott". Laut Eastman, selber offen homosexuell lebend, hier umgewandelt zum Schwulen-Manifest.
Musik: Julius Eastman - Gay Guerilla
Ungewohnt aktivistisch aufgeführt
Die Vier Musiker und Musikerinnen spielten diese Interpretation in Moers vor einem kleinen Publikum, mit Mund-Nase-Schutz in Regenbogenfarben. Dazu sehen wir sie im Booklet am Klavier mit Kapuzenpulli, lesen den Aufdruck "I can‘t breathe". Die Liveaufaunahme entstand nur drei Tage nach dem Tod von George Floyd. So aktuell und aktivistisch ist die sogenannte Klassik selten.
Die Vier am Klavier lieben die Kontraste, übertreiben und reizen die Freiheiten nicht nur in der Dynamik voll aus. Patricia Martin hat noch mit Eastman selbst dessen Musik aufgenommen. Die neue Liveaufnahme ist aber noch tobender, noch gewaltiger, und dabei glasklar abgestimmt. Besonders schön ist, dass der Puls, der Eastmans Stücke wie ein steter Leitfaden durchzieht hier nie zum maschinellen verkümmert, sondern immer veränderlich lebt.
Musik: Julius Eastman - Evil Nigger
Während sich Eastmans andere Werke immer weiter aufbauen und Rückbezüge haben, endet Evil Nigger ungewohnt, im atonalen Nichts. Ähnlich leise und unbemerkt wie auch das Schaffen von Julius Eastman selbst. Der Komponist lehrte vermehrt, wurde aber nicht glücklich, dann drogenabhängig und kommt in finanzielle Schwierigkeiten. Die Polizei räumt schließlich seine Wohnung in New York und beschlagnahmt Partituren.
Musik für unsere Zeit
Mit nur 50 Jahren stirbt der Komponist, obdachlos, an Herz-Kreislauf Versagen. Das war 1990. Seit einigen Jahren beginnen Menschen seine Musik zu rekonstruieren und aufzuführen. Zum Glück.
Musik: Julius Eastman - Evil Nigger
Wer sich hier 50 Minuten ungewohnte Klaviermusik anhört, wird sich vielleicht fragen, warum Eastman nicht noch viel öfter aufgeführt wird – und, warum man ihn einem "militanten Minimalismus" zuordnet. Dafür ist da viel zu viel Unordnung, Wildheit und Chaos. Seine Musik passt in keine Schublade, aber unbedingt in unsere Zeit.
Julius Eastman: "Evil Nigger" / "Gay Guerrilla"
Kai Schumacher, Klavier
Patricia Martin, Klavier
Benedikt ter Braak, Klavier
Mirela Zhulali, Klavier
Label: Neue Meister
Kai Schumacher, Klavier
Patricia Martin, Klavier
Benedikt ter Braak, Klavier
Mirela Zhulali, Klavier
Label: Neue Meister