Musik: Frédéric Chopin - Ballade Nr. 1, g-Moll
So heben großartige Erzählungen an – Chopins erste Ballade erscheint aus der Tiefe, beginnt quasi mit einer Vorgeschichte. Mehr braucht es nicht, um den Zuhörer gefangen zu nehmen, ihn sanft hineinzulocken in diese hochdramatische Musik.
Anna Vinnitskaya beginnt ganz schlicht, verrät nicht zu viel – ganz langsam nur dreht sie die Flamme höher. Die vier Balladen sind Chopin unter dem Brennglas – so elegisch wie kraftvoll, verspielt, tänzerisch, und dann wieder tastendonnernder Furor. Kurz: Ideales Repertoire für eine instinktive Musikerin wie Anna Vinnitskaya.
Sie spiele aus dem Bauch heraus, hat sie einmal gesagt: Dieses Zitat aus einem Interview klingt banaler als es gemeint ist, denn: Seinem Gefühl zu folgen muss man sich erst mal leisten können, gerade bei Chopin. Seine Musik verträgt weder ein Zuviel noch ein Zuwenig an Kontrolle oder Laissez-Faire – sie wird starr oder zerfällt; in dieser Interpretation fügen sich die vielen Noten zu einem beweglichen und reaktionsschnellen Ganzen.
Mit Unbedingtheit und Energie
Es ist ein schmaler Grat zwischen künstlerischer Freiheit und Willkür, und auf dem balanciert Anna Vinnitskaya nicht nur, sie tänzelt, mühelos. Klangliche Substanz und Beweglichkeit kommen bei ihr zusammen; die Unbedingtheit und Energie, mit der sie an Schlachtrösser wie die Konzerte von Rachmaninow oder Prokofiev herangeht, ist auch bei Chopin zu spüren – wenn auch dem weniger robusten Wesen seiner Musik angemessen.
Musik: Frédéric Chopin - Ballade Nr. 3, As-Dur
So grandios Anna Vinnitskaya auch schwelgen kann – ihre höchste Chopin-Kunst zeigt sie an anderer Stelle. Da, wo seine Musik am verletzlichsten ist, wo viele Interpreten bewusst oder unbewusst auf die Tränendrüse drücken. Dann wird es sentimental, und das ist gerade bei Chopin: Todsünde.
Bei Anna Vinnitskaya verbieten sich Rührseligkeiten von selbst – und sollte sich doch einmal eine Träne im Augenwinkel anbahnen, dann bleibt sie da, wo sie ist.
Musik: Frédéric Chopin - Ballade Nr. 4 f-Moll
Charme an der Oberfläche, Feuer darunter
Die Balladen sind in ihrer Vielseitigkeit, ihrem verschwenderischen Reichtum an Stimmungen und melodischen Einfällen unübertroffen in Chopins Schaffen.
Geschlossener in der Form und ausgeglichener in ihrem Wesen zeigen sich die vier Impromptus, die Anna Vinnitskaya auf ihrem Chopin-Debüt versammelt. Der salonhaftere Charakter soll über mögliche lauernde Abgründe nicht hinwegtäuschen – charmant gibt sie sich allenfalls an der Oberfläche, aber darunter schürt die Pianistin ein glühendes Feuer.
Musik: Frédéric Chopin - Impromptu Nr. 2
Ausgerechnet das berühmteste Impromptu, das Fantaisie-Impromptu in cis-Moll, wurde zu Lebzeiten von Chopin nicht veröffentlicht. Seine Brillanz und eine unter ständiger, rhythmischer Spannung stehende Ungeduld des Herzens haben es populär gemacht. Unendlich viele, und zu viele mittelprächtige Interpretationen waren die Folge.
So muss man Chopin spielen
Begegnet einem dieses Stück aber in der pianistischen Überlegenheit einer Anna Vinnitskaya, gleicht das einer Wiederentdeckung: Mit welcher Selbstverständlichkeit die Arpeggien und Läufe ineinandergreifen, wie elegant und erhaben zugleich sie musikalische Linien phrasiert – so muss man Chopin spielen.
Musik: Frédéric Chopin - Fantasie-Impromptu
So quecksilbrig-leicht dieses und die anderen Impromptus auch dahingleiten, Anna Vinnitskaya scheut sich auch nicht, die Pranke auszufahren.
Es ist diese Balance zwischen Raffinement und klanglicher Substanz, die diese Aufnahme auszeichnet – Chopin erscheint hier weder verzärtelt noch wird er unter Klangmassen begraben. Und auch bekanntes Repertoire wie die 4 Balladen oder die Impromptus haben derartig gelungene Interpretation unbedingt verdient.
Frédéric Chopin: 4 Ballades & 4 Impromptus
Anna Vinnitskaya, Klavier
Alpha Classics
Anna Vinnitskaya, Klavier
Alpha Classics