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Ansteckung mit dem Coronavirus
"Reproduktionszahl hat eine gewisse Schwankungsbreite"

Der kurzfristige Anstieg der Reproduktionsrate ist für den Virologen Jonas Schmidt-Chanasit kein Grund zur Sorge. Es komme auf den langfristigen Trend und das Gesamtbild an, sagte er im Dlf. Es könne auch sein, dass es durch die Lockerungen keinen Anstieg von Neuinfektionen geben werde.

Jonas Schmidt-Chanasit im Gespräch mit Jasper Barenberg |
Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg
Virologe Prof. Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut in Hamburg (privat)
Von den vielen Zahlen der Wissenschaft stand am Dienstag (28.04.2020) wieder einmal die Reproduktionsrate "R" im Mittelpunkt des Interesses, ein Gradmesser für die Ansteckungsgefahr und ein wichtiges Kriterium für politische Entscheidungen. Zunächst war sie auf den höheren Wert von 1,0 taxiert worden, später dann schätzte das Robert-Koch-Institut sie wieder auf 0,9.
"Man sollte diese Zahl nicht überbewerten"
Jasper Barenberg: Jonas Schmidt-Chanasit vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg: War der Anstieg ein Grund für Besorgnis und ist der aktuelle, wieder gesunkene Wert Anlass, sich wieder zu beruhigen?
Jonas Schmidt-Chanasit: Man sollte diese Zahl nicht überbewerten. Das sagt ja das Robert-Koch-Institut auch selbst. Man muss das Gesamtbild vor Augen haben, das heißt die Anzahl der Schwererkrankten und auch die Kapazitäten in den Krankenhäusern. Diese Reproduktionszahl ist eine wichtige Kennzahl, die aber eine gewisse Schwankungsbreite hat. Da kommen viele Variablen hinzu, die dort eine Rolle spielen und genau diese Schwankungsbreite zum Ausdruck bringen. Insofern: Ob das jetzt 0,9, 1,0 oder 0,8 ist, das liegt im Rahmen der Schwankung. Wenn wir über mehrere Tage jedoch einen Trend sehen, der nach oben geht, dann wäre das schon ein Hinweis, etwas an den Maßnahmen zu ändern.
"Es kommt es auf den langfristigen Trend an"
Barenberg: Nun haben ja manche von uns vielleicht noch die Kanzlerin im Ohr, Angela Merkel, die gesagt hat, auch nur ein geringer Anstieg über 1,0 sei schon ein Alarmzeichen, weil es signalisieren würde, dass man in relativ kurzer Zeitspanne an die Kapazitätsgrenzen gerade im Gesundheitswesen kommen kann. Sie hat, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, damals von 1,2 oder 1,3 gesprochen. So viele Schwankungen können wir uns aber nicht erlauben bei dieser Zahl. Ist das richtig?
Schmidt-Chanasit: Richtig, ein Alarmzeichen ist es, und wenn dieses Alarmzeichen mehrere Tage in Folge ein Alarmzeichen ist, dann, denke ich, ist es auch Zeit zu handeln und entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Aber wie gesagt: Bitte immer beachten, dass das nach oben und unten Ausschläge geben kann, und bei einem einmaligen Wert von 1,1, denke ich, bleibt abzuwarten, ob sich das dann auch in den nächsten Tagen so bestätigen wird. Wie gesagt: Hier kommt es wirklich auch auf den langfristigen Trend an.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Barenberg: Wir haben uns ja alle daran gewöhnt, zuerst vor ein paar Wochen haben wir alle auf die Verdoppelungszahl geschaut, die Zahl, die definiert hat, wie schnell sich die Zahl der registrierten Infizierten verdoppelt hat. Jetzt schauen wir schon eine ganze Weile auf diese Reproduktionszahl "R". Sie haben gesagt, ein wichtiger Faktor, aber nicht der alleinige, man muss das Gesamtbild im Auge haben.
Schmidt-Chanasit: Ja.
Barenberg: Welche anderen Kriterien vor allem sind denn die, die wir im Blick behalten müssen?
Schmidt-Chanasit: Sie haben ja schon wichtige genannt. Das heißt ja nicht, dass diese unwichtig geworden sind. Die Verdoppelungszeit nicht nur der Neuinfektionen, sondern auch der Sterbefälle, insbesondere auch die Anzahl der Erkrankten, die neu schwer und kritisch krank sind, und natürlich auch die Kapazitäten auf den Intensivstationen, die ja sehr, sehr gut jetzt deutschlandweit erfasst werden. Das sind wichtige Kennzahlen, die hier für das Gesamtbild doch entscheidend sind und dann auch zur Bewertung der Gesamtlage führen.
"Bei der Gesamtlage gab es keine dramatischen Änderungen"
Barenberg: Und wie bewerten Sie diese Gesamtlage, Stand heute?
Schmidt-Chanasit: Nach wie vor so, wie sie auch in den letzten Tagen gewesen ist. Da gab es jetzt keine dramatischen Änderungen. Wie gesagt: Wir dürfen hier auch nicht immer den einzelnen Tag sehen, sondern den Trend, quasi die Werte von mehreren Tagen in der Zusammenschau, und wenn sich dort eine Umkehr abzeichnet, was die Neuinfektionen betrifft, die Reproduktionszahl oder auch die Belastung der Intensivstationen, dann ist es natürlich Zeit, darüber nachzudenken, ob man letztendlich weitere Lockerungen zulässt, oder ob man sogar bestimmte Maßnahmen oder Lockerungen rückgängig machen muss.
Barenberg: Wenn wir über die reine Lehre der Virologen sprechen könnten, hieße die dann, keinerlei Lockerung, das wäre mit Blick auf die Ausbreitung des Virus auf den Verlauf der Pandemie im Grunde die beste Lösung?
Schmidt-Chanasit: Nein, das ist jetzt zu flach und auch zu einfach. Es gibt auch nicht die reine Lehre der Virologen. Ich habe das auch nie so gesehen. Das ist ein komplexes Zusammenspiel, für das es keine Blaupause gibt. Das muss man jedes Mal betonen. Wer sagt, das und das hätten wir machen sollen und dann wäre das so gekommen, das kann man nicht ernst nehmen. Sie müssen sich das vorstellen: Wenn ich jetzt sage, wir trinken Montag alle zusammen gleichzeitig eine Tasse Tee und dann ist Corona verschwunden, dann kann auch niemand das Gegenteil beweisen. Das geht in diese gleiche Richtung. Sie sehen schon: Die Strategie, die jetzt gewählt wurde, sich langsam voranzutasten, zu schauen, was sind die Auswirkungen, das ist das einzige, was man machen kann, weil wir auch gar nicht wissen, was der Effekt dieser Lockerungen sein wird. Er kann nämlich sein, dass es gar keinen Anstieg der Neuinfektionen gibt oder keinen Anstieg der Reproduktionszahl, sondern dass ein entscheidender Faktor gerade Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen zum Beispiel gewesen sind. Das werden wir in der nächsten Zeit erfahren müssen und wir müssen uns jetzt einfach vorantasten. Das betrifft genauso die Schulen und die Kitas. Das kann genauso sein, dass wir jetzt feststellen, die Schulen und die Kitas, die Kinder führen nicht dazu, dass es hier einen dramatischen Anstieg dieser Infektion gibt in Deutschland.
"Abstand halten, Hygieneregeln, wenn ich krank bin, zuhause bleiben"
Barenberg: Darum geht es ja in der Abwägung, in der schwierigen, die Politikerinnen und Politiker gerade vornehmen müssen und in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen vornehmen müssen. Da geht es um Schülerinnen und Schüler, um die Kitas, um Gottesdienste und natürlich weiter um Unternehmen und einzelne Geschäfte. Welchen Rat können Sie denn geben? Wie sollen die entscheiden und abwägen, was jetzt Priorität hat und was noch ein bisschen warten kann?
Schmidt-Chanasit: Ich glaube, das was wir wirklich in den letzten Monaten gelernt haben ist, dass die Verhaltensregeln, die wir uns angeeignet haben, das entscheidende Mittel im Kampf gegen Corona sind. Das heißt: Abstand halten, Hygieneregeln, wenn ich krank bin, zuhause bleiben. Das ist ein ganz entscheidender Faktor, der sich auch lange durchhalten lässt, weil es geht ja hier um das Leben mit Corona. Das heißt, wir müssen mit dem Virus jetzt eine ganze Zeit leben, mehrere Monate sicherlich, bis weit in das nächste Jahr hinein, und insofern sind solche Verhaltensregeln, die jetzt auch keinen massiv einschränken, weil das bedeutet ja nicht automatisch, dass ich keinen Laden aufmachen kann, wenn ich den Abstand halten kann, und bestimmte Hygieneregeln auch berücksichtige. Insofern, denke ich, ist das doch eine positive Nachricht dass wir eigentlich mit so einer einfachen Verhaltensweise sehr viel bewirken können und uns daran orientieren und dann auch entsprechend Maßnahmen umsetzen können, die zu einer weiteren Lockerung führen können.
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"Nur die App alleine bringt uns nicht weiter"
Barenberg: In ein paar Wochen könnte noch ein weiteres technisches Instrument, ein technologisches dazukommen: eine sogenannte Tracing-App könnte zur Verfügung stehen. Da laufen die Arbeiten gerade unter Hochdruck. Eine App, mit der Infektionsketten besser nachvollzogen werden können. Dann können Kontaktpersonen gewarnt werden und so kann man, so ist die Hoffnung, die Ausbreitung des Virus ein Stück weit besser vermeiden. Welche Rolle kann in dem Leben mit Corona, mit der Pandemie, das Sie angesprochen haben, welche Rolle kann da eine solche App in den nächsten Monaten spielen?
Schmidt-Chanasit: Ja, Sie haben das schon richtig gesagt. Das ist die Hoffnung. Es ist auch nur die Hoffnung. Wir müssen gucken, ob sich diese Hoffnung bewahrheitet, weil es sind viele Faktoren, die da eine Rolle spielen, wie viele Menschen dort mitmachen, letztendlich sich beteiligen, und ob man das dann auch so genau aufschlüsseln kann und auch Risikokontakte identifizieren kann, die dann auch getestet werden können, um so Infektionsketten quasi abzubrechen. Dazu gehört natürlich dann auch eine verstärkte Testung. Sie sehen schon: Hier müssen viele kleine Rädchen ineinandergreifen. Nur die App alleine natürlich bringt uns nicht weiter. Das muss komplex mit den Gesundheitsämtern, die dann auch die Nachverfolgung machen, mit weiteren Testungen, Laborkapazitäten einhergehen, und dann kann das ein hilfreiches kleines Puzzle-Teil sein. Ich warne immer hier davor, dass eine Überbewertung stattfindet, ähnlich wie mit den Masken. Das sind kleine Hilfsmittel, die in bestimmten Situationen hilfreich sein können, und genauso verhält es sich mit der App und wir müssen abwarten, wie groß dieser Effekt dann letztendlich auch sein wird. Auch das kann niemand vorhersagen.
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