Langhaarig, headbangend und sich selbst die Zähne ziehend machten Scott Ian und seine Band Anthrax 1985 im Video zu ihrem Trash-Metal-Hit "Madhouse" eine Psychiatrie zum Tollhaus. Es folgten indizierte Alben, Millionenverkäufe und Crossover-Scheiben wie mit Public Enemy. Heute, 20 Jahre später, trägt Ian Glatze und einen grauen Kinnbart und macht einen ziemlich entspannten Eindruck, als er sich mit ein paar Fans zu einem Meet'n'Greet an einer Bochumer Imbissbude trifft.
Bereitwillig beantwortet Ian Fragen nach der Gesundheit seines Schwiegervaters Meat Loaf oder seiner zu Ende gehenden Solo-Europa-Tournee. Im Gepäck hat er jedoch keine Gitarre, sondern Geschichten. Zwei Stunden später erzählt er auf einer kleinen Bühne von seinem ersten Europa-Besuch, 1984, als er selbst noch Fan und unbekannt war. Dezent lugt ein Motörhead-T-Shirt mit Lemmy unter seiner Jacke hervor ...
"Also gingen wir in diese Spelunke in London und die erste Person, die ich sehe, ist gleich mein Idol: Ich bin 21, meine Band hat nix zustande gebracht und da sitzt Lemmy an der Bar und raucht... Meine Freunde sagen zu mir, dass er es cool nimmt, wenn ich ein Foto mit ihm machen will und irgendwann geb ich mir einen Ruck. Also sprech ich ihn an und hab dabei die Hosen so voll, wie ein Teenie: Hi Lemmy, ich bin wirklich der größte Mötorhead-Fan der Welt, sag ich, weil mir nix anderes einfällt. Willst du einen Drink? – Nein, das ist meine Stadt und ich lade dich zu einem Drink ein, antwortet er: Was willst du? - Verdammt, warum hab ich daran nicht gedacht?, denke ich: Ich hab noch nie Whiskey getrunken..."
Unterhalten statt Erkenntnisse vermitteln
Bei solchen Storys merkt man, was Ian, der heute mit Lemmy befreundet ist, während 35 Jahren Heavy Metal gelernt hat: Selbstironie, allerdings ohne die Liebe zur Musik damit zu verraten. Seine Erzählungen auf der Bühne sind weder politisch, noch hintergründig, doch dafür portraitieren sie mit vielen Details eine Szene, der es zwar an großtuerischen Biografien kaum mangelt, dafür aber an Humor und Lebensnähe.
"Ich war früher sehr politisch, doch wenn nicht mal Bono die Welt retten kann, wie soll ich das dann schaffen - sorry, das war sarkastisch. Ich denke einfach, wenn ich etwas erzähle, ist es das Beste ehrlich zu sein. Das Publikum bekommt so einfach einen ehrlichen Einblick in die Szene. Ich hab keine Angst, mich dabei lächerlich zu machen. Auch das gehört zum Leben, und alles, was ich erzähle, hab ich auch erlebt. Ich bin übrigens froh, mich noch an all diese verrückten Geschichten erinnern zu können. Ich hab viele Freunde in anderen Bands, die können sich an gar nichts mehr erinnern..."
Ians aus dem Leben gegriffene Speaking-Words - die er selber übrigens als Swearing Words beziehungsweise Schimpfwörter bezeichnet - wirken auch vielleicht deshalb so ehrlich, weil er damit lieber unterhalten, statt Erkenntnisse vermitteln will. Egal, ob es eine Anekdote über Fans ist, die ihn mit Musikern aus anderen Bands verwechseln, oder Storys über seinen 2004 verstorbenen besten Kumpel, den Panthera-Gitarristen Dime¬¬bag Darrel - Ian wirkt dabei fast immer wie ein geborener Erzähler, der die Auf¬merksamkeit des Publikums im Nu gewinnt, auch, ohne dass man dafür Metal-Fan sein muss. Fragt man nach, hat er seine erzählerischen Fähigkeiten jedoch eher bei Zufallsauftritten entdeckt:
"Ein paar Freunde von mir sind Stand-up-Comedians und ich konnte in L.A. zehn Minuten in einer Show auftreten. Das Publikum wusste nicht mal, wer ich bin und ich war so nervös, dass mir die Hände gezittert haben. Doch als die Leute nach zwei Minuten lachten, ging es alles wie von selbst. Das war etwas, was mich sehr inspiriert hat, aus meinen Erlebnissen witzige Geschichten zu machen. Ich mag am liebsten die über meinen alten Freund Darrel von "Panthera" rede. Sie sind so lustig, dass darin die Zeit mit ihm damals wieder ein Stück weit lebendig wird und ich mich ihm nahe fühle."
In Würde gealtert
"Das Telefon klingelt - Hey Glatzkopf, ich bin's wieder, Darrel. Hier ist ein Typ bei mir im Haus, der ist so auf Cocaine, dass er meine Ziege um den Swimmingpool jagt- Darrel hatte eine Ziege als Haustier, ich musst lachen, als ich das hörte. Das ist nicht lustig, du Idiot, sagt er am Telefon - wenn die Ziege in den Pool fällt, muss ich hinterherspringen und mit ihre kämpfen, um sie rauszuholen."
Scott Ian redet an diesem Abend über zwei Stunden. Und nach einer Fragerunde mit dem Publikum lädt er es zum Weiterreden an die Bar ein. Ob Heavy Metal tot ist oder nicht, interessiert wenigstens hier danach niemanden mehr. Über 50 Jahre alt, hat Ian eine gute Möglichkeit entdeckt, wie man auch als Thrash-Metal-Rocker in Würde altern kann.