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Anthropologie
Der Mensch, ein Tier

Wie viel Tier steckt im Menschen? Ist der Mensch ein Tier? Folgt man Charles Darwin, so ist der Unterschied zwischen Tier und Mensch nur graduell, nicht grundsätzlich. Doch daran entzünden sich auch heute noch Diskussionen. An der anthroposophisch ausgerichteten Universität Witten-Herdecke fand dazu ein Kolloquium statt.

Von Carsten Schroeder | 19.03.2015
    Ein Berggorilla im kongolesischen Urwald
    Die menschliche Fähigkeit zur Abstraktion fehlt den Tieren. Dies ist für Peter Heusser, Professor für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin an der Universität Witten-Herdecke, der wichtigste Unterschied zum Menschen. (picture alliance / Mika Schmidt)
    Statt sich auf die Suche nach dem Tier im Menschen zu begeben, kann man die Perspektive auch umdrehen, und nach dem Menschlichen im Tier suchen. Vieles, was man dem Menschen zuschreibt, tauche auch beim Tier auf, meint Dr. Bernd Rosslenbroich vom Institut für Evolutionsbiologie der Universität Witten-Herdecke:
    "Diese hohe Empfindsamkeit, Emotionalität, sogar gewisse Flexibilität im Verhalten, Lernverhalten, unter den höheren Primaten dann Imitationsmöglichkeiten, Werkzeuggebrauch, dass alles was der Mensch ganz umfangreich zur Verfügung hat, eben schon in Anklängen bei den Tieren da ist, und wir vielleicht gerade dadurch diese enge Verbindung zu den Tieren erleben können. Und dass wir, wenn wir das ernst nehmen, eigentlich noch einmal einen neuen Blick auf die Tiere werfen können, wir müssen sagen, wie viel Menschlichkeit in diesem Sinne schon bei den Tieren da ist."
    Lernfähigkeiten von Tieren
    Es sind nicht nur die verblüffenden Lernfähigkeiten von Tieren und ihr Problemlösungsverhalten, die Rosslenbroich faszinieren, er beobachtet darüber hinaus etwas, was man eigentlich dem Menschen zuschreibt, nämlich Tradition:
    "Ja, die gibt es. Die hat man vor allem unter den höheren Tieren beschreiben können, also da wo Lernverhalten eine Rolle spielt."
    Das ist schon beim Gesang der Vögel so. Den Buchfinken zum Beispiel ist ihr Trällern nicht einfach angeboren, sondern sie müssen es als Jungtiere lernen, indem sie andere imitieren. Dabei kann es zu Unterschieden kommen:
    "Also die Buchfinken hier in der Gegend machen den Schlussschnörkel, der nicht angeboren ist, anders als in einer anderen Gegend, und es kann einem schon passieren, dass wenn man in den Schwarzwald fährt, einen Buchfink erst einmal nicht erkennt, weil der Schlussschnörkel völlig anders klingt. Und da bilden sich Traditionen. Und da gibt's dann Vögel, die noch viel mehr auch untereinander imitieren, sogar fremde Geräusche imitieren, und das wird untereinander weitergegeben, und da entstehen sehr starke Traditionen dann."
    Der Schritt von einer Tradition zu einer eigenen Kultur ist dann nicht mehr allzu groß. Bei Singvögeln wird man vermutlich noch vergeblich danach suchen, bei den Primaten sieht das ganz anders aus.
    "Ja, Affen haben auf jeden Fall eine Kultur, aber die Kultur, die die Affen haben, ist sehr unähnlich dem Menschen, und ist eher ähnlich anderen Kulturen, die wir bei anderen Tieren sehen."
    Kumulative Kultur
    Der Primatologe Claudio Tennie von der Universität Birmingham. Menschen haben eine Kultur, die sich weiterentwickelt und immer komplizierter wird. Tennie nennt das kumulative Kultur.
    "Und das fehlt bei den Menschenaffen. Die Kultur, die die Menschenaffen und andere Tiere haben, die besteht auf einem Level fort."
    So verblüffend vor allem der Werkzeuggebrauch bei Menschenaffen ist, zum Beispiel wenn sie Nüsse knacken, oder - noch vielschichtiger - wenn sie lange Stöckchen als Angeln verwenden, mit denen sie nach Termiten fischen, so kommen die Tiere auch nach Jahrhunderten nicht über diese simplen Techniken hinaus. Nüsse werden mit einem Stein zerkleinert, Termiten mit einem Stöckchen gefischt.
    "Die Affen erfinden im Prinzip das Rad jedes Mal neu. Das Rad in diesem Fall kann alles möglich sein, kann Nussknacken sein, kann Termitenfischen sein, solche Verhaltensweisen. Und hier ist der Unterschied zur menschlichen Kultur: Die menschliche Kultur hat sich inzwischen soweit fortentwickelt, dass wir Dinge machen und produzieren, die ein einzelner nicht mehr erfinden könnte, wenn er das nicht bei anderen abgucken könnte."
    Unterschied graduell und prinzipiell
    Die menschliche Fähigkeit zur Abstraktion fehlt den Tieren. Dies ist für Peter Heusser, Professor für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin an der Universität Witten-Herdecke, der wichtigste Unterschied zum Menschen. Anders als Charles Darwin, der den Unterschied zwischen Tier und Mensch nur als graduell, aber nicht als grundsätzlich bezeichnet hat, sieht er den Unterschied graduell und prinzipiell:
    "Ja, weil nur der Mensch die Möglichkeit hat, sich zum Beispiel Mathematik zu denken und logische Urteile zu fällen, wogegen das Tier eigentlich nur Vorstellungen haben kann, die sich auf konkrete Sinneswahrnehmungen beziehen. Also das Tier kann gar nicht aus einem Erleben herauskommen, wo es nicht etwas Konkretes, Sinnliches aktuell erlebt. Der Mensch dagegen kann sich darüber erheben, kann sich Dinge ausdenken, kann Opern konzipieren, usw. Das kann das Tier nicht."
    Und zum Unterschied zwischen Tier und Mensch ergänzt der Evolutionsbiologe Bernd Rosslenbroich:
    "Ein Problem ist, dass wir immer eine Entweder-oder-Antwort haben wollen. Ist er jetzt unterschiedlich oder nicht? Und da kneife ich. Ich würde sagen, er ist unterschiedlich, und er ist doch nicht unterschiedlich. Also es gilt sowohl als auch. Es gilt Darwins gradueller Unterschied, der Unterschied ist graduell, das war ja Darwins Statement, das stimmt, aber das wird in einem solchen Umfang ausgebildet, dass wir eben eine prinzipiell andere Möglichkeit an Flexibilität bekommen, wenn man einfach mal die Hände als Beispiel nimmt. Was ein Schimpanse beim Termitenpulen macht, ist schon beeindruckend, aber was dann ein Pianist tut, ist eben doch eine andere Qualität."
    Tiere teilweise dem Menschen überlegen
    Dafür sind Tiere dem Menschen in vielen anderen Gebieten überlegen, sei es in ihrer Kraft, Schnelligkeit oder der Empfindlichkeit ihrer Sinne. Vor allem über eine Fähigkeit verfügen sie: Sie konzentrieren sich unmittelbar auf die Gegenwart und richten ihre Aufmerksamkeit allein auf das, was sie gerade hören oder sehen.
    Diese Stärke ist aber zugleich eine Schwäche: Die Tiere sind daran wie gefesselt. Der Mensch dagegen kann in seinen Gedanken abdriften.
    "Ein Mensch kann sich zum Beispiel in einen Lehnstuhl setzen und einen Roman zu schreiben beginnen. Das Tier könnte das nicht, weil es immer in dem lebt, was unmittelbar darum herum ist. Das muss die Blumen anschauen, die Bienen und so fort. Das kann gar nicht über irgendetwas nachdenken, was nicht in dieser unmittelbaren sinnlichen Umgebung ist."