Die Diskussion um das Anthropozän ist in vielerlei Hinsicht ein Novum. So stehen wohl zum ersten Mal Stratigraphen im Mittelpunkt einer großen, gesellschaftlichen Diskussion. Stratigraphen sind Forscher, die das Rückgrat der Geologie definieren: die Zeitskala. Sie ordnen Gesteine anhand von Fossilien und anderen Merkmalen in die Erdgeschichte ein. Denn aus Gesteinen lässt sich ablesen, wie sich die Erde und das Leben auf ihr im Lauf von Jahrmillionen entwickelt haben.
Als Wissenschaft entstanden ist die Stratigraphie im späten 18., frühen 19. Jahrhundert. Weil es jedoch schon immer Meere gab, Küsten, Flüsse, Tiefebenen oder Hochgebirge mit unterschiedlichen Lebensräumen, war es schwierig, gleich altes auch als solches zu erkennen. Erst recht, wenn Tausende von Kilometern zwischen zwei Fundstellen liegen. Kein Wunder also, dass die Entwicklung der geologischen Zeitskala mit heftigen Debatten verbunden war, mit wütenden Briefwechseln und erbitterten Fehden unter Geologen.
Stratigraphen sammeln Indizien
Heute werden Veränderungen dieser erdgeschichtlichen Zeitskala von den Gremien der Internationalen Kommission für Stratigraphie diskutiert. Und heftige Diskussion gibt es dabei immer noch. Damit die Kommission Entscheidungen fällen kann, müssen zunächst Daten gesammelt und wissenschaftlich eingeordnet werden. Dann beginnt eine Debatte auf verschiedenen Ebenen bis hin zu einer Entscheidung über die - nach derzeitigem Wissensstand - beste Grenzziehung. Das Anthropozän steht ganz am Anfang dieser langwierigen Diskussionen: Bis 2016 sollen erst einmal Indizien gesammelt werden.
Allerdings ist diesmal einiges anders als sonst: Denn mit dem Anthropozän würde beispielsweise zum ersten Mal eine einzige Art eine geologische Epoche begründen - nämlich der Mensch.---- Neu ist auch, dass die Veränderungen dieser potentiellen Epoche gerade erst begonnen haben. Der Mensch bringt neue Faktoren ins Spiel: Faktoren wie Kultur und Zivilisation, Technologien, Wirtschaft, Krieg und Frieden: Sie alle sind heute Triebfedern der Geologie.
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe gegründet
Lebt die Welt im "Menschenzeitalter" oder nicht? Im Berliner Haus der Kulturen konstituierte sich kürzlich eine internationale Arbeitsgruppe zum Thema Anthropozän, die Antworten auf diese Frage finden soll. Ihr Leiter ist der Geowissenschaftler Jan Zalasiewiecz, der an der englischen Universität Leicester forscht. Im Gespräch mit Ralf Krauter erklärt er die Gründe für die Epochensetzung.
Ralf Krauter: Hat das Anthropozän bereits begonnen?
Jan Zalasiewicz: Ja. Viele Indizien sprechen dafür, dass wir uns geologisch betrachtet bereits im Anthropozän befinden.
Krauter: Was sind das für Spuren, die wir Menschen hinterlassen haben, die künftigen Forschern verraten werden: Hier begann eine neue Ära der Erdgeschichte?
Indizien sprechen für Epoche
Zalasiewicz: Die Menschheit hat eine Reihe physikalischer, chemischer und geologischer Spuren hinterlassen, die in den Gesteinsschichten der Erde über lange Zeiträume erhalten bleiben werden. Auf physikalischer Ebene wären da zum Beispiel die massiven Eingriffe in die Landschaft in den vergangenen 100 Jahren. Denken Sie an all die einst unberührten Flächen, die dem Bau von Städten zum Opfer fielen oder heute für die Landwirtschaft genutzt werden. Was die Chemie angeht: Weil wir große Mengen CO2 und anderer Schadstoffe freigesetzt haben, hat sich die Zusammensetzung der Luft und der Weltmeere messbar verändert. Und was die Biologie betrifft: Wir verändern die Natur von Tieren und Pflanzen weltweit, etwa indem wir dem Artensterben Vorschub leisten und invasiven Spezies den Weg bereiten, die es heute auf jedem Kontinent und in jedem Ozean gibt.
Krauter: Nimmt man all diese Indizien zusammen, scheint klar: Das Anthropozän hat schon begonnen. Das interessante an der aktuellen Debatte ist ja: Früher hätten Geologen und Paläobiologen einfach allein über den Start eines neuen Erdzeitalters entschieden. In der Anthropozän-Arbeitsgruppe, die Sie leiten, sind jetzt aber auch Historiker, Soziologen und Vertreter anderer Disziplinen dabei. Wieviel schwerer wird es dadurch, sich einig zu werden?
Zalasiewicz: Natürlich macht das die Sache komplizierter. Aber wir brauchen Forscher ganz unterschiedlicher Disziplinen, auch aus den Geisteswissenschaften, weil wir uns sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Gegenwart und der Zukunft befassen. Wir untersuchen den Kontext des bisherigen Wandels. Und wir analysieren wie sich aktuelle Entwicklungen künftig geologisch manifestieren werden. Dazu benötigen wir Fachleute, die untersuchen, wie sich die Erde heutzutage verändert. Und weil wir Menschen der stärkste Motor dieses Wandels sind, brauchen wir auch Experten, die sich mit der Geschichte des Menschen und seiner Aktivitäten befassen. Es geht also nicht nur um die Frage, welche Spuren unserer Zivilisation künftig in Erdschichten zu finden sein werden. Es geht um verzwicktere Fragestellungen.
Krauter: In Berlin gab es kürzlich ein erstes Treffen der Anthropozän-Arbeitsgruppe. Was waren die wichtigsten Themen und worüber wurde am kontroversesten diskutiert?
Streitpunkt Epochenbeginn
Zalasiewicz: Die Hauptfrage war natürlich: Ist das Anthropozän real? Und die einhellige Meinung der Experten war: Ja. Wir haben es wirklich mit einem realen geologischen Phänomen zu tun, dessen Spuren noch in ferner Zukunft im Erdboden zu finden sein werden. Ob man diesem Phänomen ein eigenes Zeitalter der Erdgeschichte zuordnen muss, ist eine andere Frage. Wir kamen überein, dass es sehr gute Gründe dafür gibt und dass wir darauf hin arbeiten wollen. Das Votum war nicht einstimmig, aber es gab eine klare Mehrheit. Ein sehr strittiger Punkt war allerdings die Frage, wann das Anthropozän begonnen hat. Schon vor Tausenden von Jahren oder erst mit der industriellen Revolution? Oder sogar erst Mitte des 20. Jahrhunderts? Am Ende favorisierten die meisten die letzte Option, weil es um 1950 eine Reihe signifikanter Marker für das Anthropozän gibt.
Krauter: Welche Marker sind das?
Zalasiewicz: Einer ist der Beginn des Nuklearzeitalters. Mit den Atombombentest in den 1950er und 60er Jahren wurden künstliche Radionuklide rund um den Globus verteilt - Stoffe wie Plutonium, das natürlich nicht vorkommt. Durch das Verfeuern fossiler Brennstoffe hat sich zeitgleich das Verhältnis von Kohlenstoffisotopen verändert. Auch das ist weltweit messbar. Und auch auf biologischer Ebene gab es seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine Reihe beschleunigter Entwicklungen.
Krauter: Geht es bei der Debatte um das Anthropozän primär um die Wissenschaft? Oder ist das eigentliche Ziel, Politikern und der Bevölkerung die Augen zu öffnen, wie stark der Mensch das Ökosystem Erde bereits verändert hat?
Veränderungen so fundamental, dass sich genaues Studium lohnt
Zalasiewicz: Unser Fokus ist die Wissenschaft. Wir wollen uns die Spuren des Wandels anschauen und sie mit jenen Markern vergleichen, die in der Vergangenheit mit großen Veränderungen einhergingen. Die grundlegenden Erkenntnisse, die wir dadurch über Umbrüche in der Erdgeschichte gewinnen, haben natürlich auch eine Reihe gesellschaftlicher Implikationen, über die wir uns mit Fachleuten austauschen. Aber unser Hauptziel ist, das Anthropozän geologisch zu analysieren.
Krauter: Wie drängend ist das Problem, an dem Sie arbeiten, wirklich? Wäre es nicht viel schlauer, einfach 1000 Jahre zu warten und künftigen Forschern die Entscheidung zu überlassen, ob und wann das Anthropozän begonnen hat.?
Zalasiewicz: In 1000 Jahren werden Forscher das Anthropozän sicher mit anderen Augen sehen, das ist klar. Aber die Veränderungen, die wir jetzt bereits sehen, sind so fundamental, dass es das Phänomen verdient, schon heute genau studiert zu werden. Denn es verrät uns etwas über die Natur des Wandels - und liefert uns Einblicke in die Vergangenheit und in die Zukunft.
Krauter: Die Internationale Kommission für Stratigraphie will 2016 entscheiden, ob es der Begriff Anthropozän in die Lehrbücher schaffen wird oder nicht. Was tippen Sie, wie's ausgehen wird?
Zalasiewicz: Das Ergebnis der Abstimmung ist sehr schwer vorherzusagen. Wir wissen: Es gibt Leute, die unterstützen unseren Vorstoß. Aber es gibt auch Kritiker, die sagen: Lasst uns warten, bis die Veränderungen noch massiver geworden sind. Alles was wir tun können, ist unsere wissenschaftlichen Analysen so sorgfältig wie möglich zu machen.