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Anti-Aggressionstraining für Rettungskräfte
Immer die Ruhe bewahren

Sanitäter wissen bei einem Einsatz selten, was sie vor Ort erwartet. Doch was tun, wenn der Notfallpatient die Helfer aggressiv attackiert oder die Hilfe verweigert? In Hannover lernen angehende Rettungskräfte, wie sie auf aggressive Notfallpatienten reagieren können. Die erste Lektion: Ruhe bewahren.

Von Alexander Budde |
    Ein Notarztwagen der Feuerwehr fährt in Berlin im Stadtteil Steglitz am 12.11.2016 mit Blaulicht zu einem Brand.
    Sanitäter werden häufiger verbal als körperlich angegriffen. Doch auch das kann zu Krisensituationen führen (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    "Mann, es war so klar, dass das schon wieder passiert! Wieso musst du immer so viel trinken, was ist eigentlich Dein Scheißproblem? Jetzt hör auf zu stöhnen, und mach endlich mal was!" - "Lass mich in Ruhe!" - "Ich hab den Rettungsdienst gerufen, die kommen gleich. Und du sitzt hier schon wieder wie so ein Besoffener, es reicht!"
    Unklarer Notfall nach häuslicher Streitigkeit. Nun stehen Ben Knop und seine Kollegin, beide Auszubildende im dritten Lehrjahr, vor der Tür. Die nächsten Schritte sollten wohl überlegt sein. Professionelles Auftreten und gutes Einfühlungsvermögen können nämlich mit dazu beitragen, dass ihr Einsatz nicht aus dem Ruder läuft.
    "Guten Tag, der Rettungsdienst! Knop mein Name! Wo sollen wir denn einmal hin?" - "Das ist mein fast-Ex-Mann, der schon wieder total besoffen ist!" - "Gut, dann würde ich vorschlagen, dass wir uns einmal ein bisschen beruhigen."
    An der Johanniter-Akademie in Hannover werden im Rollenspiel alltägliche Einsatzsituationen simuliert: Müll und Chaos wohin das geschulte Auge blickt - auch die leeren Schnapsflaschen und das blutbesudelte Handtuch auf dem Couchtisch sind Warnsignale.
    Knop widmet sich dem Patienten, der mit einer Platzwunde am Kopf auf dem Sofa liegt. Unterdessen lotst seine Kollegin die keifende Ehefrau in die Küche nebenan. Im Team sind die Rollen verteilt, die angehenden Notfallsanitäter arbeiten konzentriert, sie sichern sich gegenseitig, tauschen wertvolle Informationen aus.
    "Das Ganze ist so ein bisschen eskaliert zwischen dem Ehemann und der Ehefrau." - "Anscheinend gab es da Auseinandersetzungen auch mit körperlicher Gewalt." - "Frau Müller, ganz kurz." - "Fassen Sie mich bitte nicht an!" - "Das ist für uns gar nicht relevant, wie das genau passiert ist. Aus unserer medizinischen Sicht wäre es schon ratsam: Wir sollten ihren Mann schon mit einmal ins Krankenhaus nehmen. Das sieht aus, als müsste das genäht werden!"
    Deeskalieren statt provozieren
    Alexander Stötefalke hat das Rollenspiel aus der Kulisse heraus beobachtet. Der erfahrene Notfallsanitäter mit Bachelor in Psychologie, ist bei der anschließenden Manöverkritik voll des Lobes:
    "Okay! Gut gefallen hat mir, dass ihr die Kontrahenten, also das streitende Paar, getrennt habt, dass die Kollegin versucht hat, ihr die Möglichkeit zu geben, ihren Ärger abzuladen. Und das ist auch das richtige Verhalten in der Situation gewesen: aufklären, einbinden, vor Störungsquellen abschirmen!"
    Laut einer Studie der Ruhr-Uni-Bochum sind Zeit und Ort bei Gewalterfahrungen von Rettungskräften entscheidende Faktoren: Im Kneipenviertel einer Stadt passiert zur nächtlichen Stunde mehr als tagsüber im Villen-Vorort.
    Die Täter sind überwiegend männlich, jünger, alkoholisiert. Zahlen und praktische Erfahrung zeigen aber auch: Während verbale Gewalt beinahe schon ein alltägliches Phänomen ist, wird tätliche Gewalt bis hin zur Körperverletzung als seltene Ausnahme registriert.
    Was aber tun, wenn Patienten oder ihre Angehörigen wie von Sinnen schubsen und spucken, beißen oder kratzen? Von Selbstverteidigung im Rettungsdienst hält Fachlehrer Stötefalke wenig:
    "Als allerletzten Punkt sprechen wir auch darüber, wie wehre ich Angriffe ab – aber immer unter der Maßgabe, es sind Patienten, es sind Menschen in Krisensituationen. Es geht nicht darum, eine Nahkampf-Situation erfolgreich zu bewältigen, sondern Menschen, die jenseits ihrer Handlungsfähigkeit stehen, und das mit Aggressivität versuchen zu kompensieren, wieder vor sich selber und mich auch und den Kollegen auch zu schützen."
    Die Ausbildungs-Routine ist hilfreich, sagt Maris Ratz, die im Rollenspiel die zeternde Angehörige spielt. Einen kühlen Kopf bewahren muss sie auch bei Alarmfahrten. Sie hat oft das Gefühl, dass die Menschen wenig Rücksicht auf Einsatzkräfte nehmen und im Stress, aggressiv reagieren:
    "Ich muss schon sagen, dass man im Einsatzauto manchmal schon so kleine Ausraster kriegt, weil es wirklich schon so ist, wie es dargestellt wird: Es bilden so wenig Leute eine Rettungsgasse, und es kommt auch nicht selten vor, dass man einen Vogel gezeigt kriegt, wenn man mit dem Rettungswagen durch möchte."
    Kein neues Phänomen
    So wie Maris Ratz können viele der Rettungskräfte Geschichten erzählen, wie sie bei ihrer Arbeit behindert werden. Aber diese Erfahrungen machen sie schon lange, das ist kein neues Phänomen. Wachsende Aggression gegen Uniformträger, die so zu Prügelknaben einer Gesellschaft werden, die mehr und mehr verroht? Dafür sieht Alexander Stötefalke keine Belege – daher versteht er auch die gegenwärtige Aufregung nicht:
    "Wenn sich eine Polizeidienststelle zum Beispiel in einem sozialen Medium hinstellt und einen langen Text verfasst, dass der Respekt gegenüber den Polizisten immer weniger wird und die Kollegen vom Rettungsdienst auch immer schäbiger behandelt werden, dann erzeugt das viel Aufmerksamkeit. Die Frage, die ich mir dabei stelle: Ist das die Aufmerksamkeit und das Feedback, das wir haben wollen?"
    Aufklären und motivieren statt meckern
    Statt der Öffentlichkeit zu vermitteln, alles werde viel schlimmer, sollte vielmehr Energie darein gelegt werden, die Menschen dafür zu sensibilisieren, wo die größten Probleme liegen. Das sind für den erfahrenen Psychologen nicht die Unfall-Situationen auf den Autobahnen mit Gaffern. Diese seien zwar problematisch, aber:
    "Wir müssen uns von dem Konzept des Gaffers verabschieden! Wir müssen dahingehen, dass wir gucken, wie bringen wir Leute dazu, mitzuarbeiten. Der Autounfall auf der Autobahn ist nicht der Alltag. Der Alltag ist Kontakt mit marginalisierten Menschen und den Milieus, in denen sie leben. Wir sehen, wie die Gesellschaft mit ihren Schwächsten – Obdachlosen, Drogenabhängigen – umgeht. Wir sind da, wo Gesellschaft scheitert."
    Hier müsse viel mehr aufgeklärt werden. Und zwar in einem sachlichen Tonfall: vorwurfsfrei und motivierend.