Mit der Abschaltung der drei letzten Reaktoren am 15. April 2023 geht in Deutschland die Ära der Atomkraftwerke zu Ende - nach etwa 50 Jahren. Die Debatten über Atomkraft haben die deutsche Gesellschaft und unser Verständnis von Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten mitgeprägt. Dabei ging es längst nicht nur um „billige Energie“, sagt der Umwelthistoriker Frank Uekötter. „Da geht es um Rechtstaatlichkeit, da geht es um die Grenzen des legitimen Protestes. Es geht auch darum, dass man sich darüber verständigen konnte, in welcher Gesellschaft man eigentlich leben wollte.“
Wir blicken zurück auf die Ära der Atomenergie in Deutschland – und darauf, wie anhand des Themas gesellschaftliche Debatten geführt und Entwicklungen angestoßen wurden.
Der Beginn der zivilen Nutzung von Atomkraft
Im Dezember 1938 gelingt dem Chemiker Otto Hahn die Kernspaltung von Uran. Die Physikerin Lise Meitner ordnet die Ergebnisse aus dem Labor Otto Hahns ein, beschreibt die Wirkweise physikalisch. Damit beginnt der Start in das Zeitalter der Atomkraft.
Am 6. und 9. August 1945 werfen die USA über den japanischen Großstädten Hiroshima und Nagasaki zwei Atombomben ab. Lise Meitner, Otto Hahn und viele andere Forschende lehnen die Nutzung der Atomenergie für militärische Zwecke ab und setzen sich für eine friedliche, zivile Nutzung der Kernenergie ein. Das Wissen um die Zerstörungskraft, aber auch die Menge an nutzbarer Energie prägen von nun an die Debatte über Atomkraft.
Der erste Nuklearstrom weltweit fließt am 20. Dezember 1951 im US-Bundesstaat Idaho.
In seiner „Atoms for Peace“-Rede am 8.12.1953 wirbt US-Präsident Dwight Eisenhower für die zivile Nutzung von Atomenergie: der Urmoment der zivilen Atomkraftentwicklung, so Umwelthistoriker Frank Uekötter. Eisenhower entwickelt darin die Vision, aus einer schrecklichen Waffe einen Gewinn für die gesamte Menschheit zu machen: eine günstige, reichhaltige Energiequelle. „Die Vereinigten Staaten wissen, dass diese größte aller zerstörerischen Kräfte zu einem großen Segen für die gesamte Menschheit entwickelt werden kann, wenn es gelingt, den beängstigenden Trend der atomaren Aufrüstung umzukehren“, heißt es in Eisenhowers Rede.
Gleichzeitig geben die USA das Versprechen, „dass sie alle Länder dabei unterstützen würden, die sich auf ein ziviles Atomprogramm einließen“, sagt Uekötter. Im Tausch für den Verzicht auf Kernwaffen soll den Staaten bei der friedlichen Nutzung geholfen werden.
Die Begeisterung für Atomenergie in den 50er-Jahren
Atomkraft in der BRD
Mit Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 wird die Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend souverän, gleichzeitig erhält sie das Recht zur zivilen Nuklearforschung und -entwicklung. Im Jahr darauf werden Kernforschungszentren unter anderem in Hamburg, Jülich und Geesthacht errichtet.
Im Oktober 1957 geht der erste Forschungsreaktor Deutschlands - das sogenannte Atom-Ei - in Garching bei München in Betrieb. Zwei Jahre später, 1959, wird das Atomgesetz verkündet: die Rechtsgrundlage für den Bau und Betrieb von Atomkraftwerken.
CDU und SPD stehen weitgehend geschlossen hinter der Atomkraft. „Das ist auch die Hoffnung dieser Zeit, dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt“, heißt es beispielsweise im Godesberger Programm der SPD von 1959.
Die Atomkraft avanciert in den 50er-Jahren zur Zukunftstechnologie par excellence. Wollte man damals als Industriemacht gelten, habe man in diese Technoligie investieren müssen, so Umwelthistoriker Frank Uekötter. Schließlich birgt die neue Technologie das Versprechen von günstiger Energie im Überfluss.
Der Fortschrittsgedanke verfängt damals. Klaus Traube, der vom Spitzenmanager der Atomindustrie zu einem ihrer profiliertesten Gegner wurde, erklärt„Öffentliche Meinung über die Atomenergie wurde hergestellt, zunächst einmal durch Versprechungen, die aus den Reihen der Wissenschaft kamen, vornehmlich der Physik: Wenn wir diese Quelle, die wir entdeckt haben, eben nicht missbräuchlich für Atomwaffen verwenden, sondern für friedliche Zwecke, dann ist das eine große Möglichkeit zur Verbesserung der gesamten Lebensumstände. Und das wurde dankbar aufgenommen von Medien, dann reagieren Politiker darauf.“
Nur die Elektrizitätsunternehmen seien nicht davon überzeugt gewesen, dass die Nuklearenergie „eine wirtschaftliche Sache“ sei, sagt der Experte für die Sicherheit von Atomkraftwerken, Michael Sailer. „Das heißt, der westdeutsche Staat hat damals die Elektrizitätsunternehmen ziemlich stark bedrängt, in den Kauf und in die Produktion von Kernkraftwerken zu gehen.“
Zwar gibt es in den 1950ern und 1960ern bereits erste Proteste gegen den Bau von Forschungsreaktoren. „Auch da gab es Bündnisse, wo man gesagt hat: Man will auch keine Wiederbewaffnung, keine Atombomben hier in Deutschland“, beschreibt Historikerin Astrid Mignon Kirchhof die damalige Situation. „Aber dass der Protest so breitenwirksam ist, das kommt erst in den 70er-Jahren.“ Gesundheitliche Gefahren und Umweltprobleme werden zunächst kaum thematisiert.
Atomkraft in der DDR
Auch in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR wird Atomkraft als Zukunftstechnologie angesehen, die den wachsenden Energiehunger stillen und vor allem die Braunkohle als Energielieferanten ablösen kann.
Bei Aue im Erzgebirge werden Uranvorkommen entdeckt und ab 1947 für die Sowjetunion gefördert – unter höchster Geheimhaltung, ein militärisches Projekt zum Zweck der atomaren Aufrüstung im Kalten Krieg. Auch die zivile Nutzung der Atomenergie wird in der DDR vorangetrieben, Forschungsreaktoren und zwei Atomkraftwerke gebaut.
„Die Atomwirtschaft der DDR konnte sich alles rausnehmen. Sie konnte alles Mögliche versprechen, weil sie genau wusste: Es gibt keine andere Alternative zu Braunkohle. Es gab keine Öffentlichkeit, keine Korrekturmechanismen“, beschreibt der Umwelthistoriker Frank Uekötter die Situation.
Die Anfänge der Anti-Atomkraft-Bewegung
Anfang der 1970er gewinnt Atomenergie im Zuge der Ölkrise zunächst weiter an Bedeutung. Mit Biblis geht 1975 das weltweit erstes Atomkraftwerk, das mehr als 1.000 Mega-Watt Nennleistung hat, ans Netz. Doch mit dem Bau der Atomkraftwerke wird zunehmend deutlich, wie kompliziert, störanfällig, auch wie teuer Atomkraft in Wirklichkeit ist. Ein Brand im US-Kernkraftwerk Browns Ferry 1975 und die teilweise Kernschmelze in Harrisburg (USA) 1979 führt zu immer höheren Ansprüchen beim Bau und eine zunehmend kritischen Öffentlichkeit. Hatten Mahner zunächst kaum Gehör gefunden, erstarkt der Widerstand mit jedem Neubauprojekt. Es formieren sich Bürgerinitiativen gegen Atomkraft.
Erfolgreiche Proteste in Whyl
1975 protestieren Bauern und Bewohner des Winzerstädtchens Whyl gegen den Bau eines Atomkraftwerks. Unterstützt werden sie durch jüngere Leute aus den Städten. Ein Protest, bei dem „dann langhaarige Hippie-Studenten mit Bäuerinnen in Schürze auf einmal zu politisieren anfangen und in dieser einen Sache an einem Strang ziehen“, beschreibt die Historikerin Astrid Mignon Kirchhof. Es ist der erste große Erfolg der Anti-AKW-Bewegung: Das geplante Atomkraftwerk wird nicht gebaut.
Gewaltsame Auseinandersetzungen in Brokdorf
Waren die Proteste in Whyl weitgehend friedlich, ändert sich das 1976 bei der sogenannte Schlacht um Brokdorf. Etwa 30.000 Menschen demonstrieren gegen den bereits begonnenen Bau eines Atomkraftwerks in Norddeutschland. Eine bunte Truppe aus Landwirten, Naturschützern, Studierenden, politisch Bewegten, Wissenschaftlern, Juristen. Es kommt zu Ausschreitungen, bei denen Hunderte Demonstrierende verletzt werden.
Als sich 1981 erneut Proteste in Brokdorf ankündigen, wird ein Demonstrationsverbot verhängt. Trotzdem kommen etwa 100.000 Menschen zusammen, die bisher größte Anti-AKW-Demonstration in Deutschland. Die Demonstranten werfen Steine und Molotow-Cocktails, die Polizei setzt Wasserwerfer, Hubschrauber und Tränengas ein.
Später entscheidet das Bundesverfassungsgericht, dass das Demonstrationsverbot unzulässig war. Ein Teilerfolg für die AKW-Gegner und eine Stärkung der Versammlungsfreiheit: „Die Anti-Atomkraftbewegung lernt sehr schnell: Man kann mit Worten wirklich etwas erreichen, vor Gericht, in medialen Debatten“, bilanziert Umwelthistoriker Frank Uekötter.
Jahrelange Proteste in Gorleben
Bei den Protesten in Gorleben 1979 ziehen knapp 100.000 Demonstrierende, begleitet von zahlreichen Treckern, nach Hannover. Sie erreichen, dass die Pläne für eine atomare Wiederaufbereitungsanlage aufgegeben werden. Der Bau eines Zwischenlagers beginnt trotzdem 1982 in Gorleben. Der Protest im Wendland bleibt über Jahre aktiv, überträgt sich von einer Generation auf die nächste – diese Beständigkeit ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg, stellt Frank Uekötter fest.
2013 beschließt der Bundestag einen Neustart für die Endlagersuche. Die Castortransporte nach Gorleben werden gestoppt. Gorleben soll kein Endlager werden. Dass die Bevölkerung bei der Endlagersuche heute eingebunden wird, sei ein Resultat der Proteste in Gorleben, sagt die Historikerin Astrid Mignon Kirchhof. Nun ließen sich breitere Bevölkerungsschichten in Deutschland „nicht mehr etwas vor die Nase setzen“.
Das Hin und Her um den Atomausstieg
In Westdeutschland gründet sich 1980 aus Friedens-, Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung die Partei Die Grünen. Eines ihrer Kernthemen ist bis heute die Atomkraft. In der Folge der Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 verstärkt sich der Protest. Neben dem Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung, sieht der Historiker Joachim Radkau auch andere Faktoren den Niedergang der Atomkraft herbeizuführen. Der Protestbewegung sei „eine latente ökonomische Krise der Kernkraft gefolgt. Seit 1982 ist kein neues großes Kernkraftwerk mehr in der Bundesrepublik in Auftrag gegeben worden.“
1998 siegt Rot-Grün bei der Bundestagswahl – und erstmals übernimmt mit Bündis90/Die Grünen die Partei Regierungsverantwortung im Bund, die maßgeblich aus der Anti-Atombewegung heraus entstanden ist. Die Regierung nimmt Verhandlungen mit der Atomindustrie auf. Das Ziel: der allmähliche Ausstieg aus der Atomenergienutzung, der sogenannte Atom-Konsens. 18 Monate lang wird zwischen Regierung und Unternehmen ein Konsens ausgehandelt, schließlich verkündet Bundeskanzler Gerhard Schröder 2001: „Mit den soeben geleisteten Unterschriften haben wir uns abschließend darauf verständigt, die Nutzung der Kernenergie geordnet und wirtschaftlich vernünftig zu beenden.“
2009 übernimmt die schwarz-gelbe Koalition unter Angela Merkel die Regierung. Sie kippt das Gesetz zum Atomausstieg und beschließt eine Laufzeitverlängerung – die sie allerdings keine drei Monate aufgrund des Reaktorunfalls im japanischen Fukushima am 11. März 2011 wieder zurücknimmt.
Eigentlich hätten die Atomkraftwerke bis Ende 2022 abgeschaltet werden müssen, doch das Hin und Her um die Atomenergie hat damit noch kein Ende gefunden: Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die damit einhergehende Energiekrise lässt eine Diskussion über eine Laufzeitverlängerung noch einmal aufflammen, auch innerhalb der Ampelkoalition. Die FDP befürwortet eine Laufzeitverlängerung, die Grünen möchten am Ausstiegsdatum festhalten. Im Oktober 2022 macht Kanzler Olaf Scholz erstmals von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch und entscheidet, dass die drei weiterhin laufenden Atomkraftwerke bis April 2023 am Netz bleiben.
Die Anti-Atomkraft-Bewegung und demokratische Prozesse
Trotz des Ausstiegs bleibt die Debatte über die Atomkraft lebendig. Über die Gefahren und Chancen von Atomenergie, den richtigen Energiemix angesichts des Klimawandels oder die Endlagersuche wird wohl weiter gestritten werden. Für den Umwelthistoriker Frank Uekötter lässt sich anhand der Anti-Atomkraft-Bewegung und der Debatten über Atomkraft demokratische Prozesse nachzeichnen. „Man kann an diesem Konflikt sehen, dass Demokratie so eine ganz wunderbare Art hat, Hitzköpfe zu disziplinieren. Man darf nicht vergessen: Es gab auf beiden Seiten Leute, die mit dem Kopf durch die Wand wollten. Das braucht seine Zeit, bis man solche Betonköpfe demokratisch eingefangen hat, aber das kann eine Demokratie.“
Die Anti-Atomkraft-Bewegung habe unsere Gesellschaft geprägt, in dem sie gezeigt habe, „dass es sich lohnt, auf die Straße zu gehen, dranzubleiben“, bestätigt auch die Historikerin Astrid Mignon Kirchhof. Als ein Beleg für einen gelungen demokratischen Prozess möchte sie die Geschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung allerdings nicht lesen. Schließlich sei die die Anti-Atomkraft-Bewegung in der Bundesrepublik sehr stark gewesen. „Aber nichtsdestotrotz haben wir ja so und so viele Kernkraftwerk bis heute, und man muss auch sagen, der definitive Ausstieg kam nicht aufgrund der Anti-Atomkraft-Bewegung, sondern aufgrund von Fukushima.“
(Quellen: Dagmar Röhrlich, Anh Tran, lkn)