Die New Yorker "Coming to the Table"-Gruppe versammelt sich im alten Quaker House in Manhattan zu ihrer monatlichen Sitzung. Es ist das Wochenende vor Ostern und viele haben bereits für die Ferien die Stadt verlassen. Trotzdem sind an diesem Samstag 12 Mitglieder gekommen. Das Setting ist immer gleich: Man sitzt im Kreis mit einem Stab in der Mitte, den man sich nehmen kann, wenn man reden will. Ein Moderator leitet die Sitzung und begrüßt die Mitglieder, fast jeder kennt sich hier.
Sharon ist die Moderatorin heute. Sie fragt die Teilnehmer, wann genau das erste Mal war, dass die Farbe der Haut bewusst als Privileg oder Problem wahrgenommen wurde. Sie gibt jedem sieben bis zehn Minuten Zeit zu Reden. Das Ganze erinnert stark an eine Selbsthilfegruppe.
"Im Zentrum von ‚Coming to the Table‘ steht der Prozess im Kreis: Wir kommen zusammen und niemand hat das Sagen. Jeder bekommt die gleiche Redezeit und wir teilen so ehrlich wie möglich unsere Geschichten. So beginnt für uns der Heilungsprozess."
"Unsere Familie hat versklavte Menschen hierher gebracht"
Elizabeth Sturges-Llerena ist Gründungsmitglied von "Coming to the Table". Seit sie mit 28 Jahren erfahren hat, dass ihre direkten Vorfahren, die Familie De Wolf aus New England, zu den maßgeblichen Initiatoren des Sklavenhandels in Nordamerika gehörte, hat sie nicht mehr aufgehört, dafür zu kämpfen, dass weiße Amerikaner für ihre Privilegien Verantwortung übernehmen und die Wunden des Rassismus heilen. Ihre preisgekrönte Dokumentation "Tracing the Trade" spricht von diesem schwierigen Prozess.
"Alles begann, als meine Cousine Catharina mir erzählte, sie habe herausgefunden, dass unsere Familie mehr versklavte Menschen hierher gebracht haben, als irgendeine andere Familie in der Geschichte unseres Landes. Der Hauptsitz war genau da, wo ich aufgewachsen bin: in Bristol, Rhode Island."
Am Anfang wusste sie nicht, wie sie je darüber sprechen sollte. Sie musste ihre Erziehung und ihr eigenes Selbstverständnis als weiße Frau in Frage stellen:
"Schon in unserer Kindheit bringt man uns bei, dass wir besser sind. So auch völlig ungeschminkt in meiner Familie, was auch mit sozialer Klasse zusammenhing. Jeder wurde so erzogen: durch Kinderbücher, Filme, Comics, was man in der Schule lernt und eben nicht lernt. Das Ungesagte kann genauso stark sein, wie das, was ausgesprochen wird."
Forderung nach Wiedergutmachung
Seit der Gründung von "Coming to the Table" haben sich Ortsgruppen in vielen Gegenden und Städten der USA gebildet. Unter anderem fordern sie, endlich Wiedergutmachungen an direkte Nachfahren von Sklaven zu leisten - bisher ein Tabu in der amerikanischen Gesellschaft. Mit Wiedergutmachung ist allerdings weniger eine Transaktion von Entschädigung, als die Transformation einer verwundeten Beziehung gemeint.
Für Dionne Ford, Autorin und Journalistin der New York Times und Gründungmitglied der New Yorker Gruppe, begann diese Transformation, als sie auf der Suche nach historischen Material über ihre schwarzen und weißen Vorfahren war:
"Ich habe in meiner Familiengeschichte geforscht und bin auf Nachkommen gestoßen, die meine Ur-Ur-Großmutter versklavt hatten. Und irgendwann machten sie mich auf einen Lynchmord in meiner Familie aufmerksam, von dem ich nichts wusste. Es ging auch um eine Erbschaft. Es war ziemlich heikel."
Zwiespältige Gefühle ausdrücken können
Trotz eigener Kinder ging das Erbe ihres Ururgroßvaters nämlich damals an eine weiße Familie, die seine Frau, ihre Ururgroßmutter, als Erbgegenstand betrachtete und versklavte. Mitglieder von "Coming To The Table" boten Hilfe an. Dort konnte sie auch zum ersten Mal ihre zwiespältigen Gefühle verbalisieren.
"Und zwar gegenüber beiden Seiten. Ich konnte mit jemandem reden, dessen Vorfahren Sklaven hatten, und mit jemanden, der wie ich beides in sich hatte, sich aber eindeutig als schwarze Frau identifiziert."
Um Familienmitglieder aus der Zeit der Sklaverei zu finden, ist oft der einzige Weg, ihre damaligen Besitzer zu identifizieren. Durch die Hilfe von "Coming to the Table" fand Dionne weiteres Material und erfuhr zu ihrer großen Genugtuung, dass ihre vormals versklavte Ururgroßmutter dann als Besitzerin einer kleinen Farm starb.
Wiedergutmachung ist für sie eine Reise mit verschiedenen Stationen. Dazu gehören Anerkennung der historischen Wunde, zum Beispiel durch das Teilen von historischen Aufzeichnungen, gemeinsames Handeln, um Vertrauen neu aufzubauen, wie zum Beispiel das Identifizieren von Grabstätten von Sklaven auf privaten Grundstücken. Es ist sehr wichtig, diese dann öffentlich zugänglich zu machen, damit Gedenken verortet werden kann.
"Das gehört alles dazu, wenn man heilen will, was zerbrochen ist. Das wird weitergehen und an unserer Kinder und Kindeskinder weitergereicht."
Aufmerksamkeit der Presse
Zurück in der Gruppe ist Mistah mittlerweile an der Reihe, ihre Erinnerung zu teilen. Sie ist Afroamerikanerin und erinnert sich noch genau an das erste Mal, als ihre Hautfarbe eine Rolle spielte. Auf einem Ferienausflug wollte sie gerne neben ihrer weißen Freundin Lorraine sitzen.
"Und all die Jungs, die gerne neben ihr gesessen hätten, sagten dann: Was, du willst neben diesem Affen sitzen, diesem Nigger? Und der Lehrer sagte auch nichts, weil er genauso rassistisch wie alle anderen war. Das hat mir mein Herz gebrochen. ich war nicht mal 13 Jahre alt. Heute bin ich 65 Jahre alt und muss immer noch damit umgehen. Was sagt das über die Gesellschaft aus, in der wir leben?"
Ein besonders eindrückliches Beispiel, wie Reparationen auf individueller Ebene aussehen können, ging in den letzten Wochen durch die nationale Presse: Ein Mitglied der Denver‘ "Coming to the Table"-Gruppe erfuhr mit Hilfe alter Familienaufzeichnungen von einer Frau, die Sklavin im Haushalt ihrer Familie war. Sie fand ihre direkten Nachkommen und beschloss, die in den USA extrem hohen Studiengebühren für deren Kinder zu übernehmen.
"Wenn wir das nicht machen, wird alles so bleiben, wie es ist"
Dionne Ford hofft auch auf politische Veränderungen:
"Seit der Wahlkampf für die Präsidentenwahl 2020 langsam anzieht, haben bereits mehrere Kandidaten klar gemacht, dass das Thema Reparationen zu ihrem Programm gehört."
Doch bei all der wünschenswerten Aufmerksamkeit bleibt für Elizabeth Sturges-Llerena das monatliche Treffen und das oft schmerzvolle Mitteilen im Kreis der Kern der Bewegung:
"Das Problem mit dem Heilen ist, das es Zeit braucht und wir haben das Gefühl, die haben wir nicht mehr. Menschen sterben auf unseren Straßen und in unseren Gefängnissen. Trotzdem ist es sehr wichtig, dass Weiße sich zusammensetzen und diese Arbeit tun. Denn wenn wir das nicht machen, wird alles letztlich so bleiben, wie es ist."