Pulverschwaden ziehen über das Gefechtsfeld, so dicht, dass die Kämpfer nur noch schemenhaft zu erkennen sind: Soldaten der tschadischen Armee und mutmaßliche Mitglieder der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram. Videoaufnahmen von dieser massiven Militäroffensive liefen im tschadischen Fernsehen, die Armee legte Wert auf deren Verbreitung: Acht Tage dauerten die Kämpfe am Tschadsee im Westen des Landes, nach Armeeangaben setzten die Soldaten den fliehenden Islamisten über die Ländergrenzen in Niger und Nigeria nach.
Der Generalstabschef verliest an Karfreitag die offizielle Bilanz, ausgestrahlt im tschadischen Fernsehen: Tausend Boko Haram-Mitglieder seien getötet worden, die Lager der Terrorgruppe auf den Inseln im Tschadsee und an den Ufern zerstört.
Vergeltungsschlag für Angriff auf Boma
Die massive Offensive, war ein Vergeltungsschlag für die bislang größte Niederlage der tschadischen Armee: Mutmaßliche Kämpfer von Boko Haram hatten Ende März einen Stützpunkt der Armee in Boma angegriffen. Nach deren Angaben starben 92 Soldaten, 47 wurden verletzt. Das tschadische Internetportal Alwihda verbreitete die Reaktion von Präsident Idriss Déby:
"Dieser Angriff von Boko Haram war außergewöhnlich. Ich habe vielen Militäroperationen beigewohnt und habe viele selbst geführt, aber noch nie haben wir so viele Tote an einem Tag beklagen müssen."
Déby betont gerne seine Rolle als oberster Befehlshaber der tschadischen Streitkräfte. Die Offensive am Tschadsee führte er selbst. Nach seiner Darstellung ist Boko Haram im Tschad nun am Ende.
Zweifel an Äußerungen Débys
Helga Dickow vom Arnold-Bergstresser-Institut forscht seit Jahrzehnten zum Tschad und ist erst vor drei Wochen von dort nach Deutschland zurückgekehrt. Sie hat Zweifel an der offiziellen Darstellung:
"Jeder verlässt sich im Grunde auf das, was Déby in seinen offiziellen Statements verlauten lässt: Wir haben Boko Haram geschlagen, und wir haben tausend tote Boko Haram-Kämpfer hinterlassen."
Aber Boko Haram habe keine festen Stützpunkte im Tschad, das bestätigt die International Crisis Group. Stattdessen sei die Gruppe in der Region sehr mobil, auch über die Grenzen hinweg. Nach dem verheerenden Anschlag auf den Militärstützpunkt in Boma Ende März seien die Kämpfer - sofern es überhaupt Boko Haram-Mitglieder waren - wahrscheinlich schleunigst wieder aus der Region verschwunden.
"Also man fragt sich wirklich: Wer sind diese tausend Toten, von denen er gesprochen hat? Die ethnische Gruppe, die auf den Inseln des Tschadsees lebt, sind hauptsächlich Buduma, denen wird immer wieder eine zu große Nähe mit Boko Haram vorgeworfen. Es kann auch sein, dass das eine Strafaktion war gegen Buduma, die aber jetzt als Aktion gegen Boko Haram deklariert wird."
"Niemand hatte Zugang zu ihnen"
"Meinem Land geht es schlecht", singt der ivorische Musiker Tiken Jah Fakoly, sein Titel läuft im tschadischen Sender "Radio FM Liberté", "Radio der Freiheit".
Betrieben wird der von der tschadischen Menschenrechtsliga. Deren Mitglieder gehören zu den wenigen Kritikern, die es wagen, sich öffentlich zu äußeren - harte Repression unter Präsident Idriss Déby hat die meisten zum Schweigen gebracht. Baldal Oyamta, der Generalsekretär der Menschenrechtsliga, stellt zur Zeit vor allem viele Fragen. Auch er wüsste gerne, wer die tausend Toten am Tschadsee wirklich waren. Und auf welche Weise die 44 Menschen ums Leben kamen, die vergangene Woche in einem Gefängnis in der tschadischen Hauptstadt Ndjamena starben. Laut Regierung handelte es sich um Kämpfer, die bei der großen Militäroffensive gefangen genommen wurden, also um mutmaßliche Mitglieder der Terrormiliz Boko Haram. Sie hätten sich, so die offizielle Version, im Gefängnis mit Gift das Leben genommen. Die tschadische Menschenrechtsliga fordert eine internationale Untersuchung:
Baldal Oyamta: "Kein Gefangener kann die Haftanstalt mit irgendwelchen gefährlichen Gegenständen oder Substanzen betreten. Sie werden durchsucht und alles, was gefährlich sein könnte, nehmen Polizisten oder Militärs ihnen ab - sogar ihre Telefone und Schnürsenkel. Und diese Gefangenen waren zusätzlich gefesselt, niemand hatte Zugang zu ihnen."
Kritik an den USA und der EU
Es ist wenig wahrscheinlich, dass die tschadische Menschenrechtsliga mit ihrer Forderung nach einer internationalen Untersuchung der Todesursache auf offene Ohren stößt. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch beklagen seit Jahren, dass Menschen- und Bürgerrechte im Tschad drastisch beschnitten werden. Die Opposition werde verfolgt und eingeschüchtert. Der Kampf gegen bewaffnete islamistische Gruppen und die angespannte Sicherheitslage in der Region seien ein Vorwand, gegen die Opposition mit aller Härte vorzugehen, beklagt Baldal Oyamta. Dabei haben die Islamisten bislang wenig Rückhalt in der Bevölkerung, sie operieren vor allem in der abgelegenen Gegend am Tschadsee, in der Grenzregion zu Kamerun, Nigeria und Niger.
Baldal Oyamta: "Schon vor langer Zeit hat die Regierung die sozialen Netzwerke blockiert. Demonstrationen sind seit 2006 oder 2007 verboten, das gilt bis heute."
Oyamta kritisiert, dass die westlichen Partner des Tschad die andauernden Menschenrechtsverletzungen ignorierten, weil Präsident Idriss Déby und seine Armee im Kampf gegen den Terrorismus im Sahel als wichtiger Partner gelten. Seine Kritik gilt den USA, der EU und vor allem Frankreich. Das Land unterhält seit Jahrzehnten eine Militärbasis in Ndjamena. Seit 2014 ist der Tschad auch das Hauptquartier der französischen Militäroperation "Barkhane" zum Kampf gegen islamistische Terrorgruppen im Sahel.