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Antidemokrat Gottfried Benn

Der Bremer Literaturwissenschaftler Joachim Dyck hat im 50. Todesjahr des Dichters die Biografie "Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949" vorgelegt. Dyck weist mit umfangreichem Quellenmaterial nach, dass Benns Verteidigung des Nationalsozialismus keine Kehrtwende in seinem Denken bedeutete. Von antidemokratischen Gedanken ließ sich der Dichter zeitlebens leiten.

Von Klaus Englert |
    "Die Kunst, wenn sie Wirkung hat, wenn sie fasziniert, verändert den Menschen in einer Richtung, daß er sich sagt: Die ganzen Fragen des Sozialen, des Kommunistischen, des Politischen fallen in gewissen Stimmungen und Stunden von uns ab und da tritt ein ganz anderes Leben plötzlich zutage - ein Leben, das wir kaum noch kennen heutzutage, das aber der Grund ist, weswegen wir überhaupt leben (...). Oberflächlich, politisch, auch intellektuell und rational ist die Kunst überhaupt nicht zu begreifen. Es ist sinnlos, sich ihr zu nähern. Es ist eine Sache der Dämonie, ein anderes Wort hat man gar nicht dafür. Eine dämonische, geheimnisvolle Angelegenheit. Und wer das auflösen will in Rationalismus und Bequemlichkeit und Bezugswünsche, der ist sehr weit weg von den Dingen."

    So sprach Gottfried Benn im November 1955 während einer Diskussion mit dem katholischen Schriftsteller Reinhold Schneider, im Funkhaus des Kölner WDR. Es war damals eine reichlich merkwürdige Diskussion. Schneider verteidigte immer wieder die christlichen Werte, Benn hingegen sah die Dichtung in höheren Sphären beheimatet, dort, wo Werte und Moral gar nicht vorkommen. Alfred Döblin sagte einmal treffend: der praktizierende Arzt Benn dichte "urologisch, zugleich kosmisch und prähistorisch, jedenfalls hochgebildet und weithin unverständlich".

    Der Bremer Literaturwissenschaftler Joachim Dyck hat nun im 50. Todesjahr des Dichters die Biografie "Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929-1949" vorgelegt. Natürlich kommt Dyck nicht daran vorbei, Benns geistige Nähe zur nationalsozialistischen Revolution zu untersuchen - eine Nähe, die ihm in der Nachkriegszeit zum Verhängnis wurde. Jetzt konnte Joachim Dyck durch Rückgriff auf umfangreiches Quellenmaterial minutiös nachweisen, dass Benns Verteidigung des Nationalsozialismus keine überraschende Kehrtwende in seinem Denken bedeutete. Denn von antidemokratischen, antiparlamentarischen und antiaufklärerischen Gedanken ließ sich der Dichter zeitlebens leiten. Und dennoch gab es eine Zäsur in seinem Leben: Benn isolierte sich zusehends, als er in den Zeiten von Repression und Emigration gegen alle Widerstände sein nietzscheanisches Kunstideal hochhielt. Anfangs gehörte er noch zum erlauchten Literatenkreis in der Preußischen Akademie der Künste und sonnte sich im Glanz seiner literarischen Erfolge.

    Doch Benns Versuch, im Frühjahr 1933 die Unabhängigkeit der Akademie zu erhalten, geriet zur Anbiederung an die braunen Machthaber und zum Exodus zahlreicher Mitglieder. Döblin, Heinrich und Thomas Mann sind nur einige der Akademiekollegen, die das Exil bevorzugten. Derweil blieb Gottfried Benn zurück, ließ sich die neuen Mitglieder von Kultusminister Rust diktieren und rief den Exilanten nach, sie würden sich wie "Kinder und Taube" vor den Aufgaben des "neuen Staates" drücken. Als unmittelbar nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 eine Emigrationswelle einsetzte, warf er vielen, die ihr Heil im südfranzösischen Sanary-sur Mer suchten, "larmoyanten bürgerlichen Pazifismus" (128) vor. Joachim Dyck erläutert, was der Daheimgebliebene von den Nationalsozialisten erwartete:

    "Benn hatte gefordert, dass der Staat in Zukunft mehr für die Kunst tun soll. Also Benn sah in der Tat in diesem neuen Staat die Möglichkeit, die Kunst stärker zur Geltung zu bringen, weil er der Schillerschen Meinung war, da die ästhetische Erziehung den Menschen verändern würde. Das erwartete er vom Nationalsozialismus."

    Für die nationalsozialistische Parteidoktrin galt dieser Standpunkt allerdings als "intellektualistisch". Die ideologische Linie der NSDAP wurde von Philosophen wie Hanns Johst vorgegeben, der im Juni 1933 Vorsitzender der Abteilung Dichtkunst in der Akademie der Künste wurde. Johst, der sich bester Kontakte zu Himmler und Hitler rühmte, diktierte, was unter Intellektualismus zu verstehen ist – nämlich "äußerliche Überredungskunst und jüdische Rabulistik". Man täusche sich jedoch nicht: Joachim Dyck meint zwar, Benns politisches und künstlerisches Verständnis sei der herrschenden Ideologie entgegengesetzt. Trotzdem forderte auch er die Züchtung des Menschen:

    "Benn äußert sich zu Fragen der Züchtung, die mit der nationalsozialistischen Idee der Züchtung gar nichts zu tun haben, ganz im Gegenteil, dem entgegenstehen. Benn will den Geist züchten. Von sportlichen jungen Männern, von der Ausbildung des Körpers hielt er nicht besonders viel."

    Gottfried Benn berief sich in einem Essay über die "Züchtung" von 1933 auf Nietzsches "Willen zur Macht", dem geistigen Nährboden des Nationalsozialismus. Allerdings war Benn niemals an dem Biologismus der Nazis interessiert, das "Blut und Boden"-Gesülze der Pateiapolegeten war dem Berliner Dichter zuwider. Er glaubte vielmehr an den nietzscheanischen Schöpfergeist, an eine umfassende Ästhetisierung, an die Kunst als "letzte metaphysische Tätigkeit des Menschen". Züchtung verstand Benn im intellektuellen und moralischen Sinne. Allerdings werden die Grenzen seiner Strategie schnell deutlich. Spätestens Anfang 1934 muss Benn erkennen, dass seine Anstrengungen, die Eigenständigkeit der Akademie der Künste zu retten, endgültig gescheitert waren. Seine hehre, wirklichkeitsferne Hoffnung auf die Kunstpolitik des NS-Staates, auf eine Versöhnung von Kunst und Politik in der neu entstehenden Volksgemeinschaft, war illusionär, genährt von nationalsozialistischer Rhetorik.

    Im Januar 1934 entstand das "Amt für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP", geleitet von Alfred Rosenberg. Das bedeutete das endgültige Aus für die unabhängige Akademie:

    "Benn hat schon ziemlich früh gesehen, dass sein Bild des neuen Staates mit der politischen und alltäglichen Realität des Jahres 1933 nichts zu tun hatte. Die Abwendung vom Nationalsozialismus beginnt bereits im April des Jahres 1933. Am 1. April wurden ja auch die jüdischen Ärzte von jugendlichen SA-Banden gepiesakt. Es klebte an manchen Schildern 'Jude'. Das hat Benn sehr unangenehm berührt, denn er wohnte in einem Haus mit anderen Kollegen zusammen. Und er äußerte Oskar Loerke gegenüber, dass dies eine Form sei, die er in keiner Form billigen könne."

    Gottfried Benn saß plötzlich zwischen allen Stühlen. Öffentlich verteidigte er den "nationalen Sozialismus", die "echte Erneuerung des deutschen Volkes", "den neuen Staat" – doch die strammen Parteiideologen wandten sich zusehends von ihm ab. Zugleich bekam Benn den Druck durch die Emigranten zu spüren. So erreichte ihn aus dem französischen Exil ein Brief von Klaus Mann, der den Daheimgebliebenen als "Propheten des Dritten Reiches" kritisierte und ihn ausdrücklich warnte: "Wer sich aber in dieser Stunde zweideutig verhält, wird für heute und immer nicht mehr zu uns gehören." Als Gottfried Benn die ausweglose Situation erkannte, wählte er die Position des einsamen Genies. 1934 publizierte er einen Aufsatz mit dem provokanten Titel "Lebensweg eines Intellektualisten". Der Bruch mit den Exilierten und dem Regime schien perfekt:

    "Die Reihe der Paralytiker unter den Genies ist enorm, die der Schizophrenen trägt die größten Namen, und das alles nicht beiläufig (...), sondern als Geschick, Wesen, Blut und Boden des Schöpferischen. Unter den hundertfünfzig Genies des Abendlandes finden wir allein fünfzig Homoeroten und Triebvarianten, Rauschsüchtige in Scharen, Ehelose und Kinderlose als Regel, Krüppel und Entartete zu hohen%en, das Produktive, wo immer man es berührt, ist durchsetzt von Anomalie, Stigmatisierungen, Paroxismen. Der größte Teil der Kunst des vergangenen Halbjahrhunderts ist Steigerungskunst von Psychopathen, von Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern – das war ihr Leben, und in der Westminsterabtei und im Pantheon stehen ihre Büsten und über beidem stehen ihre Werke: makellos, ewig, Blüte und Schimmer der Welt."

    Auch nach 1945 machte Gottfried Benn wiederholt deutlich, daß er weder zu den Apolegeten des untergegangenen Regimes noch zu den linken Emigranten gehörte. Als die ihn bedrohlich werdende"Entnazifizierungskampagne begann, verteidigte er sich selbst als "inneren Emigranten". Doch es half nichts, seine Nähe zur NS-Diktatur wurde ihm zum Verhängnis. In den Wirren der Berliner Nachkriegszeit sah sich Benn "als Staats- und Gesellschaftsfeind Nummer eins" stigmatisiert. Die schwarze Liste des Berliner Magistrats sah das Verbot von Benns Gesamtwerk für die Volksbibliotheken vor. Für die zahllosen, unpublizierten Gedichte fand er keine Verleger, da die literarische Öffentlichkeit kein Interesse an seiner esoterischen, skeptischen Produktion bekundete.

    "Benn saß 1945 in Berlin, hatte die Schubladen voll, weil er immer weitergeschrieben hatte während all dieser Jahre, und wäre nun gerne an den Markt gekommen. Aber er hatte sich im Brief an die literarischen Emigranten 1933 gegen Klaus Mann gewendet. Dieser Brief war in Emigrantenkreisen bekannt und Benn wurde von jeder literarischen Aktivität geschnitten Es gab den ersten großen Schriftstellerkongress, Benn wurde nicht eingeladen, und über Benn wurde gar nicht berichtet. Er saß in seinem Berlin und niemand kümmerte sich um ihn. Die Literatur war bereits wieder auf dem Markt. Es erscheinen zwischen 1945 bis 1949 160 Zeitschriften. Aber er kam nicht auf den Markt."

    Erst einige Jahre später änderte sich die Situation, als sich zwei Verleger für Benns Lyrik einsetzten.

    "Im Jahr 1949 sind vier Bücher von Benn erschienen, eins nach dem anderen. Und gegen diesen Schwung konnte sich die literarische Kritik nicht verschließen. Das musste beobachtet werden, wenn vier Bücher von Benn auf einmal auf dem Markt erscheinen. Und von Mitte 1949 an beginnt Benn wieder, Eingang zu finden in die literarische Szene."

    In der frühen Adenauerzeit gehörte Gottfried Benn zweifellos zu den gefragtesten Dichtern. Benn, der eher schlecht als recht von seinem Arztberuf lebte, nahm gerne Einladungen zu Radiolesungen oder öffentlichen Diskussionen an. Die Veranstaltung von 1955 im Kölner Funkhaus, an der auch Heinrich Böll teilnahm, gehört zu seinen letzten Auftritten. Die Zuhörer erlebten ihn als kompromisslosen Streiter für eine ideologiefreie, "reine Kunst":

    "Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes – sie verändert. Sie hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, wenn sie reine Kunst ist, keine therapeutischen und pädagogischen Ansatzkräfte. Sie wirkt anders, sie hebt die Zeit und die Geschichte auf, ihre Wirkung geht auf die Gene, die Erbmasse, die Substanz, ein langer innerer Weg."