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Antike Stätten am Mittelmeer

"Die häßlichste Sitte bei den Babyloniern ist aber die folgende. Eine jede Frau des Landes muß, im Tempel der Aphrodite sitzend, einmal in ihrem Leben sich einem Fremden preisgeben. (...) Wenn sich nämlich eine Frau hier gesetzt hat, so entfernt sie sich nicht eher in ihre Wohnung, als bis einer der Fremden ihr ein Stück Silber in den Schoß geworfen und dann außerhalb der geheiligten Stätte mit ihr Umgang gepflogen hat.

Heike Gregarek |
    Andere Länder, andere Sitten. Was Herodot als erster Geschichtsschreiber des Abendlandes quasi nebenbei, in geographisch-ethnographischen Einschüben seiner "Historien" lieferte: präzise Beschreibungen geschichtsträchtiger Orte, das hat sich Kai Brodersen mit dem Band "Antike Stätten am Mittelmeer" für die Gegenwart vorgenommen. Das Buch entführt seine Leser auf eine Reise zu den bedeutendsten historischen Stätten der gesamten mediterranen Welt. Dabei verbindet es die Vorzüge eines Reiseführers mit denen eines archäologischen Lexikons. Es ist in der antiken Tradition des "Periplus", das heißt wie eine "Reise rings ums Mittelmeer" angeordnet: ausgehend von der Iberischen Halbinsel führen die Reisebeschreibungen von Südfrankreich über Italien, die Inseln im westlichen Mittelmeer, den Balkan, Griechenland und die Inseln im östlichen Mittelmeer, bis in die Türkei, die Levante, Ägypten, Libyen und enden in den Maghreb-Ländern in Nordafrika.

    "Ein in das Meer vorspringendes Stück Land der Gyndanen bewohnen die Lotophagen, welche bloß von der Frucht des Lotus leben, die sie verzehren. Die Frucht des Lotus hat ungefähr die Größe eines Mastix, ist aber an Süßigkeit der Frucht des Dattelbaumes ähnlich. Aus dieser Frucht bereiten die Lotophagen auch Wein."

    Auch wenn man auf so geheimnisvoll phantasieanregende Beschreibungen wie die der Lotusesser verzichten muß, folgt Brodersen seinem Vorgänger Herodot doch insoweit, als er das Lexikon nach Regionen gliedert, jeweils vorgestellt von einem Wissenschaftler, einem reiseerfahrenen Archäologen oder Historiker, der sich auf das Land bzw. die Region spezialisiert hat. Die Vorstellung der Länder geschieht nach einem einheitlichen Muster. So folgen einer allgemeinen Beschreibung und einem historischen Abriß der Region mit ihren geographischen Räumen die Besprechungen der einzelnen antiken Orte in alphabetischer Reihenfolge. Ihre Lage ist grob auf einer Übersichtskarte im Einführungsteil eingezeichnet. Bei der Vorstellung der historischen Stätten schließen an einen Überblick über die Ortshistorie und Bemerkungen zur archäologischen Forschungsgeschichte zum Teil sehr detaillierte Beschreibungen der heute noch sichtbaren archäologischen Reste an - oft in Form von übersichtlichen Rundgängen. Eine reiche Bebilderung und Grabungspläne auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand helfen zur Orientierung und vermitteln einen Eindruck von der Situation vor Ort. Ausführliche Quellen- und Literaturangaben ergänzen die Ortsbeschreibungen und erlauben eine tiefergehende Beschäftigung mit jedem einzelnen Land. Die Benutzung des Lexikons wird durch ein angefügtes Ortsnamenregister, ein Glossar archäologischer und historischer Fachbegriffe, sowie zahlreiche Karten und Abbildungen erleichtert. Dabei ist aufgrund der großen Zahl überwiegend übersichtlicher und auch vor Ort gut zu verwendender Einzelkarten verzeihbar, daß die Übersichtskarten im Einführungsteil zu der jeweiligen Region mit dicken Strichen und handschriftlichen Beschriftungen wie "selbstgestrickt" erscheinen und nicht mehr als einen groben topographischen Anhaltpunkt liefern - eben auch hierhin leider Herodot folgend:

    "Wenn man von Heliopolis aufwärts geht, so ist Ägypten schmal; denn an der einen Seite zieht sich das Arabische Gebirge hin, welches in der Richtung von Norden gegen Süden und Südwesten immer aufwärts geht bis zu dem sogenannten Roten Meere; in diesem Gebirge befinden sich die Steinbrüche, in welchem die Steine zu den Pyramiden von Memphis gebrochen worden sind."

    So einheitlich das zu Grunde liegende Muster bei der Vorstellung der einzelnen Regionen, so unterschiedlich sind die Ausführungen, die anscheinend ganz im Ermessen der Autoren lagen. Lediglich in dem Kapitel über die Iberische Halbinsel finden sich knappe Wegbeschreibungen zu den Stätten, auf die die anderen Autoren - auch bei weniger bekannten Ruinen - vollständig verzichten. Hilft dieses beim Besuch der antiken Stadt, so wird eine Besichtigung gleichzeitig jedoch durch das vollständige Fehlen von Grabungsplänen erschwert, auch wenn, wie bei der Beschreibung des antiken Emporion, dem heutigen Ampurias, ein empfehlenswerter Rundgang beschrieben wird.

    Ähnlich verhält es sich auch bei den Ausführungen zu Südfrankreich, wobei sich hier die Frage stellt, warum ein Lageplan des Colline de Puyim abgebildet wird, der Autor jedoch auf Pläne weitaus bedeutenderer historischer Städte wie beispielsweise Arles oder Nimes verzichtet. Ein umfangreiches Kapitel ist Italien gewidmet, aufgrund der Bedeutung unterteilt in drei Abschnitte zu Ober- und Mittelitalien, Unteritalien und Rom. Gerade in diesem Kapitel wird angesichts der großen Zahl archäologischer Denkmäler deutlich, daß die Auswahl der vorgestellten Orte keine Repräsentativität anstrebt, sondern eine ganz persönliche Vorliebe des Autors reflektiert. Zu begrüßen ist, daß der Stadt Rom sehr viel Platz eingeräumt wird, der für eine kompakte Beschreibung der einzelnen Denkmäler genutzt wird. Ein Wermutstropfen: Raum für eine kurze Vorstellung der archäologischen Museen der Stadt mit einer knappen Auflistung der Ausstellungshighlights bleibt dabei leider nicht.

    Auch Griechenland sind mehrere Kapitel gewidmet. Im Unterschied zu Rom wird Athen hier allerdings bei nahezu identischer Seitenzahl nicht gesondert dargestellt sondern in die alphabetische Ordnung eingebunden, so daß die Bedeutung der Stadt auf den ersten Blick etwas zurücktritt, zumal Athen so nicht als Unterkapitel im Inhaltverzeichnis erscheint.

    Das gleiche "Problem" tritt auch bei dem ebenfalls sehr umfangreichen Kapitel über die Türkei auf, zusätzlich verstärkt durch die Tatsache, daß es hier keinerlei Unterteilungen in beispielsweise West- und Südküste, Istanbul oder den türkischen Osten gibt. Besonders im Fall von der Türkei ist es aufgrund der Größe des Landes und der dafür knapp bemessenen Seitenzahl schwierig, eine Auswahl der vorzustellenden archäologischen Stätten zu treffen. Es ist allerdings bedauerlich, daß Sagalassos, im Landesinnern in der Nähe von Burdur gelegen, keine Berücksichtigung findet. Fernab von den üblichen Touristenwegen ist hier unter belgischer Leitung in den letzten Jahren eine Grabung touristisch erschlossen worden, indem Bauten wie die Thermen und Teile des Forums wieder aufgebaut und ausführliche Beschriftungstafeln mit Detailplänen und dreidimensionalen zeichnerischen Rekonstruktionen im gesamten Antikengelände aufgestellt wurden. Hier ist ein Freiluftmuseum entstanden, das wie kaum eine zweite Grabung im gesamten mediterranen Bereich einen lebendigen und anschaulichen Eindruck von einer antiken Stadt bietet.

    Unter dem Übertitel Levante, werden die Länder Syrien, Libanon, Jordanien und Israel mit dem Westjordanland, behandelt. Allen Beiträgen ist gemeinsam, daß es sich um pointierte Beschreibungen handelt, die gut lesbar sind und neugierig auf ausführlichere Informationen machen. Nur schwer einsehbar ist allerdings, warum der Autor des Israel-Kapitels ausschließlich Bibelstellen und antike Literatur zitiert, weiterführende moderne Literatur dagegen unberücksichtigt läßt. Besonders bei einem so aktuellen und sagenumwobenen Lemma wie Qumran würden sicherlich viele Leser eine wissenschaftliche Literaturauswahl - ohne reißerische populärwissenschaftliche Titel - begrüßen.

    Während Ägypten und die sich anschließenden Maghreb-Länder Tunesien, Algerien und Marokko, ohne bzw. mit wenigen Plänen auskommen müssen, sind die Grabungen in Libyen durchgängig, in Tripolitanien die wichtigste, Leptis Magna, mit Orientierungsplänen vorgelegt worden. Die Beschreibungen sind in der gewohnten Weise informativ und knapp gehalten, moderne Forschungsliteratur bietet die Möglichkeit zur Vertiefung des Themas. An der Antike Interessierten wird die historische Vielfalt der Kulturregion Mittelmeerwelt in beeindruckender Weise anschaulich macht. Das Lexikon lebt von den lebendigen Berichten, wobei, wie bei allen wissenschaftlichen Werken, natürlich nur der aktuelle Wissensstand wiedergegeben werden kann. Auch wenn das Werk auf dem heutigen Forschungsstand ist können zukünftige Grabungen Anlaß zu neuen Interpretationen geben, eine Tatsache, auf die der Leser bereits in der Einleitung aufmerksam gemacht wird, in der der Herausgeber um Hinweise zur Verbesserung und Aktualisierung der Texte bittet.

    Als Reisebegleiter und damit Reiseführer vor Ort ist das Lexikon allerdings aufgrund seines Umfangs und Gewichts kaum geeignet, auch wenn sich für viele Touristen die zu besichtigenden antiken Stätten mit Hilfe der abgebildeteten Pläne und den in vielen Fällen ausführlich beschriebenen Rundgängen einfacher erschließen ließen. Gegen eine Nutzung als Reiseführer spricht daneben aber auch das Fehlen von praktischen Informationen, die archäologische Führer bieten und die, nicht bei den bekannten großen und gut ausgeschilderten Grabungen, jedoch bei kleineren, touristisch schlecht erschlossenen Stätten vor Ort sehr hilfreich wären. So ist Kai Brodersens Lexikon in erster Hinsicht als kompaktes archäologisches Nachschlagewerk zu verstehen, das Reiseeindrücke vertieft und. mit dem sich eine Reise gut vorbereiten läßt. In der gebotenen Kürze informiert es über die wichtigsten Sehenswürdigkeiten und hilft bei der Planung der eigenen Reiseroute. Als anregende Lektüre für unterwegs will es Herodot oder Pausanias sicher keine Konkurrenz machen, erfährt man doch nur mit diesen eine Ahnung von der Aktualität der Antike::

    "Es zeigen nämlich die Ägypter, eben so wie der Himmel bei ihnen anders ist und der Fluß eine andere Natur hat als die übrigen Flüsse, in ihren Sitten und Gebräuchen großenteils das gerade Gegenteil von dem, was bei den übrigen Menschen vorkommt. Bei ihnen sind die Weiber auf dem Markt und treiben Handel, die Männner dagegen bleiben zu Hause und weben (...) Die Notdurft verrichten sie in ihren Häusern, aber die Mahlzeiten nehmen sie außerhalb auf den Straßen und geben dabei als Grund an, was zwar unanständig, aber notwendig sei, das müsse man im Verborgenen tun, was aber nicht unanständig sei, öffentlich."