Geringe Solidarität mit jüdischen Gemeinschaften, mangelnde Empathie und ein deutlicher Anstieg antisemitischer Vorfälle und Straftaten: Einen Monat nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel hat der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, seine Besorgnis über die aktuelle Situation in Deutschland zum Ausdruck gebracht.
Zwei Tage vor dem 85. Jahrestag der antisemitischen Pogrome vom 9. November 1938 erklärte Klein, dass der Judenhass in Deutschland auf einem seit Jahrzehnten nicht mehr gesehenen Niveau sei. Laut dem Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung hat der Überfall der radikalislamischen Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober "drastische Auswirkungen auch für Jüdinnen und Juden in Deutschland".
Tatsächlich verzeichnete das Bundeskriminalamt seit dem 7. Oktober schon mehr als 2.600 Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt - "viele bei vermeintlich propalästinensischen, in Wahrheit aber meistens antiisraelischen Demonstrationen", so Klein. Hauptsächlich wurden danach Fälle von Sachbeschädigung, Volksverhetzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt erfasst. Die Zahl der Gewaltstraftaten bewege sich im mittleren dreistelligen Bereich.
Es gab auch schon einen versuchten Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin, außerdem antisemitische Schmierereien an Hauswänden. An verschiedenen Schulen kam es antisemitische Äußerungen, die zu Streit und Auseinandersetzungen führten. Laut Deutschem Lehrerverband nimmt der Antisemitismus auch an den Schulen hierzulande zu.
Was ist Antisemitismus?
Es gibt keine allgemein verbindliche Definition des Begriffs. Oft wird die sogenannte Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance herangezogen. Sie lautet:
Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.
Die Bundesregierung unter Angela Merkel hatte diese Definition 2017 angenommen und erweitert:
Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.
Es gibt verschiedene Ausprägungen von Judenhass. Man unterscheidet zwischen "klassischem", sekundärem und israelbezogenem Antisemitismus. Die "klassische" Form umfasst sozialen Antisemitismus (Vorurteile wie Juden als Ausbeuter und Wucherer) sowie religiöse, nationalistische oder rassistische Ausprägungen.
Der sekundäre Antisemitismus relativiert oder leugnet den Holocaust, bemüht sich um Täter-Opfer-Umkehr oder fordert, einen „Schlussstrich“ unter die Erinnerungskultur zu ziehen.
Der israelbezogene Antisemitismus überträgt traditionelle Stereotype auf den Staat Israel oder setzt israelische Politik gegenüber Palästinensern mit den Nationalsozialisten gleich.
Auch der Begriff der „Israelkritik“ wird kritisch gesehen, da man damit Kritik an der Regierung mit dem Land gleichsetzt – eine Sprachpraxis, die man bei anderen Ländern nicht anwendet.
Wie verbreitet ist Antisemitismus in Deutschland?
Die Amadeu Antonio Stiftung warnt in ihrem jüngsten "Zivilgesellschaftlichen Lagebild Antisemitismus" vor einer neuen Welle des Antisemitismus. Rechtsextreme führten einen "Deutungskampf" um den Nationalsozialismus, die Schoah und den Zweiten Weltkrieg. Dafür würden auch historische Begriffe umgedeutet, um Deutsche zu Opfern und Alliierte zu Tätern zu machen, heißt es in dem am 7. November vorgestellten Bericht.
Auch der „Mitte-Studie“ 2023 zufolge hat die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen zugenommen. Das betrifft alle Formen von Antisemitismus. Der Aussage „Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig“ stimmten 7,2 Prozent der Befragten zu, 10,8 Prozent der Befragten teils/teils. Die „Autoritarismus-Studie“ von 2022 kommt allerdings zum gegenteiligen Ergebnis: Die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen ist demnach in den vergangenen 20 Jahren zurückgegangen.
Laut einer Studie der Technischen Universität Berlin ist klassischer und israelbezogener Antisemitismus unter Muslimen weiter verbreitet als unter Nicht-Muslimen. Beim sekundären Antisemitismus gibt es jedoch kaum Unterschiede.
Wie viele antisemitische Straftaten gibt es?
Im ersten Halbjahr 2023 hat es bereits 960 antisemitische Straftaten gegeben, allerdings handelt es sich noch um vorläufige Angaben des Bundesinnenministeriums. Nach dem 7. Oktober 2023 kam es allein innerhalb eines Monats laut BKA zu mehr als 2.600 Straftaten im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt - meistens bei antiisraelischen Demonstrationen.
Zwischen 2015 und 2021 ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland jedes Jahr gestiegen. Waren es zunächst 1366 im Jahr 2015, gab es im Jahr 2021 mehr als 3000 Delikte. Im Jahr 2022 sank die Zahl zwar auf 2641, dafür stieg aber die Zahl der Gewaltdelikte auf 88 (2021: 64 Gewaltdelikte). Andere Straftaten umfassen Sachbeschädigung, etwa von jüdischen Einrichtungen, bis zu verbalen Angriffen.
Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) geht von einer großen Dunkelziffer aus, die nie gemeldet oder registriert würden. Auch sei die Zahl der Vorfälle statistisch nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung und lasse nicht darauf schließen, wie viele Menschen in Deutschland insgesamt antisemitisch dächten oder handelten.
Was sind die Ursachen von Antisemitismus?
Antisemitismus ist dem Autor Wolfgang Benz zufolge wahrscheinlich das älteste, soziale, kulturelle und politische Ressentiment, das bis in die Gegenwart hinein existiert. Im frühen Christentum entstanden unter anderem Ritualmordbeschuldigungen und der Vorwurf des Hostienfrevels, zudem wurde den Juden die Schuld am Tod von Jesus Christus gegeben. Hinzu kommen Verschwörungstheorien von einer „jüdischen Weltverschwörung“, die sich hartnäckig halten. So etwa wird immer noch die Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ verbreitet, obwohl längst erwiesen ist, dass es sich um eine Fälschung handelt. Der Nahostkonflikt fördert immer wieder Ausbrüche antisemitischer Äußerungen.
Laut Bundesinnenministerium waren 2022 insgesamt 84 Prozent der antisemitischen Taten der „rechts motivierten Kriminalität“ zuzurechnen. Es seien zudem auch Taten durch islamistisch geprägten Antisemitismus zu beobachten.
Das „Lagebild Antisemitismus 2020/21“ des Bundesamts für Verfassungsschutz sieht im Internet einen wesentlichen Dynamisierungsfaktor für antisemitische Hetze. Auch Social Media trägt laut Experten zur Radikalisierung bei. Klassische Formen von Antisemitismus sind in User-Kommentaren weit verbreitet.
Während der Corona-Pandemie sind im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien erneut antisemitische Ressentiments bedient worden, etwa dass Juden für die Pandemie oder die Anti-Corona-Maßnahmen verantwortlichen seien. Corona-Leugner oder sogenannte Querdenker trugen gelbe Davidsterne mit der Aufschrift „Ungeimpft“ oder Plakate mit dem Spruch „Impfen macht frei“, was eine Verharmlosung des Holocaust und eine Verunglimpfung der Opfer darstellt.
Auch die AfD spielt eine Rolle. Der Zentralrat der Juden bezeichnete in einer gemeinsamen Erklärung mit anderen jüdischen Organisationen und Verbänden die Partei als eine „Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland“, sie sei eine „rassistische und antisemitische Partei“.
Behauptungen über einen angeblichen „großen Austausch“ oder „Bevölkerungsaustausch“ (AfD-Politiker Alexander Gauland) sind eine antisemitische Verschwörungstheorie. Beim Begriff der „globalistischen Eliten“ handelt es sich um eine antisemitische Chiffre, die der Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke immer wieder benutzt. Letzterer fiel besonders 2017 mit einer Rede auf, in der er das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnete und eine „erinnerungspolitische Wende“ forderte.
Wie bedroht fühlen sich die jüdischen Gemeinden und Bürger?
Angesichts von Gewaltaufrufen im Netz gegen jüdische Einrichtungen werden in Deutschland derzeit die Sicherheitsmaßnahmen erhöht. Viele Eltern schicken ihre Kinder nicht mehr in jüdische Kindergärten, weil sie Angst haben.
„Es geht uns schlecht“, sagte Marc Grünbaum von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am 13. Oktober 2023 im Deutschlandfunk Kultur. Die Eltern der Kita-Kinder seien zu Recht und nachvollziehbar verängstigt und sehr verunsichert.
Wer sich unwohl fühle, dem rate die Gemeinde, die eigenen Kinder zu Hause zu lassen. Man sehe das nicht als Scheitern vor Drohungen. Gleichzeitig setze man ein Zeichen, indem man die Einrichtungen offen lasse.
Bereits seit längerer Zeit sei eine hohe antisemitische Grundhaltung zu spüren, so Grünberg. „Wir müssen Stärke zeigen“, betonte er. „Wir müssen erhobenen Hauptes unser Leben fortsetzen – genauso wie es die Menschen in Israel tun.“ Der Zentralrat der Juden äußerte sich ähnlich: „Die jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist stark, ist standhaft und wehrhaft. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Und wir stehen zusammen.“
Von Nicht-Juden erlebe man viel Solidarität und Empathie, auch aus der muslimischen Gemeinschaft, jedoch wünsche er sich aus dieser eine lautere Stimme, sagte Grünberg. Zugleich warnte er "davor, dass wir hier in der Bundesrepublik ein Moslem-Bashing starten".
Was kann man gegen Antisemitismus tun?
Ein wichtiger Ort für die Bekämpfung von Antisemitismus sind Schulen. Die Organisation "Bildungsstätte Anne Frank" gibt dazu Handreichungen, hilft Menschen in diesem Umfeld, aktuelle Formen von Antisemitismus zu erkennen und zeigt auf, was man dagegen tun kann. Aktuell gebe es "unfassbar viel tun", sagte Co-Direktorin Deborah Schnabel. Vor allem Pädagoginnen und Lehrer hätten einen unglaublich großen Bedarf an Unterstützung.
"Meistens geht es darum, dass sich zum Beispiel Lehrkräfte fragen, wie sie überhaupt sprechen können über den Nahostkonflikt im Klassenzimmer", so Schnabel. Nicht im Hinblick auf inhaltliche Details, sondern vielmehr wie sie die Emotionen und die Unsicherheiten von Schülerinnen aufgreifen und die Bedürfnisse muslimischer Schülerinnen und Schüler aufnehmen könnten. Dafür sei es wichtig, pädagogische Räume zu schaffen, in denen Schülerinnen ihre Perspektive äußern könnten, ohne dem erhobenen Zeigefinger zu begegnen.
Das bedeutet, dass in diesen Räumen auch alles gesagt werden kann, erklärte Schnabel. Das aber sei oft "sehr sehr schwer aushaltbar", weil dann natürlich auch antisemitische Äußerungen und Relativierungen der Taten vom 7. Oktober aufkämen. Trotzdem seien diese Räume sehr wichtig, denn so hätten Lehrerinnen und Pädagogen die Möglichkeit zu fragen, wie solche krassen Haltungen und Emotionen zustande kämen und nur so könnten sie verstehen, was in den Köpfen der Jugendlichen vor sich gehe, so Schnabel.
"Wir versuchen sehr stark auch mit der Perspektivübernahme und Empathiefähigkeit zu arbeiten." Dabei ginge es darum, dass Schülerinnen und Schüler in sich hineinhorchen sollten, welche Vorurteile sie schon mit sich herumtragen und wie sie diese wieder abbauen könnten.
Dass es nach solchen Gesprächen 180-Grad-Wenden gibt, sei dabei nicht das Ziel, so Schnabel, sondern vielleicht das Öffnen einer Tür. Ein Erfolg sei schon das Gepräch, denn die Fronten seien speziell beim Thema Nahost immer stärker verhärtet. Filterblasen führten zu einseitigen Berichten und Bildern. Das Aufzeigen anderer Perspektiven sei deshalb das Wichtigste.
Auch die Kultusministerkonferenz hat zusammen mit dem Zentralrat der Juden und dem Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung einige Vorschläge für Schulen gemacht: Lehrer und Schüler sollen Vorfälle erkennen, benennen und auf sie angemessen reagieren. Man setzt auf Fortbildung für Lehrer und Prävention, indem man im Unterricht Wissen zur Geschichte des Judentums vermittelt und für Formen des Judenhasses sensibilisiert.
Antisemitische Vorfälle kann man beim Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus melden.
leg, dpa, kna