"Also wir haben hier einen dieser schwarzen Bände, in diesem Fall: Berlin, St. Georgen-Taufbuch, 1864-1865..."
Wolfgang Krogel blättert in einem Band mit Fotokopien eines Kirchenbuches, die in den 1930er Jahren angefertigt wurden. Er leitet das Evangelische Zentralarchiv in Berlin. Ein Herzstück der Sammlung bilden meterlange Rollschränke mit gut 1.500 Kirchenbüchern - Repliken und Originale- dazu eine Kartei mit Hunderttausenden Namen. Überlieferung der sogenannten "Kirchenbuchstelle Alt-Berlin". Diese wurde 1936 gegründet und hatte sich zum Ziel gesetzt, alle Kirchenbücher der Altberliner Stadtgemeinden zentral zu erfassen und nicht weniger als eine Art Gesamtverkartung aller einzelnen Namen sämtlicher Kirchenbücher anzulegen. Alphabetisch geordnet, getrennt nach weiblich und männlich. Mit einer eindeutigen Intention ihres Leiters Karl Themel:
"Es ging ihm nicht um die Sicherung der Information als solcher, als historische Information, sondern es ging ihm immer um den politischen Charakter dieser Unterlagen im Sinne der nationalsozialistischen Rassenideologie."
Millionen Deutsche waren nach 1933 aufgefordert, einen Nachweis ihrer sogenannten arischen Abstammung zu erbringen. Die Ahnenforschung erlebte eine Hochkonjunktur. Spuren der familiären Vergangenheit wurden, soweit es ging, zurückverfolgt. Und so gab es bald nach 1933, erst recht aber nach den Nürnberger Rassengesetzen vom Sepember 1935, einen regelrechten Run auf die Kirchgemeinden. Denn sie hielten mit den Kirchenbüchern, den Tauf- und Eheschließungsregistern einen entscheidenden Schlüssel in der Hand. Einen Ariernachweis erbringen zu müssen, hieß aber immer auch: Es gab Menschen, die ihn eben nicht vorweisen konnten. Etwa weil ihre Vorfahren als Juden zum Christentum konvertiert waren. Es handelte sich dabei um das "böse Spiel von Inklusion und Exklusion", sagt der Berliner Historiker Manfred Gailus.
"Hier wird die Gesamtbevölkerung durchsiebt und ausgeforscht, familien- oder sippengeschichtlich bis ins 18. Jahrhundert und diese Forschungen konnten nur mithilfe der Kirchenbücher ausgeführt werden. Die Kirche hatte insofern mit den Kirchenbüchern eine entscheidende Quelle im eigenen Besitz, um die Rassenverfolgung lückenlos und vollständig durchzuführen."
Pfarrer und Rassist
Was in den Schränken des Evangelischen Zentralarchivs lagert, ist das wohl umfangreichste und professionellste Ergebnis einer eigenständigen kirchlichen Sippenforschung. Initiiert wurde die "Kirchenbuchstelle Alt-Berlin" von dem besonders umtriebigen evangelischen Pfarrer Karl Themel, der schon lange vor 1933 zutiefst völkisch dachte und später zu einem glühenden Nationalsozialisten avancierte.
"Er hat Rasse mit in seine Weltanschauung übernommen. Erstaunlicherweise geht das zusammen: Christentum und Rassismus im Sinne der Nationalsozialisten, bei Themel", sagt Manfred Gailus. "Er hört nicht auf, Pfarrer zu sein, er hört nicht auf, sonntags zu predigen und das Evangelium zu verkünden. Aber gleichzeitig ist er ein gläubiger Nationalsozialist. Die nationalsozialistische Weltanschauung ist für ihn sozusagen das zweite Bekenntnis."
Karl Themels Stern ging nach 1933 so richtig auf. Er gehörte zum engsten Führungskreis der "Deutschen Christen" und pflegte ein enges Netzwerk mit anderen überzeugten Nationalsozialisten in der Kirche. Vor allem aber war er besessen vom Gedanken eines "rassereinen Christentums". Getaufte Juden hatten in dieser Kirche nichts zu suchen. So machte sich Themel mit großer Leidenschaft daran, diese aufzuspüren. Die Kirchenbuchstelle mit Sitz im Gemeindehaus der Georgenkirche unweit des Berliner Alexanderplatzes bot ihm dafür beste Voraussetzungen. Zeitweilig hatte diese kirchliche Institution zur Sippenforschung 30 Mitarbeiter. Ihre Arbeit zielte neben den Tausenden Anfragen vor allem auf die sogenannten Fremdstämmigen:
"Das ist ein Bestand, der aufgebaut worden ist und mit diesem hohen Personalaufkommen erschlossen wurde. Die Bände wurden durchgekämmt und dann wurden auch diese Informationen herausgefiltert", erklärt Wolfgang Krogel. "Dann wurden sie mit besonderer Anweisung auch schriftlich dokumentiert und publiziert mit dem Ziel diejenigen herauszufiltern, die als Juden getauft worden sind. Und auf die Art und Weise, und das ist der Kern dieses ganzen Bestands, ist dann die Fremdstämmigenkartei entstanden."
Verdächtige Namen wurden aufgespürt
Rund 2.600 Namen in 21 schmalen Katalogbändchen, auf Vordrucke in fein säuberlichem Sütterlin gesetzt, haben Themels Leute aus den zuvor kartierten Kirchenbüchern herausgefiltert und in einer extra angelegten Fremdstämmigenkartei einsortiert. Sie haben auf Vorrat gearbeitet, das heißt, nicht erst Anfragen abgewartet, sondern selbstständig und mit äußerster Akribie ihnen verdächtige Personen aus den Hunderttausenden Namen aufgespürt.
Wolfgang Krogel: "Wenn man sich einen solchen Band herauszieht, dann sehen die Karten genauso aus wie die Karten in der Erfassung der Taufbücher, es gibt aber Zusatzvermerke und der ist im Wesentlichen und durchgängig: "fremdstämmig, Jude". Man kann also dann von diesem Karteneintrag wieder auf das Kirchenbuch zurückkommen und findet dort alle Informationen, die zu dieser Person vorliegen."
Themel besaß hervorragende Verbindungen zum Reichssippenamt. Seine Kirchenbuchstelle hat diese hochsensiblen Daten an die Verfolgungsbehörden weitergegeben – freiwillig und ohne Aufforderung. Mit oftmals tödlichen Konsequenzen, denn Polizei, Gestapo oder Parteistellen kamen damit in den Besitz von Namen evangelischer Christen jüdischer Herkunft, die sie sonst kaum hätten finden können.
Christenverfolgung in der Kirche
"Scharf formuliert: Es handelt sich um eine Christenverfolgung in der Kirche", sagt Historiker Manfred Gailus. "Wenn alle Kirchgemeinden damals gesagt hätten, wir rücken unsere Kirchenbücher nicht heraus, es wäre zu einem schweren Konflikt mit dem Staat gekommen. Aber der Staat hätte das Wissen nicht gehabt für die Verfolgung der "Nichtarier" außerhalb der jüdischen Gemeinden."
Manch ein Pfarrer hat es dennoch gewagt, einzelne Informationen zurückzuhalten. In manch einem Kirchenbuch wurde auch mal ein Hinweis auf einen jüdischen Täufling herausgerissen. Insgesamt jedoch hat es kaum Widerstand gegeben. Und Themel war kein Einzelfall. Ähnliche Stellen zur Sippenforschung hat es auch in anderen Landeskirchen gegeben, so etwa in Schwerin oder Hannover. Themels Treiben rief dennoch intern Kritik hervor. Im Kern ging es dabei um Zuständigkeiten. Die entscheidenden moralischen Fragen wurden nicht gestellt. Rassenhass schien mit diesem Christentum vereinbar.
"Das ist ja eine Entwertung der Taufe. Denn diejenigen, die hier ermittelt worden sind, waren Mitglieder der Evangelischen Kirche. Sie waren getaufte Mitglieder dieser Gemeinschaft. Und diese dann herauszufiltern aufgrund von staatlichen Gesetzen, muss ja einen Konflikt hervorrufen im Hinblick auf die theologischen Grundlagen der Religionsgemeinschaft", sagt Wolfgang Krogel. "In den Auseinandersetzungen um die Kirchenbuchstelle Alt-Berlin spielten diese Fragen gar keine Rolle. Es ging um die Selbstständigkeit der Kirche, um die Verhinderung von Übergriffen des Staates auf die kirchlichen Institutionen. Aber an der Strategie, an dem Ziel, an der Methode ist überhaupt keine Kritik erkennbar innerhalb der Kirche, sondern es geht nur um die Frage der Zuordnung und Loyalitäten."
Besonderer Bestand
Dass der Bestand der "Kirchenbuchstelle Alt-Berlin" bis heute vollständig und unverändert im Evangelischen Zentralarchiv lagert, hat auch damit zu tun, dass Themel, nach dem Krieg eine erstaunliche zweite Karriere hinlegte. Zunächst aus Angst vor den Russen Richtung Westen geflohen, trat er nach einem kirchlichen Entnazifizierungsverfahren eine Pfarrstelle im Brandenburgischen an. Doch schon bald, 1954, wurde er leitender Archivar der West-Berliner Landeskirche. Und das, obwohl den kirchlichen Gremien alle belastenden Akten zu diesem kirchlichen "Rasseforscher" vorlagen. Doch selbst Kurt Scharf, Pfarrer der Bekennenden Kirche, gab grünes Licht bei Themels Ernennung. Die Expertise des Kirchenbuchfachmannes war gefragt. Wer sich heute als Familienforscher oder Historiker ins Evangelische Zentralarchiv begibt, kann mit diesem besonderen Bestand immer noch arbeiten.
"Es ist ein sehr ambivalentes Verhältnis zu dieser Überlieferung. Wir verstecken das überhaupt nicht, in jeder Führung, die wir durch das Archiv machen, erläutern wir die Geschichte dieses Bestands", so Krogel. "Ein sehr schwieriges Erbe hat er uns insgesamt überlassen, nicht nur hier, aber hier in einem Extrembereich der rassistischen Verfolgung. Aber eines, mit dem wir gelernt haben umzugehen."