Gerald Beyrodt: In der vergangenen Woche haben deutsche Medien tagelang über ein jüdisches Kleidungsstück berichtet. Über die Kippa, die traditionelle Kopfbedeckung für Männer. Auch manche Frauen tragen inzwischen Kippa. Erst sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bunderegierung, Juden könnten an bestimmten Orten keine Kippa tragen – sonst würden sie sich in Gefahr begeben. Dann forderte er Nicht-Juden auf, am letzten Samstag Kippa zu tragen – aus Protest gegen den Al-Kuds-Marsch. Die Initiatoren des Marsches sind für die Rückeroberung Jerusalems durch Muslime – Israel und Juden hätten keinerlei Recht daran.
Michael Wuliger ist Kolumnist bei der Jüdischen Allgemeinen und hat das Buch "Der koschere Knigge geschrieben". Mit ihm schaue ich auf die Kippa-Debatte und auf Antisemitismus in Deutschland. Herr Wuliger, eines hat die Kippa-Debatte auf jeden Fall gebracht. Viele meiner nicht jüdischen Kollegen können jetzt den Plural von Kippa – er heißt Kippot. Wie viel hat die Kippa-Debatte sonst noch gebracht?
Michael Wuliger: Nichts. Absolut nichts.
Beyrodt: Das ist aber wenig.
"Die Mehrheitsgesellschaft interessiert sich nicht"
Wuliger: Es war ein Medienthema für ein paar Tage. Es hat aber offensichtlich über den Kreis der Medien und der Politiker hinaus niemanden erreicht. Die Aufforderung war ja, ganz Deutschland solle am Samstag Kippa tragen – oder zumindest ganz Berlin. Ich war bei der Gegenkundgebung gegen den Al-Kuds-Marsch. Da waren hochgerechnet vielleicht 500, 600 Leute. Von denen trugen auch einige Kippa. In der Wilmersdorfer Straße um die Ecke, das ist eine Einkaufszone – habe ich niemanden mit Kippa gesehen, weder Juden noch Nicht-Juden. Das heißt in anderen Worten: Der Aufruf ist verhallt im Leeren.
Beyrodt: Wenn jetzt Hunderttausende Kippa getragen hätten, wie hätten Sie das gefunden?
Wuliger: Ich hätte das gut gefunden. Das hätte mich erstaunt, positiv erstaunt. Ich hätte mich gefreut. Das wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass tatsächlich das Thema Antisemitismus nicht nur Juden angeht, sondern einen Großteil der Bevölkerung auch. War aber nicht der Fall.
Beyrodt: Das ist Ihr Eindruck: Die Mehrheitsgesellschaft interessiert sich nicht.
Wuliger: Die Mehrheitsgesellschaft interessiert sich nicht, es betrifft sie nicht. Es ist ihr egal. Stellen Sie sich mal vor, es wären am Samstag nicht die Anhänger des schiitischen Islam und der Hisbollah, sondern die AFD den Kurfürstendamm heruntermarschiert. Ich vermute, es wären vier-, fünf-, sechs-, siebentausend Gegendemonstranten gewesen, die auch versucht hätten, diesen Marsch zu blockieren. So waren es vier-, fünfhundert – hauptsächlich Juden und die üblichen Verdächtigen, die an der Seite der Juden stehen. Und das sind nicht sehr viele.
Medienecho nicht angekommen in der Bevölkerung
Beyrodt: In den vergangenen Jahren war die dieser Al-Kuds-Marsch auch schon in den Medien. Aber mein Eindruck ist schon, dass er dieses Jahr wesentlich breiter in den Medien war und dass mehr über die Frage diskutiert wurde, ob das eine antisemitische Veranstaltung ist. Muss man das Felix Klein nicht auch zugutehalten, dass überhaupt darüber geredet worden ist: Ist dieser Al-Kuds-Marsch antisemitisch oder nicht? Und dass er in die wichtigsten Nachrichtensendungen und Zeitungen gekommen ist?
Wuliger: Ja, das mediale Echo war sehr groß. Es war sehr breit. Aber es ist über die Medien nicht hinausgedrungen. Es ist nicht angekommen in der Masse der Bevölkerung, das ist das Problem.
Beyrodt: Wie erklären Sie sich das, dass das nicht bei den Menschen angekommen sei?
Wuliger: Weil es keine Sensibilität dafür gibt, glaube ich. Das ist nicht ein Thema, das den Menschen auf den Nägeln brennt. Es ist nicht mal ein Thema, das sie interessiert. Es gibt in Deutschland gerade einmal 200.000 Juden. Wenn ich das auf die Gesamtbevölkerung von 80 Millionen rechne, ist das im Promille-Bereich. Und jüdische Probleme – in dem Fall Antisemitismus – betreffen die Menschen nicht, interessieren sie nicht. Es ist auch nicht so, dass Millionen oder meinetwegen auch nur hunderttausende Deutsche sagen: Ja, ich habe hier jüdische Freunde, die sind besorgt und schon deswegen fühle ich mich innerlich aufgerufen, denen zu helfen, denen meine Unterstützung zu zeigen. Das ist einfach nicht der Fall. Es ist für die Masse der Menschen irrelevant, leider.
"Die Mobber dürfen bleiben"
Beyrodt: Jetzt würden viele nichtjüdische Deutsche sagen, es würde doch schon so viel gemacht. Es gebe eine breite Erinnerungskultur, der Staat engagiert sich und es gibt Aktionen wie die Stolpersteine, da engagieren sich auch Bürger. Stimmt dieser Eindruck? Es wird so viel gemacht.
Wuliger: Mag ja sein, dass viel gemacht wird. Das nützt aber beispielsweise den jüdischen Schülern, die von Mitschülern gemobbt, zusammengeschlagen werden, dann die Schule verlassen müssen – die Mobber übrigens nicht -, denen nützt das alles nichts. Das ist sehr schön, wenn Leute sich engagieren, Erinnerungskultur machen. Und es ist Erinnerungskultur. Aber wir leben in der Gegenwart. Und die Juden hier in Deutschland leben in der Gegenwart. Sie sind kein Thema, nicht wirklich.
Beyrodt: Was müssten denn der Staat und die Gesellschaft tun, wenn sie sich interessieren würden, wenn sie das Problem beheben wollen?
Wuliger: Also, ich kann jetzt nur träumen. Ich kann wirklich nur träumen. Ich rede jetzt auch gar nicht vom Staat. Der Staat sagt und setzt sich auch ein gegen Antisemitismus, zugegebenermaßen. Es hapert dann allerdings auf der Klein-Klein-Ebene. Es ist immer noch so, dass – und da hat Herr Klein völlig recht – in bestimmten Teilen Berlins, auch anderswo, man als Jude mit Kippa zumindest vor verbalen Anfeindungen nicht gefeit ist. Es kann auch zu körperlichen Angriffen kommen. Ist es ja auch. Und die eigentlich zuständigen staatlichen Instanzen sind nicht sichtbar, nicht präventiv und nicht da. Sie beklagen es hinterher. Aber der Eindruck – und ich drücke mich jetzt ganz vorsichtig aus -, der Eindruck ist, dass Juden in Deutschland alleingelassen werden.
"Sensibilisierungskurse scheinen nicht viel zu bewirken"
Beyrodt: Felix Klein hat ja auch gesagt, Polizisten in Deutschland müssten stärker für das Problem sensibilisiert und ausgebildet werden. Es gebe eine klare Definition von Antisemitismus, die müssten die Polizisten aber auch kennen, um den Antisemitismus dann wiederum auch zu erkennen. Hat er da recht?
Wuliger: Ich will nicht zynisch sein, ich will jetzt nicht so klingen, aber die letzten zehn, fünfzehn Jahre hat es Sensibilisierungskurse überall gegeben – für Schüler, für Lehrer, was weiß ich was, für Sozialarbeiter – und der Antisemitismus ist gewachsen. Also scheint es nicht sehr viel zu bewirken.
Beyrodt: Was bewirkt denn etwas?
Wuliger: Ich bin sehr skeptisch. Also ich glaube, der Kampf ist schon verloren.
Beyrodt: Sie klingen für mich wahnsinnig deprimiert.
Wuliger: Nein, nicht deprimiert. Ich versuche, realistisch zu sein. Ich versuche einfach, die Tatsachen, die man liest, von denen man hört, zur Kenntnis zu nehmen. Und die sind, dass Juden zunehmend gefährdet sind – hier noch nicht so, wie beispielweise in Frankreich, wo es zu körperlichen Übergriffen kommt, auch zu Morden. So weit sind wir hier zum Glück noch nicht. Das sind einfach Tatsachen. Und ich meine das jetzt gar nicht mal abwertend, aber ich vertraue da nicht auf den Staat und die Gesellschaft. Ich finde, in dem Moment, wo man selbst gefährdet wird, gefährdet ist, ist es die allererste Pflicht, sich selbst zu kümmern.
",Sag niemandem, dass du Jude bist'"
Beyrodt: Was kann ich als Jude denn tun, um mich zu schützen, aus Ihrer Sicht?
Wuliger: Da hat Herr Klein leider recht: In größeren Teilen Berlins sich nicht als Jude zu erkennen zu geben, ist zum Beispiel ein Schutz, aber nicht unbedingt etwas, was die Laune hebt. Und ich kann damit umgehen. Ich bin erwachsen. Aber wie erklärt eine gute Freundin von mir ihrem neunjährigen Sohn: Und versteck deinen Davidsstern-Anhänger und sag niemandem, dass du Jude bist, weil, sonst wird’s gefährlich. Wie erklärt man das einem Kind? Was richtet das bei Kindern an? Da ist der Punkt, dass, wenn ich ein paar Jahre, ein paar Jahrzehnte in den Fall jünger wäre und Kinder hätte, ich sehr, sehr intensiv nachdenken würde, ob ich nicht vielleicht Deutschland besser verlasse.
Beyrodt: Wenn ich das alles höre und dann andererseits höre, das Selbstbild vieler nichtjüdischer Deutschen …: Naja, Antisemitismus, das sind vielleicht ein paar Islamisten und so oder ein paar Rechtsradikale, aber wir doch nicht. Und da ist man auch schwer empört, wenn einem das vorgehalten wird, man sei antisemitisch. Leben da Juden und Nichtjuden in Ihrer Wahrnehmung in völlig anderen Welten?
"Antisemiten sind immer die anderen"
Wuliger: Ja, eindeutig. Also bei Diskussionen mit Deutschen gilt der beliebte Grundsatz: Antisemiten sind immer die anderen. Spreche ich – sage ich mal – mit rechten Deutschen, dann sind die Antisemiten die Islamisten, rede ich mit linken, sind die Antisemiten die rechten. Wenn ich als Jude von Antisemitismus rede, dann weil es mich unmittelbar betrifft, potentiell sogar gefährden könnte. Der durchschnittliche nichtjüdische Deutsche, für den ist Antisemitismus vielleicht ein moralisches Problem und er ist aus moralischen Gründen dagegen, aber er ist nicht betroffen, nicht im Wortsinn betroffen. Ergo wird das Problem für ihn automatisch kleiner als für diejenigen, die es am eigenen Leib erleben.
Beyrodt: Ich werde auch häufig gefragt, ob ich in meinem Leben Antisemitismus erlebe, und habe dann manchmal das Gefühl, ich soll etwas möglichst Plastisches schildern. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich das gefragt werde, dann wird eigentlich erwartet, dass ich jetzt irgendwie sagen kann: Ja, ich bin auf dem Weg vom Sender zur Bushaltestelle verprügelt worden. Und wenn das nicht der Fall ist, dann gibt es auch keinen Antisemitismus. Ist das auch ein Teil des Wahrnehmungsproblems?
"Unter Antisemitismus stellt man sich Gaskammern vor"
Wuliger: Ja, ja. Unterhalb einer bestimmten Schwelle ist das dann alles nicht antisemitisch. Es gibt den Abgeordneten der Linken, Herrn Dehm, der hat mal den schönen Satz gesagt: "Antisemitismus muss dem Massenmord vorbehalten bleiben." Das ist das Problem in Deutschland. Unter Antisemitismus stellt man sich wirklich Gaskammern vor und Deportationszüge. Und alles darunter ist sozusagen – ja, fast tolerabel.
Beyrodt: Trotzdem würde ich gerne noch mal eine Lanze für die nichtjüdischen Deutschen brechen. Sie haben ja ein Buch geschrieben, den "Koscheren Knigge". Und da haben Sie offenbar an Menschen gedacht, die sich höflich gegenüber Juden verhalten wollen, aber doch andauernd in Fettnäpfchen treten. Das heißt doch aber auch: Ein Interesse und ein Bemühen gegenüber Judentum und Juden ist schon da in Deutschland, oder?
"Juden wollen wie alle anderen hier ganz normal leben"
Wuliger: Sie sagten gerade "Bemühen", das ist ja das Problem. Haben Sie schon mal eine angenehme, entspannte Unterhaltung gehabt mit jemandem, der bemüht war? Nein. Das Bemühte ist genau das Problem. Wenn ich auf einer Fete bin, jemand erfährt, für welche Zeitung ich schreibe und binnen weniger Minuten werde ich entweder auf den Nahostkonflikt oder auf die Schoah oder auf irgendwelche seltsamen religiösen Dinge, die mir selber gar nicht bekannt sind, angesprochen, trägt das nicht gerade zu einer entspannten Atmosphäre bei. Genau dieses Bemühte ist anstrengend. Juden in Deutschland wollen wie alle anderen Menschen hier ganz normal leben. Und 90 Prozent der Dinge, mit denen sie befasst sind, haben mit ihrem Judentum nichts zu tun. Da geht es um Wohnung, Ausbildung, Beruf, Familie, Beziehung, was weiß ich was. Diese permanente Reduktion auf irgendwelche vermeintlich jüdischen Attribute, das nervt ganz fürchterlich. Das ist anstrengend. Das hat mit Antisemitismus nun wirklich nichts zu tun, das ist eine ganz andere Sache. Antisemitismus ist – im Moment zumindest – unangenehm bis gefährlich. Das andere ist einfach nur anstrengend. Aber wer will so etwas haben? Ich nicht.
Beyrodt: Ja, aber ich meine, das Angestrengte, das stimmt, das ist nicht immer angenehm. Das Angestrengte ist überraschenderweise anstrengend. Aber ich meine, die Schoah ist noch nicht so lange her, 70 Jahre. Ist es da nicht auch ein Stück weit normal, dass es Verkrampfungen gibt?
Wuliger: Ich weiß, ja. Es ist wahrscheinlich normal, im beiderseitigen Umgang, auf beiden Seiten. Aber als ich das Buch geschrieben habe vor neun Jahren, da habe ich das sehr humoristisch geschrieben und dachte: Naja, vielleicht gibt sich das so mit der Zeit und es kommt zu einem normalen Umgang. Jetzt neun Jahre später stelle ich fest: Nicht nur hat es sich nicht gegeben, sondern: Da ist eine neue Qualität von "unangenehm" erreicht worden. Insofern: Sie sagten vorhin, ich sei deprimiert. Bin ich nicht, aber ein bisschen desillusioniert bin ich da schon.
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