Es war einige Tage nach den Anschlägen von Paris – da schreckten Mitte Januar Schlagzeilen in der britischen Presse auf: "Antisemitismus lässt Juden an ihrer Zukunft im UK zweifeln." Eine Umfrage habe ergeben, dass 45 Prozent der britischen Juden fürchteten, langfristig keine Zukunft im Land zu haben. Nicht nur die konservative Innenministerin Theresa May reagierte erschüttert:
"Ich weiß, dass sich viele jüdische Menschen in diesem Land verletzlich und furchtsam fühlen...aber ich habe nie geglaubt eines Tages zu erleben, dass Mitglieder der jüdischen Gemeinde im Vereinigten Königreich sagen, sie seien besorgt, hier im Land zu bleiben. Wir müssen alle unsere Anstrengungen verdoppeln, den Antisemitismus im United Kingdom auszumerzen."
Ein Bekenntnis vor dem Repräsentativausschuss der Jüdischen Gemeinde, das dieser mit Dankbarkeit aufnahm. 290.000 Juden leben in Großbritannien, etwas mehr als ein halbes Prozent der Bevölkerung. Es ist nach Frankreich die zweitgrößte jüdische Gemeinde in Europa. Und:
"Die Juden in Großbritannien sind alles in allem ziemlich ungefährdet und ungezwungen. Das stimmt und wir tun alles, dass es so bleibt," sagt Jonathan Sacerdoty. Der 34-jährige Aktivist gründete im letzten Sommer die Kampagne gegen Antisemitismus. Damals eskalierte der Krieg in Gaza und die antisemitischen Zwischenfälle nahmen auch in Großbritannien sprunghaft zu - was er nicht mehr schweigend erdulden wollte.
Eine Umfrage sorgt für Aufsehen
"Es gab so viele Leute, die eine Menge Formen von Antisemitismus erfuhren in ihrem täglichen Leben - online, auf Facebook, beiläufige Bemerkungen am Arbeitsplatz. Es war keine legitime Kritik an den Vorgängen im Nahen Osten, sondern blanker Antisemitismus, der sich Bahn brach."
Jonathan und seine Mitstreiter riefen auf zu Demos und forderten eine Null-Toleranz-Politik gegenüber antisemitischer Hetze. Und sie organisierten zur Jahreswende die Umfrage, die für so viel Aufsehen sorgte.
"Viele Juden, die wir kennen, behaupteten, sie würden am Esstisch über Auswanderung diskutieren. Wir wollten einfach wissen, ob das stimmt. Und unsere Umfrage hat gezeigt, dass 45 Prozent meinen, dass Juden langfristig hier keine Zukunft haben und für den Rest Europas glauben das sogar 58 Prozent."
Auch eine zweite Erhebung der Basisgruppe machte Schlagzeilen. Dafür wurden Briten um ihre Meinung zu sieben vermeintlich antisemitischen Behauptungen gebeten. Das Ergebnis:
"Ein greifbarer Anteil der britischen Gesellschaft hat seltsame stereotype Ansichten über Juden, etwa, dass sie mehr als anderen hinter dem Geld her sind oder den Holocaust nutzen, um Sympathie zu wecken. Wenn man hört, dass eine klar wahrnehmbare Minderheit so etwas denkt, dann muss man besorgt sein."
Erkenntnis widerspricht seriösen Studien
Als Fazit verkündete Jonathans Kampagne, dass nahezu die Hälfte der Briten mindestens eins der antisemitischen Vorurteile hege. Eine Erkenntnis, die fundamental allen seriösen Studien widerspricht, wie sie etwa das Londoner Institute for Jewish Policy Research seit Jahren durchführt. Dessen Direktor Jonathan Boyd bekräftigt denn auch:
"Das Ausmaß des Antisemitismus in Großbritannien ist mit am niedrigsten in der Welt. Es gibt keinen Hinweis, dass die Briten antisemitisch sind. Es ist eine kleine Minderheit von fünf bis sieben Prozent, die eine negative Meinung zu Juden hat."
Boyd hält die Umfrage der Kampagne gegen Antisemitismus für unwissenschaftlich und nicht repräsentativ. Nicht zu halten sei auch die Behauptung, 45 Prozent der Juden in Großbritannien sähen langfristig keine Zukunft im Land. Eigene Erhebungen, so Jonathan Boyd, gingen von 20 Prozent aus: "Was auch noch ziemlich hoch ist, weswegen man es mit der Realität gegenchecken muss und die Realität ist, dass Juden dieses Land überhaupt nicht in großer Zahl verlassen."
Tatsächlich wandern derzeit mehr Juden nach Großbritannien ein als aus. Auch wenn, das immerhin bestätigt Jonathan Boyd, die Besorgnis auch in der britischen jüdischen Gemeinde nach den Anschlägen in Paris gewachsen sei. Man müsse aber zwei Dinge auseinanderhalten: Antisemitismus auf der einen und islamischen Extremismus auf der anderen Seite. "Und die jüdische Gemeinde reagiert und sorgt sich wegen der Gefahr durch den islamistischen Extremismus - nicht wegen eines Antisemitismus auf niedrigem Niveau in der britischen Gesellschaft."