Susanne Fritz: Seit gestern geht es durch die Nachrichtensendungen. In Halle hat ein 27jähriger Mann zwei Menschen erschossen. Er war schwer bewaffnet und hatte versucht, sich Zutritt zu der Synagoge in Halle zu verschaffen. Dort waren wegen des jüdischen Feiertags Jom Kippur viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde versammelt. Vermutlich entgingen sie nur knapp einem Blutbad. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster sprach von einer neuen Dimension des Antisemitismus in Deutschland. Im Studio begrüße ich jetzt dazu meine Kollegin Christiane Florin. Was hat der Anschlag mit der jüdischen Religion zu tun?
Christiane Florin: Die Frage klingt erst einmal merkwürdig. Wir können mittlerweile davon ausgehen, dass der Anschlag den Menschen in der Synagoge galt, Jüdinnen und Juden also. Jom Kippur ist ein hoher jüdischer Feiertag. Wir haben in der Sendung gestern am Beispiel von Tel Aviv darüber berichtet, was dieser Tag bedeutet: Es ist ein Tag der Stille, des Fastens, den In-Sich-Gehens, der Ruhe. Ein Tag, an dem selbst eine so umtriebige Stadt wie Tel Aviv zur Ruhe kommt. Jom Kippur ist nicht nur für praktizierende Juden wichtig ist, also für diejenigen, die regelmäßig in die Synagoge gehen, sondern auch für die säkularen. Normalerweise kann man auf der Straße nicht so ohne Weiteres erkennen, wer Jüdin und Jude ist, und hier war diese Gruppe zusammen und konnte ganz gezielt getroffen werden.
Es geht aber, glaube ich, auch um etwas Anderes als um Religion. Es geht um den öffentlichen Diskurs über Religion und die Instrumentalisierung von Religion. Antisemitismus ist ein fester Bestandteil rechtsextremer Ideologien, der war nie weg, wurde aber in letzter Zeit in der öffentlichen Wahrnehmung überlagert vom rechten Hass auf Muslime, auf den Islam und auch von der Diskussion über importierten Antisemitismus.
Juden sind im rechtsextremen Denken, in der rechtsextremen Ideologie der Inbegriff des Fremden. Es findet gerade keine Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion statt, es gibt kein Interesse am Judentum. Juden sollen Inbegriff des Fremden, des Verdächtigen bleiben. Der Grundgedanke ist: Die gehören hier nicht hin, die sind die Wurzel allen Übels, sie stecken zum Beispiel hinter der – wie es in rechtsextremen Kreisen und auch in diesem Fall genannt wird – "Massenmigration".
Fritz: Also die Idee einer jüdischen Weltverschwörung.
Florin: Ja, das ist eine uralte Idee, Stichwort: Protokoll der Weisen von Zion. Im Digitalen sind Verschwörungstheorien sehr verbreitet, und im Kern sind Verschwörungstheorien oft antisemitisch. Es gibt die Idee des "Weltjudentums", des "jüdischen Finanzkapitals" bishin zu der Vorstellung, dass der Holocaust, die Shoah eine jüdische Legende ist, erfunden, um den Deutschen Schuldgefühle einzureden. Auch das spielt hier eine Rolle und wird im Digitalen leicht erreichbar ventiliert.
Man muss zudem den gesellschaftlichen Zusammenhang sehen: Wenn man zum Beispiel den Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung nimmt, dann empfindet eine große Mehrheit der Befragten in Deutschland das Judentum als Bereicherung. Aber wir wissen auch: Es gibt einen über Jahrzehnte stabilen Bodensatz an Antisemitismus nicht nur am rechten und rechtsextremen Rand, das ist in die Mitte der Gesellschaft eingesickert. Verschwörungstheorien treffen auf einen fruchtbaren Boden.
Helden-Inszenierung und Kreuzrittererzählung
Fritz: Der Anschlag ähnelt in der Inszenierung auch dem von Christchurch, das Ziel waren dort zwei Moscheen. Gibt es weitere Gemeinsamkeiten?
Florin: Eine Gemeinsamkeit steckt in dem Wort "Inszenierung". Es ist eine fast religiöse Inszenierung, so etwas mit einer Kamera zu filmen: Ein einsamer Held schreitet zur Tat, so soll es ausssehen. Ich finde die Diskussion unter Journalistinnen und Journalisten sehr wichtig darüber, ob wir so etwas zeigen und damit diese Inszenierung mitmachen.
Aber es gibt eine weitere Gemeinsamkeit: Gestern Abend habe ich ein Podium in Bonn moderiert, da ging es um die Grenze zwischen Religionskritik und Hass auf Religionen. Normalerweise berichten wir nicht darüber, wenn wir selbst an Veranstaltungen beteiligt sind. Ich erwähne es jetzt, weil dort sich auf dem Podium eigentlich alle einig waren, dass Religion in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt ist, aber nicht in dem Sinne, dass es eine wirkliche Auseinandersetzung mit Religion gibt, mit dem Inhalt des Judentums, mit dem Inhalt des Islams, sondern Religion dient als als Identitätsmarker, als Feindbild, als wichtiges Element im Kampf "Wir gegen die". Also: Wir gegen die Juden, Wir gegen die Muslime. Es sind oft merkwürdige Kreuzrittererzählungen, die mit solchen Taten in Verbindung stehen. Es lohnt sich, weiter darüber nachzudenken, welche Platzhalter-Funktion Religion im öffentlichen Diskurs einnimmt, weil man sich eigentlich mit Religionen nicht beschäftigen will und sie eigentlich nicht kennt.