Um es gleich vorweg zu nehmen: Von keinem der Autoren, die Beiträge für den Sammelband "Streitfall Antisemitismus" verfasst haben, wird der Judenhass verharmlost. Dass diese Klarstellung überhaupt notwendig ist bei einem Buch, das vom langjährigen Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU-Berlin, Wolfgang Benz, herausgegeben wurde und in dem 15 namhafte Historiker und Antisemitismus-Experten aus Deutschland und Israel, darunter Nachfahren von Holocaust-Überlebenden, Beiträge verfasst haben, zeigt, welch überhitzte Züge die öffentliche Antisemitismusdebatte in Deutschland mittlerweile angenommen hat. Eine Atmosphäre, in der immer schneller Antisemitismus-Vorwürfe auch gegen seriöse Wissenschaftler und Publizisten erhoben werden und der Diskussionsraum zunehmend eingeengt werde, so der Befund der Autoren. Wissenschaftliche Expertise sei in dieser Debatte wenig gefragt, dafür umso mehr Meinungsstärke, Emotionen und lautstarker Anspruch auf Deutungshoheit, betonte Wolfgang Benz bei der Buchvorstellung.
"Es geht natürlich darum, wie Antisemitismus in seinen verschiedenen Ausprägungen erscheint und wie Antisemitismus zu definieren und dann zu bekämpfen ist. Das leistet Wissenschaft mit Empathie und in Solidarität für die Opfer der Judenfeindschaft, aber nicht durch Observanz und politische Interessen."
Der Sammelband bemüht sich um Aufklärung und Differenzierung zu den Fragen: Darf man den Holocaust mit anderen Menschheitsverbrechen vergleichen? Welche Ziele verfolgt die palästinensische Boykottbewegung BDS tatsächlich? Wann überschreitet berechtigte Kritik an Israels Besatzungspolitik die Grenzen und ist Judenfeindschaft?
Der Fall Mbembe zeigt "denunziatorischen Aktionismus"
Auslöser für das Buch seien unter anderem die Kritik am zurückgetretenen Direktor des Jüdischen Museums, Peter Schäfer, und die Antisemitismusvorwürfe gegen den südafrikanischen Geschichtsphilosophen Achille Mbembe gewesen – laut Benz nur zwei von vielen unguten Beispielen für, wie er es nennt, "politisch angetriebenen denunziatorischen Aktionismus", der die öffentlichen Debatten erschwere oder unmöglich mache.
Der prominente Postkolonialismustheoretiker Mbembe sollte als Eröffnungsredner der Ruhr-Triennale ausgeladen werden – nachdem ein FDP-Politiker und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, in seinem Werk Passagen aufgespürt hatten, in denen er die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland mit der südafrikanischen Apartheid verglichen hatte. Dabei muss man nicht mit jeder Position Mbembes übereinstimmen, und der Friedens- und Konfliktforscher Gert Grell kommt in seinem Essay durchaus zu einem differenzierten Urteil über einige seiner Thesen. Doch, so Benz:
"Die Peinlichkeit des Missverstehens und die Anmaßung des Zensurverlangens gegenüber diesem Gelehrten ist die eine Seite des Falles Mbembe. Der Schaden für die Freiheit der Wissenschaft ist die andere."
Instrumentalisierung durch Israel
Unter den Autoren des Buches sind der israelische Historiker Moshe Zimmermann und der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, die in ihrem Kapitel "Wegweiser für die Verwirrten" darlegen, wie energisch das israelische Ministerium für strategische Angelegenheiten zur Instrumentalisierung des Kampfes gegen Antisemitismus in der ganzen Welt beiträgt. So habe es das Ministerium geschafft, dass sich gutgemeinte Antisemitismusverordnungen und -beschlüsse in Amerika, Frankreich und Deutschland gegen eine eigentlich marginale BDS-Bewegung beziehungsweise Kritiker der israelischen Besatzungspolitik richteten.
Anhand der Bundestagsdebatte vom Januar 2018, in deren Verlauf das Parlament das Amt eines Antisemitismusbeauftragten schuf, analysieren die beiden Autoren, wie ausgerechnet die AfD hier tatkräftig sekundierte. Ihre Vertreter gerierten sich als die wahren Freunde Israels, beschworen eine judeo-christliche Allianz - und nutzten die Gelegenheit, die Hauptschuld am Antisemitismus vom rechten Rand ihrer eigenen Anhängerschaft auf die muslimischen Zuwanderer abzuwälzen. Judenfeindschaft in der Debatte erneut als isoliertes Phänomen zu betrachten, kritisieren die Autoren als "Holzweg":
"Das jüdische Thema wie gewohnt abgesondert zu behandeln, statt systematisch Rassismusbekämpfung zu betreiben, auch bei ‘Integrationskursen‘, für die bis zum Überdruss während der Bundestagsdebatte erwähnten ‘bei uns Schutzsuchenden‘ – das garantiert den Erfolg keineswegs."
Wie der Drang nach Wiedergutmachung den Diskurs prägt
Der frühere Leiter des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem, Daniel Cil Brecher, zeichnet in seinem Beitrag ein Bild der komplexen deutsch-israelischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Er legt dar, wie die Bemühungen der israelischen Regierungen seit Mitte der 1960er-Jahre, Kritik an israelischer Politik in der westlichen Öffentlichkeit mit dem Makel des Antisemitismus zu behaften, in Deutschland auf eine durch den Drang der Wiedergutmachung beflügelte Idealisierung des jüdischen Staates und der Juden getroffen seien. Mit bis heute problematischen Folgen für den öffentlichen Diskurs in Deutschland, so Brecher:
"Je weniger sich die komplexen Ursachen und Wirklichkeiten des Nahost-Konfliktes mit den transformatorischen Idealisierungen des deutschen Diskurses deckten, desto mehr mussten die Grenzen bewacht werden. In der Bundesrepublik wurde das Bild Israels und vom Ursprung und der Dynamik des Konflikts zunehmend von Themen und Strategien bestimmt, die ihre Quelle im Jerusalemer Außenministerium oder bei Organisationen hatten, die sich mit der Bekämpfung ‘palästinensischer Propaganda‘ oder der Verteidigung des ‘Existenzrechts Israels‘ befassten."
Wie erfolgreich die israelische Regierung mit dieser Israelisierung des Antisemitismus-Begriffes war und ist, zeigt nicht nur der BDS-Beschluss des Bundestages, sondern auch eine beeindruckend lange Liste von verhinderten oppositionellen Veranstaltungen in Deutschland, auf die der Politikwissenschaftler Michael Kohlstruck hinweist – und in denen versuchsweise oder tatsächlich Versammlungsräume verweigert wurden mit der Begründung, es handele sich um antisemitische Positionierungen in der Öffentlichkeit.
Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einem hochbrisanten Thema, das Expertise und Argumente liefert für eine Debatte, aus der sich viele mittlerweile lieber heraushalten, aus Angst, sich die Finger zu verbrennen. Dabei ist es heute wichtiger denn je, über jede Form von Antisemitismus zu sprechen.
Das beweisen die anhaltend hohen Zahlen der antisemitischen Vorfälle, Beleidigungen, Angriffe und Morddrohungen gegen jüdische Menschen in Deutschland. In ihrer überwältigenden Mehrheit kommen sie allerdings immer noch aus Kreisen der radikalen Rechten.
Wolfgang Benz (Hg.)"Streitfall Antisemitismus – Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen",
Metropol Verlag, 328 Seiten, 24 Euro.
Metropol Verlag, 328 Seiten, 24 Euro.