Sprecher: Dr. Antje Vollmer, geboren am 31. Mai 1943 in Lübbecke/Westfalen. Deutsche Politikerin und Publizistin. 1962 bis 1968 Studium der evangelischen Theologie in Berlin, Heidelberg, Tübingen und Paris, 1. und 2. Theologisches Examen. Von 1969 bis 1975 Assistentin an der kirchlichen Hochschule Berlin, Zweitstudium in Erwachsenenbildung, Gemeindepraxis in Berlin-Wedding. 1973 Promotion zur Dr. Phil. 1976 bis 1982 Dozentin in der ländlichen Bildungsarbeit in Bielefeld-Bethel. 1983 bis 1990 Mitglied der Fraktion Die Grünen im Deutschen Bundestag, davon drei Jahre als Fraktionsvorsitzende. In den Jahren 1991 bis 1994 publizistische Tätigkeit unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Der Spiegel", "Die Zeit" und "Stern". 1992 bis 93 Mitarbeit in einer Epilepsieklinik in Bethel, sowie 1993, 94 Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin.1994 bis 2005 Bundestagsabgeordnete und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Seit 2005 freie Autorin. Frau Vollmer ist Mutter eines Sohnes.
Antje Vollmer: Und der Krieg war eigentlich überall.
Sprecher: Herkunft aus Ostwestfalen und die deutsche Nachkriegszeit.
Rainer Burchardt: Frau Vollmer, Sie sind Westfälin. 1943 geboren in Lübbecke, Zwilling, 31. Mai. Sind Sie auch ein bisschen ein westfälischer Dickkopf?
Vollmer: Ich bin ja Ostwestfälin, und Ostwestfalen sind ein bisschen anarchistische Dickköpfe. Also die sind schwer umzustimmen, wenn sie von einer Sache sehr überzeugt sind, aber gleichzeitig sehr bodenständig.
Burchardt: Gab es in Ihrem Leben Situationen, wo Sie sagten, also da gehe ich jetzt mit dem Kopf durch die Wand, das ist mir völlig egal, hier lasse ich mich nicht in irgendeiner Form noch vom Wege abbringen?
Vollmer: Na ja mit dem Kopf durch die Wand ist für mich glaube ich nicht der richtige Ausdruck, aber da muss ich weitergehen, selbst wenn ich ganz alleine bin. Das ist ja ein bisschen was anderes, weil das ... Also ich zögere lange, bevor ich mir was vornehme, was besonders schwierig ist. Wenn ich es dann aber als richtig erkannt habe, dann kann mich auch Widerstand nicht so einfach davon abbringen. Aber durchaus mit dem Gefühl, dass das dann eine harte Sache ist.
Burchardt: In welchem Elternhaus sind Sie groß geworden?
Vollmer: Meine Eltern hatten ein Textilgeschäft ganz wunderbaren altmodischen Zuschnitts, also sehr viel Stoffe, Aussteuer, extrem gute Bett- und Tischwäsche, Betten, Knöpfe, das Geschäft gehörte zu den ersten, die in dieser ganzen Kette der Vernichtung des Einzelhandels dann schließen musste, weil sie sich nicht schnell genug auf diese moderneren Bedingungen der Kaufhäuser einstellen konnten.
Burchardt: Als der Krieg zu Ende war, waren Sie zwei Jahre alt. Ich vermute mal, Sie haben nicht allzu viele Erinnerungen daran, aber aus der Nachkriegszeit. Wie haben Sie so die ersten fünf Jahre oder die vier Jahre bis zur Gründung der Bundesrepublik erlebt?
Vollmer: Also ich habe sehr präzise Erinnerungen daran und kann nicht mehr genau unterscheiden, ob das aus den Gesprächen der Erwachsenen war oder ob ich das schon selber gemerkt habe. Also das war ja die schwierigste Zeit, die unmittelbare Nachkriegszeit mit sehr viel äußerer Armut. Die Stadt, in der ich war, war wenig zerstört, da war nur eine Kleinstadt, da war nur eine Bombe gefallen. Aber später hat sie dann selber durch städtebauliche Planung und unvernünftige Baudirektoren eine Menge an dieser schönen Substanz zerstört. Aber die Menschen habe ich sehr, heute würde man sagen traumatisiert erlebt. Eine Putzfrau, die erzählte von den Erlebnissen in Schlesien, und der Krieg war eigentlich überall. Und ich erinnere mich, da war ich schon etwas älter, als in der Zeitung die Überschrift stand, "Wiederaufrüstung der Bundeswehr", soll ich kreidebleich geworden sein und umgekippt, und meine Eltern sagten, was hat das Kind, was hat das Kind, und ich sagte, es gibt wieder Krieg.
Burchardt: Das war Anfang der 50er-Jahre, die Neuaufrüstungsdebatte.
Vollmer: So, das heißt, dass der Krieg das Allerschlimmste ist, dass er die Menschen also auf Jahre hin eigentlich lebensunfähig macht. Das hab ich glaube ich relativ früh begriffen, deswegen war es auch eins der größten Themen meiner Jugendzeit.
Burchardt: Sie sind in Lübbecke zur Schule gegangen, vermute ich?
Vollmer: Ja, Gymnasium.
Burchardt: Wie waren denn Ihre Lehrer drauf, das waren ja im Grunde genommen noch Leute, die, ich würde mal ja sagen, pädagogisch in der Nazizeit sozialisiert worden sind?
Vollmer: So eine und so eine. Also ich erinnere mich an heftige Auseinandersetzungen mit Lehrern und auch dem, was sie so an literarischem Angebot brachten, das war alles eher deutsch-national. Ich erinnere mich aber auch an Lehrer, die großartig waren und also mit uns ungeheuer viel diskutiert haben auch über die Nazizeit. Ich erinnere mich, dass wir mit einem dieser Lehrer das erste Mal in eine jüdische Gemeinde in Minden gefahren sind und dass das für also die ganze Schulklasse schon vorweg eine extreme Befangenheit war. Und ich erinnere mich an Lehrer, die mich nach dem Abitur ungefähr mit der Empfehlung losschickten, geh du mal nach Berlin!
Sprecher: Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages im Zeitzeugengespräch.
Vollmer: Im Zweifel muss man es ganz alleine tun.
Sprecher: Vorbild, bekennende Kirche, Studium und erste Berufsstationen.
Burchardt: Wann sind Sie politisch sozialisiert worden?
Vollmer: Bin sozialisiert worden wenn, dann durch diese Lehrer - also der eine war vor allen Dingen mein Geschichtslehrer - und dann durch die Kirchengemeinde, die sich sehr in der Tradition der bekennenden Kirche verstand. Und das erste große politische Thema, was mich mein Leben lang begleitet und am Ende wieder stark eingeholt hat, war also des versäumten Widerstands gegen Hitler und der wenigen positiven Beispiele. Und Bonhoeffer war glaube ich, das würde ich heute so sagen, das Hauptmotiv, dass ich überhaupt Theologie studiert hab. Also nicht aus religiösen Gründen, ich kam nicht aus einem religiösen Elternhaus, war auch nie Pfarrerstochter, wie mir immer nachgedichtet wird, sondern das war eher ein amusisches und areligiöses Leben bei uns zu Hause. Aber diese Kirchengemeinde gab mit dem, womit sie sich beschäftigte, also meiner Neugier, meinem Suchen, irgendwie ein Ziel.
Burchardt: War Bonhoeffer für Sie so etwas wie eine Ikone gegen das Nazitum und für mehr Menschlichkeit in Systemen, die man eigentlich unerträglich finden muss?
Vollmer: Ja, vor allen Dingen war er so ein Vorbild, im Zweifel muss man es ganz alleine tun und muss dann alle Konsequenzen auf sich nehmen.
Burchardt: Sie waren ja später während Ihrer Lebenszeit auch in Bethel immer wieder. Hat da Bonhoeffer auch so was wie eine Leitplanke gebildet für Sie?
Vollmer: Auch das muss ich sagen, weder wollte ich gleich in die Landwirtschaft, noch auf gar keinen Fall wollte ich nach Bethel.
Burchardt: Aber Sie haben es alles gemacht!
Vollmer: Das galt mir, als ich Abitur machte, also auch theologisch als viel zu eng. Also wenn, dann haben mich eher Leute wie Gollwitzer dann interessiert und auch die Debatten, die es gerade terroristisch ...
Burchardt: ... also mehr das Spannungsfeld mit der Politik dann ...
Vollmer: ... die es in Berlin gab. Also ich habe ja studiert zu einer Zeit, die eigentlich, wo auch die Professoren eigentlich eher sozialliberal waren. Und gerade als Theologen trafen ja auch viele Leute mit authentischen, guten Biografien. Das ist mir später immer ein bisschen so erstaunlich gewesen, als die Studentenbewegung so sehr radikal gegen diese Professorenpersönlichkeiten vorging, dass ich immer dachte, merkwürdig, für mich waren die eigentlich faszinierend und ein Teil von neuer geistiger Freiheit.
Also ich weiß - ich war ja die Erste aus meiner Familie, die Abitur machte -, als ich in diesen Universitäten war, dass ich dachte: Ist ja unglaublich, die breiten vor dir das ganze Wissen von Jahrhunderten aus und du kannst es einfach nur aufnehmen oder genießen oder dich dafür interessieren. Ich fühlte mich als Studentin privilegiert, das war überhaupt noch nicht die Massenuniversität mit der Perspektivlosigkeit, die wir heute hatten, und ich glaube, dass das für mich sehr gut war. Das war natürlich dann ganz anders, als ich dann mit allem fertig war und in einer Berliner Gemeinde landete und wirklich knallhart auf die Realität eines Pastorenberufs in so einem Problembezirk stieß.
Burchardt: Da waren Sie das erste Mal mit dem Fundamentalismus konfrontiert, vermute ich?
Vollmer: Ach, Fundamentalismus war das damals ja noch nicht so viel, Anfang des ...
Burchardt: Na ja, es war nach 68.
Vollmer: Ja, aber ich war ja mit einer Gruppe von zwei Kollegen in Berlin-Wedding. Damals war das so, dass ... Die Leute mit den besten Examen gingen nicht in die Domgemeinde oder nach Charlottenburg, sondern sie wollten bewusst in die extremsten Arbeiterbezirke gehen. Das war unsere linke Motivation.
Burchardt: Das war für Sie auch tatsächlich so eine Erziehung.
Vollmer: Das war eine ganz bewusste Entscheidung, also die Wichtigsten aus unserem Vikarsjahrgang gingen entweder ins Märkische Viertel oder sie gingen nach Neukölln, Gropiusstadt oder wie wir also in den Wedding. Und das war schon sehr hart, also ich war 24, und wenn Sie dann manche Tage vom Friedhof gar nicht mehr runterkommen, weil nur überalterte Gemeindemitglieder da sind, die Sie dann beerdigen müssen. Oder wir hatten sehr viele Probleme mit Jugendlichen, um die wir uns intensiv gekümmert haben, die ersten Drogenprobleme. Dann war es ein brutales Sanierungsgebiet, also die Leute, die da teilweise 40 Jahre gewohnt hatten in ihren Wohnungen wie in Dörfern, wurden ins Märkische Viertel versandt.
Wir hatten zum ersten Mal auch schon mit Banden zu tun, ich erinnere mich an persönliche Auftritte nur wegen Tapferkeit, als die Veneter Bande mit solchen Kofferschränken von Kerlen da ankam und sehr verblüfft waren, damals hatte das noch eine Wirkung, wenn man sehr klein und sehr frech war und ihnen entgegentrat. Aber das war alles relativ hart und man fragte sich, kann man da eigentlich mit Predigen gegen diese Art von sozialer Realität angehen? Später hat mir das immer sehr geholfen, also diese Basisverankerung, aber danach habe ich ja die Theologie auch aufgegeben, ich hab währenddessen ...
Burchardt: ... waren Sie frustriert oder was war der Grund?
Vollmer: Ich meinte, dass man mit theologischen Mitteln nicht viel ändern könnte. Also ich war mit dieser theologischen Berufsexistenz, ich war nicht mit dem Glauben über Kreuz, sondern mit dem, ob man daraus einen Beruf machen könnte und dann noch ein Leben lang. Und deswegen hatte ich dann noch Pädagogik, zweites Examen gemacht, und suchte dann eine Stelle in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen und kam dann nach Bethel. Also sozusagen über einen großen Umweg und nicht wegen des Fundamentalismus in Bethel, sondern weil das eine Bauernschule war. Und dann fing mein Interesse für Landwirtschaft an, denn auch diese Bauernschule war längst sehr überaltet und man musste was neues anfangen. Und da hatte ich ja nun schon in Berlin gelernt, wie mich überhaupt neue Bewegungen immer außerordentlich interessiert haben.
Burchardt: War das dann die ökologische Landwirtschaft, die dann für Sie so anwuchs und wo Sie sagten, hey das ist ein Ding, da kann ich mich engagieren?
Vollmer: Also genau das war das, ich war ja ein bisschen resigniert auch über die Entwicklung der Studentenbewegung in Berlin, auch ihre innere Härte und dieses Martialische, was sie manchmal hatte, und stellte dann in Bethel fest, es gab auch eine 68-Bewegung auf dem Lande, und die war ganz anders. Und die hat die Urform der ganzen ökologischen Bewegung ...
Burchardt: Waren das die Landkommunen damals?
Vollmer: Landkommunen - bei mir war das schlichtweg die westfälisch-lippische und die evangelische Landjugend und teilweise die katholische Landjugend. In Kommunen durften die nicht so sehr leben, die kamen ja alle fast aus konservativen Elternhäusern, aber sie lebten natürlich davon, dass in dieser beginnenden Ökologiezeit das Leben auf dem Land überhaupt interessant wurde und dass plötzlich begabte junge Leute aus der Stadt, die wahrscheinlich alle auch so ein bisschen Flüchter dieser städtischen Militanz waren, dann plötzlich auf dem Lande was Anderes suchten.
Burchardt: Aber was ging denn in Ihrem Kopf eigentlich vor in dem Moment: Sie sind in einem Problemviertel, im roten Wedding gewesen und haben sozusagen das proletarische Praktikum nun wirklich basisorientiert erlebt. Gab es die Situation, dass Sie, was Sie vorhin schon angedeutet haben: Theologie alleine hat keine politische Wirkung, also gehe ich jetzt aufs Land, halber Rückzug ins Private vielleicht und dann dort doch wieder eine politische Aufgabe gefunden oder was, was war bei Ihnen der Impetus?
Vollmer: Der Impetus war schon, dass man, wenn man etwas sozial verändern will, dass man das im Leben machen muss und dass man das nicht mit Reden tun kann. Auch nicht mit fortschrittlichen Bibelinterpretationen. Also das heißt, das war dann vielleicht doch schon die Sehnsucht nach mehr realer Lebenspraxis oder nach Feldern, in denen man wirklich etwas politisch verändern kann. Nun war natürlich jemand wie Kurt Scharf ein Riesenvorbild für uns gewesen sowohl in seiner ...
Burchardt: ... bekennende Kirche ...
Vollmer: ... bekennende Kirche, sowohl in der Zeit, als auch in seiner Haltung gegenüber zum Beispiel Springer während der Studentenbewegung, der hat sich ja immer sehr entschlossen auf diese Seite gestellt. Aber so eine Rolle habe ich mir auch gar nicht für mich vorstellen können. Und diese Landwirtschaft war damals eben, also diese 68-Bewegung auf dem Lande, die fingen damals an, erstens mit wirklichem Widerstand gegen die Atomkraftwerke. Also im Gegensatz zu vielen Demonstrationen der Studentenbewegung war das ja eine reale Macht. Wenn die mit ihren Treckern da waren, und wenn die ihre Grundstücke nicht gaben für die geplanten Atomkraftwerke, dann bedeutete das was, da musste sich auch die damalige Politik ganz anders mit auseinandersetzen.
Und sie fingen eben an, was ja als vollkommene Utopie galt, einen völlig eigenen Markt aufzubauen, mit eigener Preisbildung, mit eigener Produzenten-Verbraucher-Verbindung, und in dieser Zeit war ich gerade da. Wir haben also in dieser Heimvolkshochschule unheimlich viele Seminare gemacht und vor allen Dingen war das eine extrem positive Stimmung. Also wir haben auch viel Theater gemacht und viel gesungen und sehr kreative Ideen gehabt, wie man das nächste Mal bei einer Demonstration auftritt um wirklich Leute zu gewinnen. Das heißt, vieles von dem, was dann die Grünen später gemacht hatten, war da vorgegeben. Und so bin ich auch überhaupt nur zu den Grünen gekommen, das heißt, die Grünen traten an diese Gruppen der Agrarpolitik heran und haben gesagt - plötzlich mussten sie ja für den Bundestag kandidieren -, schickt uns doch einen ordentlichen Bauern!
Sprecherin: Deutschlandfunk-Zeitzeugin: Antje Vollmer.
Vollmer: Nie, nie, nie in meinem Leben wollte ich Politikerin werden und bin es dann doch geworden!
Sprecherin: Fräulein Unbekannt als Verlegenheitskandidatin der Agraropposition.
Burchardt: Petra Kelly war damals in Brüssel und war auch liiert mit dem damaligen EU- - oder EG hieß das damals noch - Agrarkommissar Sicco Mansholt. Haben Sie Petra Kelly in der Zeit kennengelernt?
Vollmer: Nein, ich hab sie nicht kennengelernt. Ich hab nur später auch von ihr dann gehört, dass es ihr, die ja eine unglaubliche Faszination auf Leute ausstrahlen konnte und auch wirklich radikale Lebensbrüche erzeugen konnte sowohl bei Sicco Mansholt als auch bei Gert Bastian, dass es ihr auch gelungen ist, den Protagonisten der EG-Agrarpolitik, und zwar der Wachstumspolitik, der Massenproduktion ...
Burchardt: ... Subventionspolitik, Preisbindung ...
Vollmer: ... Subventionspolitik, ja, und des Zerstörens der kleinen bäuerlichen Betriebe, gerade den umzudrehen, sodass er in seinem Alter auch einen Öko-Hof betrieben hat, das ist schon erstaunlich!
Burchardt: Wir sind jetzt sozusagen an der Schnittstelle von Ihrer ich sag jetzt mal basisorientierten und auch sehr persönlich ausgerichteten Tätigkeit in der Landwirtschaft zur Politik. - Nicht hardcore, zugegeben, aber Sie sind ja, auch ohne dass Sie Parteimitglied der Grünen waren, sind Sie ja schon in den Bundestag '83 eingezogen. Kurzer Blick noch zurück: Wenn wir uns diese Zeit überlegen, '69: Das war ja auch die Schnittstelle von der Großen Koalition auf die sozialliberale, Bundeskanzler wurde Willy Brandt, der damals auch den Slogan brachte im Oktober 1969, mehr Demokratie wagen, in seiner Regierungserklärung. War das ein Prädikat, das eigentlich nach Ihrer Meinung schon überflüssig oder dringend notwendig war?
Vollmer: Also mehr Demokratie wagen fand ich großartig. Ich weiß auch also aus meiner Zeit der kirchlichen Hochschule in Berlin, dass sowohl mal früher für Heinemann als auch für Willy Brandt viele von denen damals auch Wahlkampf gemacht haben, auch begeistert. Ich war, außer der Zustimmung zu diesem mehr Demokratie, war eigentlich nie so sehr da interessiert in dieser Zeit. Ich war auch keine Sozialdemokratin, ich habe auch Willy Brandt damals manchmal als merkwürdig unentschlossen empfunden, also aus meiner Beobachtung. Wobei mich das immer interessiert hat, was dieses Melancholische an ihm ist. Also später habe ich ihn dann ...
Burchardt: ... da gibt es viele Bücher inzwischen ...
Vollmer: ... sehr viel näher kennengelernt und ich habe auch den Eindruck, dass der Willy Brandt nach seiner Kanzlerschaft auch politisch der viel Entschlossenere war, was natürlich eigentlich nicht stimmen kann, weil seine ganz, ganz große Leistung die Entspannungspolitik war. Aber da hab ich eher oft Egon Bahr als den führenden Kopf gesehen, dessen Lebensleistung ich immer außerordentlich respektiert habe, weil sie genau dieses ungewöhnliche Überwinden einer für ewig geltenden Grenze beinhaltet hat.
Burchardt: Das war ein eiserner Vorhang und da wurde jetzt endlich mal was aufgeweicht.
Vollmer: Ja, und das zu wagen und das gegen die Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung zu wagen. Also da erschien mir diese gesamte Truppe um Willy Brandt dann doch sehr, sehr interessant. Aber also in die Partei zu gehen, hätte mir überhaupt nicht nahegelegen, ich hatte auch gar kein Motiv. Also ich kann jedenfalls von mir sagen, nie, nie, nie in meinem Leben wollte ich Politikerin werden und bin es dann doch geworden.
Burchardt: Ja, das wird mal spannend zu hören sein: Warum? Sie sind dann, Sie haben sich beteiligt, irgendeine Schilderung sagt mal, dass Sie eigentlich für sich selber auch sagen, huch, ich bin mit einer Gegenstimme gewählt worden bei einer Basisversammlung oder Nominierungsversammlung, im hessischen Bereich war das, glaube ich ...
Vollmer: ... nein, das war in Nordrhein-Westfalen ...
Burchardt: ... waren Sie da sehr erstaunt?
Vollmer: Ja, absolut! Also ich war wie gesagt die Verlegenheitskandidatin der Agraropposition, und zwar deswegen, weil die Bauern damals alle von ihren Höfen nicht weg konnten, die eigentlich gewollt waren von den Grünen, und weil auch denen die Grünen ehrlich gesagt ein bisschen zu windig waren. Also die wollten auch ihre langfristig geplante Oppositionsarbeit auch in den Bauernverbänden nicht riskieren für eine etwas verrückte Truppe. Und da bot sich an, dass ich es mal versuchen könnte. Also ich war sozusagen frei, ich hatte auch gewisse Konflikte in diesem Haus in Bethel und in dieser fundamentalistischen, jetzt religiös fundamentalistischen Umgebung, und hab dann gesagt, also versuchen wir's, und komme auf diese Landesversammlung und lande wirklich auf dem zweiten Platz der Liste. Und meine einzige Qualifikation war, dass ich Fräulein Unbekannt war. Die Grünen waren damals sehr massiv gegen Prominente. Also auf dieser Versammlung ist Joseph Beuys zum Beispiel nicht gewählt worden und Otto Schily auch erst auf Platz vier oder Platz sechs, also die wirklich Prominenten mussten sich hinten anstellen. Und bei mir war diese Mischung aus: kommt aus der Studentenbewegung, ist alleinerziehende Mutter, ist eine Frau, kennt auch die Agrarpolitik, da müssen wir auch jemand haben. Diese Mischung hat es gemacht und das Nichtbekanntsein. Ich bin dann auch erst mal weggelaufen und es gibt kein Foto von dieser Kandidatur.
Burchardt: Sie hätten die Wahl und die Nominierung natürlich auch ablehnen können.
Vollmer: Nein, natürlich habe ich das nicht gemacht, aber so weit reichte meine Kraft noch, ich wusste noch gar nicht, was damit auf mich zukommt, weil in dieser Zeit war ich doch bei öffentlichen Auftritten ... ja, das hat sich auch lange als mein problematisches oder Nicht-Markenzeichen herausgestellt, sehr scheu und eigentlich nicht so wahnsinnig gut dafür geeignet.
Burchardt: Aber ist es nicht so, dass gerade Leute wie Sie, die zunächst einmal frisch und vielleicht auch gegenüber dem gesamten politischen Professionalismus sehr authentisch wirken Ist das nicht eigentlich eine Marke, mit der man auch eigentlich ganz gut in der Politik reüssieren kann? - Und Sie haben das ja auch!
Vollmer: Das habe ich dann natürlich hinterher auch registrieren können und auch begriffen, in mir selbst begriffen, dass das so ist, dass das einen auch unterscheiden kann von anderen. Aber das war ja, ich sag mal, es war ja eine Mischung. Ich war trotz allem all diese Zeit ein politisch denkender Mensch mit einem Versuch eines sorgfältigen Urteils gewesen. Also ich war kein politischer Naivling, aber ich kam sozusagen frisch von der Wiese. Und auch in einer Gruppe, in der man sonst gar nicht hätte überleben können. Also die Grünen hatten ja eine äußerst wirre, auch extrem anstrengende, aber auch unglaublich aufregende, knisternde Zeit.
Burchardt: Ja, es wurde ja bei öffentlichen Fraktionssitzungen wurde ja geheult und was war da alles unterwegs.
Vollmer: So, und also da war, ich sag mal ausgestattet zu sein mit ein bisschen Menschenerfahrung und Lebenserfahrung, auch keine schlechte Voraussetzung.
Burchardt: Würden Sie eigentlich eine Parallele ziehen aus den Anfangsjahren der Grünen auch nachher im Parlament zu der Behandlung der Linken in der - also der Partei Die Linke -, in den oder aus den etablierten Parteien heraus? Früher waren die Grünen die Schmuddelkinder, jetzt sind es die Linken? Und irgendwann werden die ja auch in der Regierung landen, ist zu vermuten.
Vollmer: Also so wird es sicher kommen und diese Parallele ist mir jedenfalls immer aufgefallen. Deswegen habe ich auch versucht, auch als ich dann später Vizepräsidentin war, demonstrativ auch die Linken höflich und mit Respekt zu behandeln, weil mir das selber in Erinnerung war, wie wir permanent - und ich meine, ich war auch schon 40, als ich in den Bundestag kam -, aber behandelt wurden von den anderen Abgeordneten, als sei an uns noch ein höherer Erziehungsauftrag zu erfüllen. Und das teilweise von Leuten, die gleichaltrig waren mit uns. Also die deswegen gar nicht akzeptierten, dass wir einen eigenen Weg von eigenem Recht in die Politik gemacht haben, sondern immer meinten, sie müssten uns da noch so ein bisschen an uns abschleifen oder uns abkanzeln. Und als ein stolzer Mensch hat mich das immer gekränkt und ich fand auch, dass dieser Umgang mit den Linken seine Probleme hat. Außerdem erzeugt er ja nicht das, was er will: Er erzeugt nicht Erziehung, sondern er erzeugt Trotz und das Gefühl von Kränkung. Und das ist meistens nicht gut. Denn irgendwann müssen alle immer mal miteinander wieder in einer nächsten Situation zusammenarbeiten und da sind die vergangenen Kränkungen aus den letzten Epochen fast immer sehr hinderlich.
Sprecherin: Im Zeitzeugengespräch: Antje Vollmer.
Vollmer: Ich habe eine tief sitzende Zufriedenheit, dass wir uns mit den richtigen Themen beschäftigt haben.
Sprecherin: Grüne Parlamentsabgeordnete und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
Burchardt: Sie haben ja eben so nebenher eine ganz wichtige Epoche in Ihrem politischen Leben genannt, nämlich Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, das waren Sie immerhin elf Jahre lang. Wie haben Sie haben Sie denn vor dem Hintergrund der Frage, Grüne sind angekommen oder nicht, seinerzeit dieses "wunderbare" Erlebnis - das sage ich jetzt mal in Anführungsstrichen -, Joschka Fischer gegen Ihren Parlamentspräsidentenkollegen Herrn Stücklen empfunden, wo Fischer ihm aus dem Parlament wörtlich zurief: "Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch!"? Haben Sie da gezuckt oder haben Sie gedacht, richtig, das war mal fällig!
Vollmer: Also ich wusste, dass das ein typischer Fischer ist, der bisschen die Fortsetzung des Stils des Straßenkämpfers in die parlamentarische Sphäre bedeutete, aber auch nicht mit letztem Ernst zu sehen war. Ich selber hab aber ja irgendwann sogar auch mal darüber mal was geschrieben, wie mir ...
Burchardt: Wie wurde das denn im Ältestenrat behandelt?
Vollmer: Da war ich ja noch nicht im Ältesten ...
Burchardt: ... ach, da waren Sie noch nicht ...
Vollmer: Ja, da waren wir doch weit draußen, das war doch ganz am Anfang, das war im Jahre 83, da wurde das dann entsprechend sanktioniert. Aber ich selber hab also sehr stark reflektiert, was diese parlamentarische Erfahrung übrigens gerade mit den toleranten Abgeordneten bei den Grünen - also zum Beispiel Hildegard Hamm-Brücher oder Herr Westphal, der war damals Vizepräsident -, die haben unser Gefühl des extremen Außenseitertums, dessen, dass das Parlament für uns nur Spielball war, das war, das sind ja alles so Begriffe, die wir damals hatten, der Antiparteienpartei von Petra Kelly ... Die haben Stück für Stück uns würde ich mal sagen zivilisiert, aber in einem guten Citoyen-Sinn, nämlich, dass es eine einzige Stelle gibt in dieser Republik, wo alle mit gleichem Recht sind, egal ob sie nun aus einer besseren Schicht kommen oder aus einer niederen, ob sie von links oder von rechts kommen, also dass das sozusagen die Zivilisierung des Bürgerkriegs ist und dass man es nicht begreift, wenn man meint, man müsste den Bürgerkrieg rhetorisch oder im Verhalten oder in den Hassattacken im Parlament fortsetzen. Dass man dann einfach ein bisschen dumm ist.
Burchardt: Wie sehen Sie denn die 80er-Jahre in der Entwicklung? Wir hatten da ja nun wirklich Themen, die den Grünen sozusagen wie heute auch wieder in die Hände gefallen sind: die Antiatomkraftbewegung, NATO-Nachrüstung, all diese Dinge, die Sie ja auch begleitet haben. Was hat das für Ihre persönliche politische Entwicklung bedeutet? Haben Sie gesagt, na da wird ja doch jetzt einiges durchgezogen - gerade auch unter der Regierung von Helmut Schmidt, und Helmut Kohl hat es dann ja auch weiter betrieben -, oder würden Sie auch sagen, es war sehr, sehr wichtig, dass wir einfach, Stichwort Gorleben, ja auch nicht so weit von Lübbecke entfernt. Wie ist das bei Ihnen selber in der politischen Sozialisation angekommen?
Vollmer: Also, ich bin - in der rückblickenden Summe habe ich natürlich eine Erinnerung an alle Turbulenzen und Kämpfe und so, aber ich habe eine tiefsitzende Zufriedenheit, dass wir uns mit den richtigen Themen beschäftigt haben, und auch das Gefühl der Veränderung der Republik. Und Sie können ja sehen, gerade aus dieser Zeit: Es gäbe kein Frauenministerium, ohne dass die Grünen damals mit dieser großen Gruppe von Frauen gekommen sind, es gäbe kein Umweltministerium, das gab es nicht, es gäbe kein Kulturministerium, das war nachher eine rot-grüne Erfindung, auch das Aufnehmen der Entspannungspolitik aus der sozialliberalen Ära in die Friedensbewegung. Und die Ideen, dass man den Eisernen Vorhang überwinden muss, und zwar von unten, wenn er von oben nicht zu überwinden ist, das sind doch alles Bewegungen gewesen, die außerordentlich wichtig waren. Auch das Aufnehmen von Minderheiteninteressen, die Frage der Homosexuellen. Ich weiß, dass ich ganz früh mit Willy Brandt darüber diskutiert habe, wir sind doch eigentlich ein Einwanderungsland, müssen wir uns nicht ähnliche Regeln wie in Kanada heranziehen. Das ist, wenn man jetzt sieht, was heute die Republik beschäftigt, vieles von dem ist da rechtzeitig thematisiert worden, und zwar im Parlament. Also ich fand immer schwierig ...
Burchardt: Aber wurde das nicht ernst genommen? Warum ist das dann wieder unter den Tisch gefallen?
Vollmer: Was heißt ernst nehmen? Ernst nehmen heißt, dass es eine gesellschaftliche Wirkung hat, Ernst nehmen heißt nicht nur, dass es sofort Regierungsbeschluss wird, sondern dass es die Gesellschaft verhindert, und in dem Sinne finde ich, sind diese Veränderungen enorm passiert. Also bis hin dann zur Zusammensetzung des politischen Personals. Angela Merkel wäre nicht Bundeskanzlerin, wenn es nicht zum ersten Mal die Grünen in der Fraktionsspitze gegeben hätte und so weiter. Die CDU hat darauf reagiert. Selbst Leute wie Heiner Geißler haben ja das Intelligente an diesen neuen Ansätzen begriffen und versucht, einen Teil davon auch in die konservative Sphäre zu bringen. Also ich habe viele Langzeitwellen von diesen ersten Jahren gespürt und finde deswegen überhaupt nicht, dass das die Zeit unseres Kindergartens war.
Vollmer: Dazu muss ich jetzt aber meine Haltung zur Deutschen Einheit sagen: Sie kam mir zu schnell.
Sprecher: Die friedliche Revolution und alternative Aspekte zur deutschen Wiedervereinigung.
Burchardt: Sie haben ja vorhin gerade in Ihrer, mit Verlaub, Ihre Eloge über Willy Brandt, die ist ja auch gerechtfertigt, dessen Verdienste für die Entspannungspolitik hervorgehoben, wie haben Sie selber damals die Wiedervereinigung erlebt oder die Einheit Deutschlands und insbesondere auch sozusagen die Neugründung von Bündnis 90/Die Grünen? Das war ja sozusagen dann auch die Adaption oder der Zusammenschluss mit damals ja eher noch virtuell existierenden Grünen aus der DDR.
Vollmer: Ich habe damals ja einen Begriff gehabt, der hieß ökologische Bürgerrechtspartei, dass das eigentlich gerade um die Zeit der Wende und in Verbindung mit den vielen Bürgerrechtlern aus der damals noch DDR, das sei die modernste Beschreibung für die Grünen. Da gab es auch parteiintern viele Widersprüche und Kämpfe, weil viele meinten, wir würden dann zu sehr die linke Identität aufgeben. Aber diesen Zusammenschluss habe ich sehr, sehr begrüßt und ich habe ihn auch als Rückendeckung mir gewünscht, um gegenüber manchen sehr linksdogmatische Positionen in der Partei angehen zu können. Also da war ich damals ganz besonders kritisch, das hat sich dann im Laufe der Zeit aber auch wieder geändert. Also ich bin ja eigentlich - ich hatte ja mal eine Gruppe gegründet bei den Grünen, die hieß "Der grüne Aufbruch" und die hatte per Programm eigentlich die ständige Veränderung der grünen Balance. Damit man auch die Wertkonservativen nicht verliert, aber umgekehrt auch nicht die Linken verliert. Also so eine Art zentristischer Position.
Burchardt: Waren denn da Irritationen nach Ihrer Meinung unterwegs, weshalb die Grünen ja auch dann erst mal nicht in den Bundestag wiedergewählt wurden?
Vollmer: Also dazu muss ich jetzt aber meine Haltung zur Deutschen Einheit sagen: Sie kam mir zu schnell. Und das war auch, glaube ich, die Meinung der ganzen Führung der Bürgerrechtler im Osten. Die hätten sich gewünscht eine gewisse Zeit der Selbstbestimmung noch, und das Modell, was ich damals entwickelt habe, hieß eine Konföderation - übrigens war das gar nicht so weit weg von dem Zehn-Punkte-Programm von Helmut Kohl, der sprach da ja auch nur von der Konföderation. Aber es war auch nicht weit weg von dem, was Günter Grass gesagt hatte, nämlich eine Nation, aber für eine gewisse Zeit lang noch zwei Staaten zu haben und das schon damals aus Wirtschafts- und sozialen Gründen. Denn das war mir klar, das hatte ich auch aus Beratung mit dem Bundesbankpräsidenten Pöhl längst gehört, dass die schnelle Währungsunion heißt: Die gesamte Wirtschaft der DDR ist von heute auf morgen faktisch zusammen - muss zusammenbrechen.
Burchardt: Der Druck auch von unten kam ja aus dem Osten. Glauben Sie wirklich, auch nachträglich betrachtet, ernsthaft, dass das noch aufzuhalten war? Es war ja einfach nur noch nach dem Motto: Kommt die Magd nicht zu uns, gehen wir zu ihr. Also letztendlich musste da ja was geschehen, um nicht da eine Massenvölkerwanderung in die Wege zu setzen.
Vollmer: Aber daran haben natürlich zwei kräftige Kräfte mitgewirkt. Das eine, der Druck der Wahlen - Helmut Kohl hätte im Westen die Wahl verloren, eigentlich wäre Rot-Grün dran gewesen, wenn er nicht diese Basisbewegung aus dem Osten gehabt hätte, und das Zweite waren die Medien. Bis heute bin ich der Meinung, dass die Änderung der Parole "Wir sind das Volk" in "Wir sind ein Volk" eine medienproduzierte Revolution war, und das haben wir damit auch zum ersten Mal gesehen, welchen unglaublichen Reiz das für Medien hat, Teil von revolutionären Beschleunigungen zu werden. Das ist sicher gegeben. Wem ich widerspreche ...
Burchardt: Das ist wahrscheinlich ... ja ...
Vollmer: Wem ich widerspreche bis heute, ist, dass es da nicht die Deutsche Einheit gegeben hätte.
Burchardt: Das ist wahrscheinlich keine faire Frage, aber würden Sie jetzt sagen sollen, wie das gelaufen ist bis heute, auch mit dem Gefälle, würden Sie sagen, wir hätten es wirklich anders machen sollen?
Vollmer: Ja, ich bin immer eine Verfechterin davon, dass die Position, die eine historische Niederlage erlitten hat, nicht heißt, dass sie unmöglich gewesen wäre. Also ich hasse diese doppelte Niederlage, die eine im Moment und die zweite dann in der späteren Geschichtsschreibung. Das gab es auch bei dem deutschen Widerstand: Wer verloren hat, der verliert dann auch noch mal im Gedächtnis der Leute. Das ist jetzt keine wirkliche Parallele, aber sagen wir mal, es hätte damals die SPD für diese Zeit noch mal Willy Brandt als Spitzenkandidat gehabt, hätte sie gewonnen. Und Oscar Lafontaine hat das ja neulich dankenswerterweise gesagt: Für diesen Moment war ich dann auch - man darf auch nicht vergessen, er hatte das Attentat hinter sich - der falsche Kandidat. Und er kam vom westlichsten Westen. Für diese Situation war er nicht der, der die Einheit auch an den Wählerstimmen schaffen konnte.
Burchardt: Aber er hat Ihre Position gehabt seinerzeit.
Vollmer: Aber ich wollte sagen, hätte die SPD das gemacht, dann hätte sie gewonnen, und dann hätte sie das Konzept in der Hand gehabt, und dann wäre es auch auf die Einheit zugegangen. Vielleicht etwas sozial vorsichtiger, vielleicht etwas wirtschaftlich vorsichtiger. Auch solche Debatten gab es ja damals: über eine Sonderwirtschaftszone, über einen variierten Wechselkurs und so weiter. Also es gab Konzepte. Nicht von ungefähr ist jemand von der Kompetenz von dem Pöhl dann zurückgetreten oder zurückgetreten worden, der gesagt hat, ich kann also solchen wirtschaftlichen Unsinn nicht mitmachen. Es ist trotzdem irgendwie gegangen - ich respektiere das, ich anerkenne das, ich sehe auch, dass vieles gut gegangen ist Ich widerspreche nur dem Satz: Anders wäre es auf keinen Fall gegangen, denn die Hauptthese ...
Burchardt: Ja, der Begriff alternativlos ist sehr oft jetzt im politischen Raum zu hören, das gilt auch für ...
Vollmer: Und der ist Ideologie. Der ist Ideologie, und die zusammenbrechende Sowjetunion hätte niemals, weder die DDR noch Polen noch die Tschechoslowakei im eigenen Machtbereich halten können. Das wäre auch auf anderem Wege passiert, diese Loslösung und damit die Verringerung des sowjetischen Imperiums.
Vollmer: Der Weg führt nicht um die Vertriebenen herum, sondern durch sie hindurch.
Sprecher: Deutsche Vertriebene. Antje Vollmer und die Zukunft.
Burchardt: Wir müssen noch ein Thema ansprechen, weil es auch wichtig ist, glaube ich, für Sie, das vielleicht auch mal klarzustellen. In vielen Veröffentlichungen findet sich immer wieder, Sie hätten sich auf die Seite der Vertriebenen - Sie haben sich ja sehr für Minderheiten eingesetzt und Sie hatten sich ja sehr auf die Seiten der Vertriebenen gestellt, insbesondere der Sudetendeutschen. Ist das unfair, dass man Ihnen das so vorhält, oder ist das für Sie so eine Art politischer Befriedungsversuch gewesen?
Vollmer: Also mich verblüfft, dass Sie sagen, dass man mich auf die Seite der Vertriebenen stellt, die Vertriebenen sehen das ganz anders. Also ich glaube, da ist es mir genau gelungen, auf der Messerschneide zwischen beiden Fronten zu sein.
Burchardt: Ich erwähne es, weil Sie die Tschechoslowakei eben genannt haben.
Vollmer: Ja, ich wollte eine neue Initiative in Bezug auf die Tschechoslowakei, und das war die Tschechoslowakei Václav Havels, der viele Versuche gemacht hatte, mit den Deutschen irgendwie in ein intensiveres Gespräch zu kommen, unter anderem angeboten hat, dass die früheren Sudetendeutschen Bürger der Tschechoslowakischen Republik hätten werden können. Das ist nicht mal verhandelt worden damals von Helmut Kohl. Und diese Initiative ...
Burchardt: Diese ganze Diskussion
Vollmer: Diese Initiative wolle ich aufgreifen - damals war ich dann schon Vizepräsidentin, deswegen konnte ich das überhaupt auch nur mit einer gewissen Sichtbarkeit - und hatte dann aber begriffen, der Weg führt nicht um die Vertriebenen herum, sondern durch sie hindurch. Also man muss auch mit ihnen sprechen und die Gutmeinenden mit in diesen Prozess einbeziehen. Und dafür fand ich ein gewisses Eingeständnis, dass uns Linke das Schicksal der Vertriebenen verdammt wenig interessiert hatte und dass es da auch an Mitgefühl gefehlt hat und dass wir zu leichtfertig gesagt haben, jemand muss da halt die Schuld übernehmen, und dann sind die das halt gewesen, sonst wären es andere gewesen. Dass das letztendlich sogar historisch dumm und strategisch dumm war, weil es die Vertriebenen ganz und gar zum festen Bestandteil der CSU und des rechten Lagers gemacht hatte - was sie ja von Natur aus gar nicht sein mussten -, und deswegen fand ich, dass diese Geste notwendig war.
Und damals sprachen noch wenige davon, dass auch alle diese Vertriebenen wirklich schwer traumatisierte Menschen waren. Ich wollte aber damit natürlich auch erreichen, dass sie aufhören dürfen, politisches Instrument von Parteipolitik zu sein. Und diese Debatte ist doch so heftig geführt worden, dass sie auch das Lager der Vertriebenen ausdifferenziert hat, was ich immer einen Fortschritt finde, wenn sich feste ideologische Blöcke allmählich auflösen und in wirkliche ehrliche Debatten kommen und nicht mehr in den alten Grabenkämpfen verharren.
Und am Ende stand dann diese deutsch-tschechische Erklärung - hat lange, lange gedauert, ich musste sehr oft den Tschechen erklären, warum so was überhaupt so lange dauert, nachdem sie von Gorbatschow an einem Nachmittag aus dem Warschauer Pakt entlassen waren, warum eine viel länger zurückliegende Erklärung des Verhältnisses zu den Deutschen so lange dauert, aber es hat gewirkt. Und wenn ich heute zurück gucke, damals, als ich das anfing, war ja das Verhältnis zu den Polen wunderbar, und zwar durch die Initiativen von Willy Brandt und in Warschau und so weiter, und nur das Verhältnis zu den Tschechen war kompliziert. Wenn wir jetzt die letzte Entwicklung sehen, dann sieht man, die Tschechen haben sich an die wirklichen heutigen politischen Verhältnisse in Deutschland gewöhnt und sind nicht mehr unter Schock und Trauma, und mit den Polen mussten wir da noch mal durch einen solchen Prozess hindurch, und vielleicht auch deswegen, weil es da keinen Willy Brandt mehr gab, der das mit Autorität hätte klären können.
Burchardt: Würden Sie denn, um das mal zu benamen, Frau Steinbach empfehlen, ihre Position mal zu adaptieren?
Vollmer: Ich habe Frau Steinbach schon sehr früh gesagt, als es übrigens noch unter Rot-Grün ja ein Akzeptieren dieses Zentrums gab, aber auf wissenschaftlicher Basis , sich mit den Vertreibungen in den Geschichten der europäischen Völker zu beschäftigen, und das ja auch schon verhandelt war, habe ich gesagt: Frau Steinbach, wenn Sie doch begreifen würden, jetzt haben Sie gewonnen in der Sache. Und aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, wenn man in so einer Sache gewonnen hat, dann muss man sich als Person zurückziehen, dann müssen nämlich andere Väter und Mütter dieser Initiative werden. Nur dann sind sie auf Dauer historische Erfolge. Aber diese Weisheit hat sie wirklich nicht gehabt, und darüber kann man auch viel nachdenken, warum sie das nicht hingekriegt hat, und jetzt haben wir einen Kladderadatsch.
Burchardt: Frau Vollmer, wir müssen zum Schluss - das Schlusswort soll nicht Kladderadatsch sein. Was machen Sie augenblicklich und sind Sie zufrieden mit dem, was Sie auch noch politisch bewirken können? Sie sind ja bis in die Lehre gegangen inzwischen.
Vollmer: Ich habe die letzten drei Jahre mit das Tollste gemacht, nämlich an einem Buch geschrieben über Heinrich und Gottliebe von Lehndorff, das sind Leute aus dem ganz engsten Kreis derer gewesen, die wirklich versucht haben, nicht nur Hitler zu töten, sondern auch die NS-Macht in Deutschland zu stürzen mit einem Staatsstreich, und die waren fast vollständig vergessen. Das ist ein Beispiel dafür, von einer doppelten Niederlage, gegen die man einfach angehen muss. Und die Tatsache, dass es dieses Buch jetzt gibt und dass man sich mit der Geschichte beschäftigen kann, ist auch für mich persönlich sehr wichtig. Ich habe übrigens unglaublich viel gelernt. Dieser Teil des deutschen Widerstands - also der militärische - der lag uns ganz besonders fern, er war aber der einzige, der diese ganzen Verbrechen, wenn er Erfolg gehabt hätte, wirklich rechtzeitig - nein, nicht mehr rechtzeitig, aber ein Jahr vor dem bittersten Ende hätte beenden könnten, und das ist die wirkliche Tragödie. Es gab welche, die es beenden wollten, sie haben sogar einen umfassenden Plan gehabt, und der ist dann trotzdem gescheitert.
Antje Vollmer: Und der Krieg war eigentlich überall.
Sprecher: Herkunft aus Ostwestfalen und die deutsche Nachkriegszeit.
Rainer Burchardt: Frau Vollmer, Sie sind Westfälin. 1943 geboren in Lübbecke, Zwilling, 31. Mai. Sind Sie auch ein bisschen ein westfälischer Dickkopf?
Vollmer: Ich bin ja Ostwestfälin, und Ostwestfalen sind ein bisschen anarchistische Dickköpfe. Also die sind schwer umzustimmen, wenn sie von einer Sache sehr überzeugt sind, aber gleichzeitig sehr bodenständig.
Burchardt: Gab es in Ihrem Leben Situationen, wo Sie sagten, also da gehe ich jetzt mit dem Kopf durch die Wand, das ist mir völlig egal, hier lasse ich mich nicht in irgendeiner Form noch vom Wege abbringen?
Vollmer: Na ja mit dem Kopf durch die Wand ist für mich glaube ich nicht der richtige Ausdruck, aber da muss ich weitergehen, selbst wenn ich ganz alleine bin. Das ist ja ein bisschen was anderes, weil das ... Also ich zögere lange, bevor ich mir was vornehme, was besonders schwierig ist. Wenn ich es dann aber als richtig erkannt habe, dann kann mich auch Widerstand nicht so einfach davon abbringen. Aber durchaus mit dem Gefühl, dass das dann eine harte Sache ist.
Burchardt: In welchem Elternhaus sind Sie groß geworden?
Vollmer: Meine Eltern hatten ein Textilgeschäft ganz wunderbaren altmodischen Zuschnitts, also sehr viel Stoffe, Aussteuer, extrem gute Bett- und Tischwäsche, Betten, Knöpfe, das Geschäft gehörte zu den ersten, die in dieser ganzen Kette der Vernichtung des Einzelhandels dann schließen musste, weil sie sich nicht schnell genug auf diese moderneren Bedingungen der Kaufhäuser einstellen konnten.
Burchardt: Als der Krieg zu Ende war, waren Sie zwei Jahre alt. Ich vermute mal, Sie haben nicht allzu viele Erinnerungen daran, aber aus der Nachkriegszeit. Wie haben Sie so die ersten fünf Jahre oder die vier Jahre bis zur Gründung der Bundesrepublik erlebt?
Vollmer: Also ich habe sehr präzise Erinnerungen daran und kann nicht mehr genau unterscheiden, ob das aus den Gesprächen der Erwachsenen war oder ob ich das schon selber gemerkt habe. Also das war ja die schwierigste Zeit, die unmittelbare Nachkriegszeit mit sehr viel äußerer Armut. Die Stadt, in der ich war, war wenig zerstört, da war nur eine Kleinstadt, da war nur eine Bombe gefallen. Aber später hat sie dann selber durch städtebauliche Planung und unvernünftige Baudirektoren eine Menge an dieser schönen Substanz zerstört. Aber die Menschen habe ich sehr, heute würde man sagen traumatisiert erlebt. Eine Putzfrau, die erzählte von den Erlebnissen in Schlesien, und der Krieg war eigentlich überall. Und ich erinnere mich, da war ich schon etwas älter, als in der Zeitung die Überschrift stand, "Wiederaufrüstung der Bundeswehr", soll ich kreidebleich geworden sein und umgekippt, und meine Eltern sagten, was hat das Kind, was hat das Kind, und ich sagte, es gibt wieder Krieg.
Burchardt: Das war Anfang der 50er-Jahre, die Neuaufrüstungsdebatte.
Vollmer: So, das heißt, dass der Krieg das Allerschlimmste ist, dass er die Menschen also auf Jahre hin eigentlich lebensunfähig macht. Das hab ich glaube ich relativ früh begriffen, deswegen war es auch eins der größten Themen meiner Jugendzeit.
Burchardt: Sie sind in Lübbecke zur Schule gegangen, vermute ich?
Vollmer: Ja, Gymnasium.
Burchardt: Wie waren denn Ihre Lehrer drauf, das waren ja im Grunde genommen noch Leute, die, ich würde mal ja sagen, pädagogisch in der Nazizeit sozialisiert worden sind?
Vollmer: So eine und so eine. Also ich erinnere mich an heftige Auseinandersetzungen mit Lehrern und auch dem, was sie so an literarischem Angebot brachten, das war alles eher deutsch-national. Ich erinnere mich aber auch an Lehrer, die großartig waren und also mit uns ungeheuer viel diskutiert haben auch über die Nazizeit. Ich erinnere mich, dass wir mit einem dieser Lehrer das erste Mal in eine jüdische Gemeinde in Minden gefahren sind und dass das für also die ganze Schulklasse schon vorweg eine extreme Befangenheit war. Und ich erinnere mich an Lehrer, die mich nach dem Abitur ungefähr mit der Empfehlung losschickten, geh du mal nach Berlin!
Sprecher: Antje Vollmer, ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages im Zeitzeugengespräch.
Vollmer: Im Zweifel muss man es ganz alleine tun.
Sprecher: Vorbild, bekennende Kirche, Studium und erste Berufsstationen.
Burchardt: Wann sind Sie politisch sozialisiert worden?
Vollmer: Bin sozialisiert worden wenn, dann durch diese Lehrer - also der eine war vor allen Dingen mein Geschichtslehrer - und dann durch die Kirchengemeinde, die sich sehr in der Tradition der bekennenden Kirche verstand. Und das erste große politische Thema, was mich mein Leben lang begleitet und am Ende wieder stark eingeholt hat, war also des versäumten Widerstands gegen Hitler und der wenigen positiven Beispiele. Und Bonhoeffer war glaube ich, das würde ich heute so sagen, das Hauptmotiv, dass ich überhaupt Theologie studiert hab. Also nicht aus religiösen Gründen, ich kam nicht aus einem religiösen Elternhaus, war auch nie Pfarrerstochter, wie mir immer nachgedichtet wird, sondern das war eher ein amusisches und areligiöses Leben bei uns zu Hause. Aber diese Kirchengemeinde gab mit dem, womit sie sich beschäftigte, also meiner Neugier, meinem Suchen, irgendwie ein Ziel.
Burchardt: War Bonhoeffer für Sie so etwas wie eine Ikone gegen das Nazitum und für mehr Menschlichkeit in Systemen, die man eigentlich unerträglich finden muss?
Vollmer: Ja, vor allen Dingen war er so ein Vorbild, im Zweifel muss man es ganz alleine tun und muss dann alle Konsequenzen auf sich nehmen.
Burchardt: Sie waren ja später während Ihrer Lebenszeit auch in Bethel immer wieder. Hat da Bonhoeffer auch so was wie eine Leitplanke gebildet für Sie?
Vollmer: Auch das muss ich sagen, weder wollte ich gleich in die Landwirtschaft, noch auf gar keinen Fall wollte ich nach Bethel.
Burchardt: Aber Sie haben es alles gemacht!
Vollmer: Das galt mir, als ich Abitur machte, also auch theologisch als viel zu eng. Also wenn, dann haben mich eher Leute wie Gollwitzer dann interessiert und auch die Debatten, die es gerade terroristisch ...
Burchardt: ... also mehr das Spannungsfeld mit der Politik dann ...
Vollmer: ... die es in Berlin gab. Also ich habe ja studiert zu einer Zeit, die eigentlich, wo auch die Professoren eigentlich eher sozialliberal waren. Und gerade als Theologen trafen ja auch viele Leute mit authentischen, guten Biografien. Das ist mir später immer ein bisschen so erstaunlich gewesen, als die Studentenbewegung so sehr radikal gegen diese Professorenpersönlichkeiten vorging, dass ich immer dachte, merkwürdig, für mich waren die eigentlich faszinierend und ein Teil von neuer geistiger Freiheit.
Also ich weiß - ich war ja die Erste aus meiner Familie, die Abitur machte -, als ich in diesen Universitäten war, dass ich dachte: Ist ja unglaublich, die breiten vor dir das ganze Wissen von Jahrhunderten aus und du kannst es einfach nur aufnehmen oder genießen oder dich dafür interessieren. Ich fühlte mich als Studentin privilegiert, das war überhaupt noch nicht die Massenuniversität mit der Perspektivlosigkeit, die wir heute hatten, und ich glaube, dass das für mich sehr gut war. Das war natürlich dann ganz anders, als ich dann mit allem fertig war und in einer Berliner Gemeinde landete und wirklich knallhart auf die Realität eines Pastorenberufs in so einem Problembezirk stieß.
Burchardt: Da waren Sie das erste Mal mit dem Fundamentalismus konfrontiert, vermute ich?
Vollmer: Ach, Fundamentalismus war das damals ja noch nicht so viel, Anfang des ...
Burchardt: Na ja, es war nach 68.
Vollmer: Ja, aber ich war ja mit einer Gruppe von zwei Kollegen in Berlin-Wedding. Damals war das so, dass ... Die Leute mit den besten Examen gingen nicht in die Domgemeinde oder nach Charlottenburg, sondern sie wollten bewusst in die extremsten Arbeiterbezirke gehen. Das war unsere linke Motivation.
Burchardt: Das war für Sie auch tatsächlich so eine Erziehung.
Vollmer: Das war eine ganz bewusste Entscheidung, also die Wichtigsten aus unserem Vikarsjahrgang gingen entweder ins Märkische Viertel oder sie gingen nach Neukölln, Gropiusstadt oder wie wir also in den Wedding. Und das war schon sehr hart, also ich war 24, und wenn Sie dann manche Tage vom Friedhof gar nicht mehr runterkommen, weil nur überalterte Gemeindemitglieder da sind, die Sie dann beerdigen müssen. Oder wir hatten sehr viele Probleme mit Jugendlichen, um die wir uns intensiv gekümmert haben, die ersten Drogenprobleme. Dann war es ein brutales Sanierungsgebiet, also die Leute, die da teilweise 40 Jahre gewohnt hatten in ihren Wohnungen wie in Dörfern, wurden ins Märkische Viertel versandt.
Wir hatten zum ersten Mal auch schon mit Banden zu tun, ich erinnere mich an persönliche Auftritte nur wegen Tapferkeit, als die Veneter Bande mit solchen Kofferschränken von Kerlen da ankam und sehr verblüfft waren, damals hatte das noch eine Wirkung, wenn man sehr klein und sehr frech war und ihnen entgegentrat. Aber das war alles relativ hart und man fragte sich, kann man da eigentlich mit Predigen gegen diese Art von sozialer Realität angehen? Später hat mir das immer sehr geholfen, also diese Basisverankerung, aber danach habe ich ja die Theologie auch aufgegeben, ich hab währenddessen ...
Burchardt: ... waren Sie frustriert oder was war der Grund?
Vollmer: Ich meinte, dass man mit theologischen Mitteln nicht viel ändern könnte. Also ich war mit dieser theologischen Berufsexistenz, ich war nicht mit dem Glauben über Kreuz, sondern mit dem, ob man daraus einen Beruf machen könnte und dann noch ein Leben lang. Und deswegen hatte ich dann noch Pädagogik, zweites Examen gemacht, und suchte dann eine Stelle in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen und kam dann nach Bethel. Also sozusagen über einen großen Umweg und nicht wegen des Fundamentalismus in Bethel, sondern weil das eine Bauernschule war. Und dann fing mein Interesse für Landwirtschaft an, denn auch diese Bauernschule war längst sehr überaltet und man musste was neues anfangen. Und da hatte ich ja nun schon in Berlin gelernt, wie mich überhaupt neue Bewegungen immer außerordentlich interessiert haben.
Burchardt: War das dann die ökologische Landwirtschaft, die dann für Sie so anwuchs und wo Sie sagten, hey das ist ein Ding, da kann ich mich engagieren?
Vollmer: Also genau das war das, ich war ja ein bisschen resigniert auch über die Entwicklung der Studentenbewegung in Berlin, auch ihre innere Härte und dieses Martialische, was sie manchmal hatte, und stellte dann in Bethel fest, es gab auch eine 68-Bewegung auf dem Lande, und die war ganz anders. Und die hat die Urform der ganzen ökologischen Bewegung ...
Burchardt: Waren das die Landkommunen damals?
Vollmer: Landkommunen - bei mir war das schlichtweg die westfälisch-lippische und die evangelische Landjugend und teilweise die katholische Landjugend. In Kommunen durften die nicht so sehr leben, die kamen ja alle fast aus konservativen Elternhäusern, aber sie lebten natürlich davon, dass in dieser beginnenden Ökologiezeit das Leben auf dem Land überhaupt interessant wurde und dass plötzlich begabte junge Leute aus der Stadt, die wahrscheinlich alle auch so ein bisschen Flüchter dieser städtischen Militanz waren, dann plötzlich auf dem Lande was Anderes suchten.
Burchardt: Aber was ging denn in Ihrem Kopf eigentlich vor in dem Moment: Sie sind in einem Problemviertel, im roten Wedding gewesen und haben sozusagen das proletarische Praktikum nun wirklich basisorientiert erlebt. Gab es die Situation, dass Sie, was Sie vorhin schon angedeutet haben: Theologie alleine hat keine politische Wirkung, also gehe ich jetzt aufs Land, halber Rückzug ins Private vielleicht und dann dort doch wieder eine politische Aufgabe gefunden oder was, was war bei Ihnen der Impetus?
Vollmer: Der Impetus war schon, dass man, wenn man etwas sozial verändern will, dass man das im Leben machen muss und dass man das nicht mit Reden tun kann. Auch nicht mit fortschrittlichen Bibelinterpretationen. Also das heißt, das war dann vielleicht doch schon die Sehnsucht nach mehr realer Lebenspraxis oder nach Feldern, in denen man wirklich etwas politisch verändern kann. Nun war natürlich jemand wie Kurt Scharf ein Riesenvorbild für uns gewesen sowohl in seiner ...
Burchardt: ... bekennende Kirche ...
Vollmer: ... bekennende Kirche, sowohl in der Zeit, als auch in seiner Haltung gegenüber zum Beispiel Springer während der Studentenbewegung, der hat sich ja immer sehr entschlossen auf diese Seite gestellt. Aber so eine Rolle habe ich mir auch gar nicht für mich vorstellen können. Und diese Landwirtschaft war damals eben, also diese 68-Bewegung auf dem Lande, die fingen damals an, erstens mit wirklichem Widerstand gegen die Atomkraftwerke. Also im Gegensatz zu vielen Demonstrationen der Studentenbewegung war das ja eine reale Macht. Wenn die mit ihren Treckern da waren, und wenn die ihre Grundstücke nicht gaben für die geplanten Atomkraftwerke, dann bedeutete das was, da musste sich auch die damalige Politik ganz anders mit auseinandersetzen.
Und sie fingen eben an, was ja als vollkommene Utopie galt, einen völlig eigenen Markt aufzubauen, mit eigener Preisbildung, mit eigener Produzenten-Verbraucher-Verbindung, und in dieser Zeit war ich gerade da. Wir haben also in dieser Heimvolkshochschule unheimlich viele Seminare gemacht und vor allen Dingen war das eine extrem positive Stimmung. Also wir haben auch viel Theater gemacht und viel gesungen und sehr kreative Ideen gehabt, wie man das nächste Mal bei einer Demonstration auftritt um wirklich Leute zu gewinnen. Das heißt, vieles von dem, was dann die Grünen später gemacht hatten, war da vorgegeben. Und so bin ich auch überhaupt nur zu den Grünen gekommen, das heißt, die Grünen traten an diese Gruppen der Agrarpolitik heran und haben gesagt - plötzlich mussten sie ja für den Bundestag kandidieren -, schickt uns doch einen ordentlichen Bauern!
Sprecherin: Deutschlandfunk-Zeitzeugin: Antje Vollmer.
Vollmer: Nie, nie, nie in meinem Leben wollte ich Politikerin werden und bin es dann doch geworden!
Sprecherin: Fräulein Unbekannt als Verlegenheitskandidatin der Agraropposition.
Burchardt: Petra Kelly war damals in Brüssel und war auch liiert mit dem damaligen EU- - oder EG hieß das damals noch - Agrarkommissar Sicco Mansholt. Haben Sie Petra Kelly in der Zeit kennengelernt?
Vollmer: Nein, ich hab sie nicht kennengelernt. Ich hab nur später auch von ihr dann gehört, dass es ihr, die ja eine unglaubliche Faszination auf Leute ausstrahlen konnte und auch wirklich radikale Lebensbrüche erzeugen konnte sowohl bei Sicco Mansholt als auch bei Gert Bastian, dass es ihr auch gelungen ist, den Protagonisten der EG-Agrarpolitik, und zwar der Wachstumspolitik, der Massenproduktion ...
Burchardt: ... Subventionspolitik, Preisbindung ...
Vollmer: ... Subventionspolitik, ja, und des Zerstörens der kleinen bäuerlichen Betriebe, gerade den umzudrehen, sodass er in seinem Alter auch einen Öko-Hof betrieben hat, das ist schon erstaunlich!
Burchardt: Wir sind jetzt sozusagen an der Schnittstelle von Ihrer ich sag jetzt mal basisorientierten und auch sehr persönlich ausgerichteten Tätigkeit in der Landwirtschaft zur Politik. - Nicht hardcore, zugegeben, aber Sie sind ja, auch ohne dass Sie Parteimitglied der Grünen waren, sind Sie ja schon in den Bundestag '83 eingezogen. Kurzer Blick noch zurück: Wenn wir uns diese Zeit überlegen, '69: Das war ja auch die Schnittstelle von der Großen Koalition auf die sozialliberale, Bundeskanzler wurde Willy Brandt, der damals auch den Slogan brachte im Oktober 1969, mehr Demokratie wagen, in seiner Regierungserklärung. War das ein Prädikat, das eigentlich nach Ihrer Meinung schon überflüssig oder dringend notwendig war?
Vollmer: Also mehr Demokratie wagen fand ich großartig. Ich weiß auch also aus meiner Zeit der kirchlichen Hochschule in Berlin, dass sowohl mal früher für Heinemann als auch für Willy Brandt viele von denen damals auch Wahlkampf gemacht haben, auch begeistert. Ich war, außer der Zustimmung zu diesem mehr Demokratie, war eigentlich nie so sehr da interessiert in dieser Zeit. Ich war auch keine Sozialdemokratin, ich habe auch Willy Brandt damals manchmal als merkwürdig unentschlossen empfunden, also aus meiner Beobachtung. Wobei mich das immer interessiert hat, was dieses Melancholische an ihm ist. Also später habe ich ihn dann ...
Burchardt: ... da gibt es viele Bücher inzwischen ...
Vollmer: ... sehr viel näher kennengelernt und ich habe auch den Eindruck, dass der Willy Brandt nach seiner Kanzlerschaft auch politisch der viel Entschlossenere war, was natürlich eigentlich nicht stimmen kann, weil seine ganz, ganz große Leistung die Entspannungspolitik war. Aber da hab ich eher oft Egon Bahr als den führenden Kopf gesehen, dessen Lebensleistung ich immer außerordentlich respektiert habe, weil sie genau dieses ungewöhnliche Überwinden einer für ewig geltenden Grenze beinhaltet hat.
Burchardt: Das war ein eiserner Vorhang und da wurde jetzt endlich mal was aufgeweicht.
Vollmer: Ja, und das zu wagen und das gegen die Mehrheitsstimmung in der Bevölkerung zu wagen. Also da erschien mir diese gesamte Truppe um Willy Brandt dann doch sehr, sehr interessant. Aber also in die Partei zu gehen, hätte mir überhaupt nicht nahegelegen, ich hatte auch gar kein Motiv. Also ich kann jedenfalls von mir sagen, nie, nie, nie in meinem Leben wollte ich Politikerin werden und bin es dann doch geworden.
Burchardt: Ja, das wird mal spannend zu hören sein: Warum? Sie sind dann, Sie haben sich beteiligt, irgendeine Schilderung sagt mal, dass Sie eigentlich für sich selber auch sagen, huch, ich bin mit einer Gegenstimme gewählt worden bei einer Basisversammlung oder Nominierungsversammlung, im hessischen Bereich war das, glaube ich ...
Vollmer: ... nein, das war in Nordrhein-Westfalen ...
Burchardt: ... waren Sie da sehr erstaunt?
Vollmer: Ja, absolut! Also ich war wie gesagt die Verlegenheitskandidatin der Agraropposition, und zwar deswegen, weil die Bauern damals alle von ihren Höfen nicht weg konnten, die eigentlich gewollt waren von den Grünen, und weil auch denen die Grünen ehrlich gesagt ein bisschen zu windig waren. Also die wollten auch ihre langfristig geplante Oppositionsarbeit auch in den Bauernverbänden nicht riskieren für eine etwas verrückte Truppe. Und da bot sich an, dass ich es mal versuchen könnte. Also ich war sozusagen frei, ich hatte auch gewisse Konflikte in diesem Haus in Bethel und in dieser fundamentalistischen, jetzt religiös fundamentalistischen Umgebung, und hab dann gesagt, also versuchen wir's, und komme auf diese Landesversammlung und lande wirklich auf dem zweiten Platz der Liste. Und meine einzige Qualifikation war, dass ich Fräulein Unbekannt war. Die Grünen waren damals sehr massiv gegen Prominente. Also auf dieser Versammlung ist Joseph Beuys zum Beispiel nicht gewählt worden und Otto Schily auch erst auf Platz vier oder Platz sechs, also die wirklich Prominenten mussten sich hinten anstellen. Und bei mir war diese Mischung aus: kommt aus der Studentenbewegung, ist alleinerziehende Mutter, ist eine Frau, kennt auch die Agrarpolitik, da müssen wir auch jemand haben. Diese Mischung hat es gemacht und das Nichtbekanntsein. Ich bin dann auch erst mal weggelaufen und es gibt kein Foto von dieser Kandidatur.
Burchardt: Sie hätten die Wahl und die Nominierung natürlich auch ablehnen können.
Vollmer: Nein, natürlich habe ich das nicht gemacht, aber so weit reichte meine Kraft noch, ich wusste noch gar nicht, was damit auf mich zukommt, weil in dieser Zeit war ich doch bei öffentlichen Auftritten ... ja, das hat sich auch lange als mein problematisches oder Nicht-Markenzeichen herausgestellt, sehr scheu und eigentlich nicht so wahnsinnig gut dafür geeignet.
Burchardt: Aber ist es nicht so, dass gerade Leute wie Sie, die zunächst einmal frisch und vielleicht auch gegenüber dem gesamten politischen Professionalismus sehr authentisch wirken Ist das nicht eigentlich eine Marke, mit der man auch eigentlich ganz gut in der Politik reüssieren kann? - Und Sie haben das ja auch!
Vollmer: Das habe ich dann natürlich hinterher auch registrieren können und auch begriffen, in mir selbst begriffen, dass das so ist, dass das einen auch unterscheiden kann von anderen. Aber das war ja, ich sag mal, es war ja eine Mischung. Ich war trotz allem all diese Zeit ein politisch denkender Mensch mit einem Versuch eines sorgfältigen Urteils gewesen. Also ich war kein politischer Naivling, aber ich kam sozusagen frisch von der Wiese. Und auch in einer Gruppe, in der man sonst gar nicht hätte überleben können. Also die Grünen hatten ja eine äußerst wirre, auch extrem anstrengende, aber auch unglaublich aufregende, knisternde Zeit.
Burchardt: Ja, es wurde ja bei öffentlichen Fraktionssitzungen wurde ja geheult und was war da alles unterwegs.
Vollmer: So, und also da war, ich sag mal ausgestattet zu sein mit ein bisschen Menschenerfahrung und Lebenserfahrung, auch keine schlechte Voraussetzung.
Burchardt: Würden Sie eigentlich eine Parallele ziehen aus den Anfangsjahren der Grünen auch nachher im Parlament zu der Behandlung der Linken in der - also der Partei Die Linke -, in den oder aus den etablierten Parteien heraus? Früher waren die Grünen die Schmuddelkinder, jetzt sind es die Linken? Und irgendwann werden die ja auch in der Regierung landen, ist zu vermuten.
Vollmer: Also so wird es sicher kommen und diese Parallele ist mir jedenfalls immer aufgefallen. Deswegen habe ich auch versucht, auch als ich dann später Vizepräsidentin war, demonstrativ auch die Linken höflich und mit Respekt zu behandeln, weil mir das selber in Erinnerung war, wie wir permanent - und ich meine, ich war auch schon 40, als ich in den Bundestag kam -, aber behandelt wurden von den anderen Abgeordneten, als sei an uns noch ein höherer Erziehungsauftrag zu erfüllen. Und das teilweise von Leuten, die gleichaltrig waren mit uns. Also die deswegen gar nicht akzeptierten, dass wir einen eigenen Weg von eigenem Recht in die Politik gemacht haben, sondern immer meinten, sie müssten uns da noch so ein bisschen an uns abschleifen oder uns abkanzeln. Und als ein stolzer Mensch hat mich das immer gekränkt und ich fand auch, dass dieser Umgang mit den Linken seine Probleme hat. Außerdem erzeugt er ja nicht das, was er will: Er erzeugt nicht Erziehung, sondern er erzeugt Trotz und das Gefühl von Kränkung. Und das ist meistens nicht gut. Denn irgendwann müssen alle immer mal miteinander wieder in einer nächsten Situation zusammenarbeiten und da sind die vergangenen Kränkungen aus den letzten Epochen fast immer sehr hinderlich.
Sprecherin: Im Zeitzeugengespräch: Antje Vollmer.
Vollmer: Ich habe eine tief sitzende Zufriedenheit, dass wir uns mit den richtigen Themen beschäftigt haben.
Sprecherin: Grüne Parlamentsabgeordnete und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
Burchardt: Sie haben ja eben so nebenher eine ganz wichtige Epoche in Ihrem politischen Leben genannt, nämlich Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, das waren Sie immerhin elf Jahre lang. Wie haben Sie haben Sie denn vor dem Hintergrund der Frage, Grüne sind angekommen oder nicht, seinerzeit dieses "wunderbare" Erlebnis - das sage ich jetzt mal in Anführungsstrichen -, Joschka Fischer gegen Ihren Parlamentspräsidentenkollegen Herrn Stücklen empfunden, wo Fischer ihm aus dem Parlament wörtlich zurief: "Herr Präsident, mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch!"? Haben Sie da gezuckt oder haben Sie gedacht, richtig, das war mal fällig!
Vollmer: Also ich wusste, dass das ein typischer Fischer ist, der bisschen die Fortsetzung des Stils des Straßenkämpfers in die parlamentarische Sphäre bedeutete, aber auch nicht mit letztem Ernst zu sehen war. Ich selber hab aber ja irgendwann sogar auch mal darüber mal was geschrieben, wie mir ...
Burchardt: Wie wurde das denn im Ältestenrat behandelt?
Vollmer: Da war ich ja noch nicht im Ältesten ...
Burchardt: ... ach, da waren Sie noch nicht ...
Vollmer: Ja, da waren wir doch weit draußen, das war doch ganz am Anfang, das war im Jahre 83, da wurde das dann entsprechend sanktioniert. Aber ich selber hab also sehr stark reflektiert, was diese parlamentarische Erfahrung übrigens gerade mit den toleranten Abgeordneten bei den Grünen - also zum Beispiel Hildegard Hamm-Brücher oder Herr Westphal, der war damals Vizepräsident -, die haben unser Gefühl des extremen Außenseitertums, dessen, dass das Parlament für uns nur Spielball war, das war, das sind ja alles so Begriffe, die wir damals hatten, der Antiparteienpartei von Petra Kelly ... Die haben Stück für Stück uns würde ich mal sagen zivilisiert, aber in einem guten Citoyen-Sinn, nämlich, dass es eine einzige Stelle gibt in dieser Republik, wo alle mit gleichem Recht sind, egal ob sie nun aus einer besseren Schicht kommen oder aus einer niederen, ob sie von links oder von rechts kommen, also dass das sozusagen die Zivilisierung des Bürgerkriegs ist und dass man es nicht begreift, wenn man meint, man müsste den Bürgerkrieg rhetorisch oder im Verhalten oder in den Hassattacken im Parlament fortsetzen. Dass man dann einfach ein bisschen dumm ist.
Burchardt: Wie sehen Sie denn die 80er-Jahre in der Entwicklung? Wir hatten da ja nun wirklich Themen, die den Grünen sozusagen wie heute auch wieder in die Hände gefallen sind: die Antiatomkraftbewegung, NATO-Nachrüstung, all diese Dinge, die Sie ja auch begleitet haben. Was hat das für Ihre persönliche politische Entwicklung bedeutet? Haben Sie gesagt, na da wird ja doch jetzt einiges durchgezogen - gerade auch unter der Regierung von Helmut Schmidt, und Helmut Kohl hat es dann ja auch weiter betrieben -, oder würden Sie auch sagen, es war sehr, sehr wichtig, dass wir einfach, Stichwort Gorleben, ja auch nicht so weit von Lübbecke entfernt. Wie ist das bei Ihnen selber in der politischen Sozialisation angekommen?
Vollmer: Also, ich bin - in der rückblickenden Summe habe ich natürlich eine Erinnerung an alle Turbulenzen und Kämpfe und so, aber ich habe eine tiefsitzende Zufriedenheit, dass wir uns mit den richtigen Themen beschäftigt haben, und auch das Gefühl der Veränderung der Republik. Und Sie können ja sehen, gerade aus dieser Zeit: Es gäbe kein Frauenministerium, ohne dass die Grünen damals mit dieser großen Gruppe von Frauen gekommen sind, es gäbe kein Umweltministerium, das gab es nicht, es gäbe kein Kulturministerium, das war nachher eine rot-grüne Erfindung, auch das Aufnehmen der Entspannungspolitik aus der sozialliberalen Ära in die Friedensbewegung. Und die Ideen, dass man den Eisernen Vorhang überwinden muss, und zwar von unten, wenn er von oben nicht zu überwinden ist, das sind doch alles Bewegungen gewesen, die außerordentlich wichtig waren. Auch das Aufnehmen von Minderheiteninteressen, die Frage der Homosexuellen. Ich weiß, dass ich ganz früh mit Willy Brandt darüber diskutiert habe, wir sind doch eigentlich ein Einwanderungsland, müssen wir uns nicht ähnliche Regeln wie in Kanada heranziehen. Das ist, wenn man jetzt sieht, was heute die Republik beschäftigt, vieles von dem ist da rechtzeitig thematisiert worden, und zwar im Parlament. Also ich fand immer schwierig ...
Burchardt: Aber wurde das nicht ernst genommen? Warum ist das dann wieder unter den Tisch gefallen?
Vollmer: Was heißt ernst nehmen? Ernst nehmen heißt, dass es eine gesellschaftliche Wirkung hat, Ernst nehmen heißt nicht nur, dass es sofort Regierungsbeschluss wird, sondern dass es die Gesellschaft verhindert, und in dem Sinne finde ich, sind diese Veränderungen enorm passiert. Also bis hin dann zur Zusammensetzung des politischen Personals. Angela Merkel wäre nicht Bundeskanzlerin, wenn es nicht zum ersten Mal die Grünen in der Fraktionsspitze gegeben hätte und so weiter. Die CDU hat darauf reagiert. Selbst Leute wie Heiner Geißler haben ja das Intelligente an diesen neuen Ansätzen begriffen und versucht, einen Teil davon auch in die konservative Sphäre zu bringen. Also ich habe viele Langzeitwellen von diesen ersten Jahren gespürt und finde deswegen überhaupt nicht, dass das die Zeit unseres Kindergartens war.
Vollmer: Dazu muss ich jetzt aber meine Haltung zur Deutschen Einheit sagen: Sie kam mir zu schnell.
Sprecher: Die friedliche Revolution und alternative Aspekte zur deutschen Wiedervereinigung.
Burchardt: Sie haben ja vorhin gerade in Ihrer, mit Verlaub, Ihre Eloge über Willy Brandt, die ist ja auch gerechtfertigt, dessen Verdienste für die Entspannungspolitik hervorgehoben, wie haben Sie selber damals die Wiedervereinigung erlebt oder die Einheit Deutschlands und insbesondere auch sozusagen die Neugründung von Bündnis 90/Die Grünen? Das war ja sozusagen dann auch die Adaption oder der Zusammenschluss mit damals ja eher noch virtuell existierenden Grünen aus der DDR.
Vollmer: Ich habe damals ja einen Begriff gehabt, der hieß ökologische Bürgerrechtspartei, dass das eigentlich gerade um die Zeit der Wende und in Verbindung mit den vielen Bürgerrechtlern aus der damals noch DDR, das sei die modernste Beschreibung für die Grünen. Da gab es auch parteiintern viele Widersprüche und Kämpfe, weil viele meinten, wir würden dann zu sehr die linke Identität aufgeben. Aber diesen Zusammenschluss habe ich sehr, sehr begrüßt und ich habe ihn auch als Rückendeckung mir gewünscht, um gegenüber manchen sehr linksdogmatische Positionen in der Partei angehen zu können. Also da war ich damals ganz besonders kritisch, das hat sich dann im Laufe der Zeit aber auch wieder geändert. Also ich bin ja eigentlich - ich hatte ja mal eine Gruppe gegründet bei den Grünen, die hieß "Der grüne Aufbruch" und die hatte per Programm eigentlich die ständige Veränderung der grünen Balance. Damit man auch die Wertkonservativen nicht verliert, aber umgekehrt auch nicht die Linken verliert. Also so eine Art zentristischer Position.
Burchardt: Waren denn da Irritationen nach Ihrer Meinung unterwegs, weshalb die Grünen ja auch dann erst mal nicht in den Bundestag wiedergewählt wurden?
Vollmer: Also dazu muss ich jetzt aber meine Haltung zur Deutschen Einheit sagen: Sie kam mir zu schnell. Und das war auch, glaube ich, die Meinung der ganzen Führung der Bürgerrechtler im Osten. Die hätten sich gewünscht eine gewisse Zeit der Selbstbestimmung noch, und das Modell, was ich damals entwickelt habe, hieß eine Konföderation - übrigens war das gar nicht so weit weg von dem Zehn-Punkte-Programm von Helmut Kohl, der sprach da ja auch nur von der Konföderation. Aber es war auch nicht weit weg von dem, was Günter Grass gesagt hatte, nämlich eine Nation, aber für eine gewisse Zeit lang noch zwei Staaten zu haben und das schon damals aus Wirtschafts- und sozialen Gründen. Denn das war mir klar, das hatte ich auch aus Beratung mit dem Bundesbankpräsidenten Pöhl längst gehört, dass die schnelle Währungsunion heißt: Die gesamte Wirtschaft der DDR ist von heute auf morgen faktisch zusammen - muss zusammenbrechen.
Burchardt: Der Druck auch von unten kam ja aus dem Osten. Glauben Sie wirklich, auch nachträglich betrachtet, ernsthaft, dass das noch aufzuhalten war? Es war ja einfach nur noch nach dem Motto: Kommt die Magd nicht zu uns, gehen wir zu ihr. Also letztendlich musste da ja was geschehen, um nicht da eine Massenvölkerwanderung in die Wege zu setzen.
Vollmer: Aber daran haben natürlich zwei kräftige Kräfte mitgewirkt. Das eine, der Druck der Wahlen - Helmut Kohl hätte im Westen die Wahl verloren, eigentlich wäre Rot-Grün dran gewesen, wenn er nicht diese Basisbewegung aus dem Osten gehabt hätte, und das Zweite waren die Medien. Bis heute bin ich der Meinung, dass die Änderung der Parole "Wir sind das Volk" in "Wir sind ein Volk" eine medienproduzierte Revolution war, und das haben wir damit auch zum ersten Mal gesehen, welchen unglaublichen Reiz das für Medien hat, Teil von revolutionären Beschleunigungen zu werden. Das ist sicher gegeben. Wem ich widerspreche ...
Burchardt: Das ist wahrscheinlich ... ja ...
Vollmer: Wem ich widerspreche bis heute, ist, dass es da nicht die Deutsche Einheit gegeben hätte.
Burchardt: Das ist wahrscheinlich keine faire Frage, aber würden Sie jetzt sagen sollen, wie das gelaufen ist bis heute, auch mit dem Gefälle, würden Sie sagen, wir hätten es wirklich anders machen sollen?
Vollmer: Ja, ich bin immer eine Verfechterin davon, dass die Position, die eine historische Niederlage erlitten hat, nicht heißt, dass sie unmöglich gewesen wäre. Also ich hasse diese doppelte Niederlage, die eine im Moment und die zweite dann in der späteren Geschichtsschreibung. Das gab es auch bei dem deutschen Widerstand: Wer verloren hat, der verliert dann auch noch mal im Gedächtnis der Leute. Das ist jetzt keine wirkliche Parallele, aber sagen wir mal, es hätte damals die SPD für diese Zeit noch mal Willy Brandt als Spitzenkandidat gehabt, hätte sie gewonnen. Und Oscar Lafontaine hat das ja neulich dankenswerterweise gesagt: Für diesen Moment war ich dann auch - man darf auch nicht vergessen, er hatte das Attentat hinter sich - der falsche Kandidat. Und er kam vom westlichsten Westen. Für diese Situation war er nicht der, der die Einheit auch an den Wählerstimmen schaffen konnte.
Burchardt: Aber er hat Ihre Position gehabt seinerzeit.
Vollmer: Aber ich wollte sagen, hätte die SPD das gemacht, dann hätte sie gewonnen, und dann hätte sie das Konzept in der Hand gehabt, und dann wäre es auch auf die Einheit zugegangen. Vielleicht etwas sozial vorsichtiger, vielleicht etwas wirtschaftlich vorsichtiger. Auch solche Debatten gab es ja damals: über eine Sonderwirtschaftszone, über einen variierten Wechselkurs und so weiter. Also es gab Konzepte. Nicht von ungefähr ist jemand von der Kompetenz von dem Pöhl dann zurückgetreten oder zurückgetreten worden, der gesagt hat, ich kann also solchen wirtschaftlichen Unsinn nicht mitmachen. Es ist trotzdem irgendwie gegangen - ich respektiere das, ich anerkenne das, ich sehe auch, dass vieles gut gegangen ist Ich widerspreche nur dem Satz: Anders wäre es auf keinen Fall gegangen, denn die Hauptthese ...
Burchardt: Ja, der Begriff alternativlos ist sehr oft jetzt im politischen Raum zu hören, das gilt auch für ...
Vollmer: Und der ist Ideologie. Der ist Ideologie, und die zusammenbrechende Sowjetunion hätte niemals, weder die DDR noch Polen noch die Tschechoslowakei im eigenen Machtbereich halten können. Das wäre auch auf anderem Wege passiert, diese Loslösung und damit die Verringerung des sowjetischen Imperiums.
Vollmer: Der Weg führt nicht um die Vertriebenen herum, sondern durch sie hindurch.
Sprecher: Deutsche Vertriebene. Antje Vollmer und die Zukunft.
Burchardt: Wir müssen noch ein Thema ansprechen, weil es auch wichtig ist, glaube ich, für Sie, das vielleicht auch mal klarzustellen. In vielen Veröffentlichungen findet sich immer wieder, Sie hätten sich auf die Seite der Vertriebenen - Sie haben sich ja sehr für Minderheiten eingesetzt und Sie hatten sich ja sehr auf die Seiten der Vertriebenen gestellt, insbesondere der Sudetendeutschen. Ist das unfair, dass man Ihnen das so vorhält, oder ist das für Sie so eine Art politischer Befriedungsversuch gewesen?
Vollmer: Also mich verblüfft, dass Sie sagen, dass man mich auf die Seite der Vertriebenen stellt, die Vertriebenen sehen das ganz anders. Also ich glaube, da ist es mir genau gelungen, auf der Messerschneide zwischen beiden Fronten zu sein.
Burchardt: Ich erwähne es, weil Sie die Tschechoslowakei eben genannt haben.
Vollmer: Ja, ich wollte eine neue Initiative in Bezug auf die Tschechoslowakei, und das war die Tschechoslowakei Václav Havels, der viele Versuche gemacht hatte, mit den Deutschen irgendwie in ein intensiveres Gespräch zu kommen, unter anderem angeboten hat, dass die früheren Sudetendeutschen Bürger der Tschechoslowakischen Republik hätten werden können. Das ist nicht mal verhandelt worden damals von Helmut Kohl. Und diese Initiative ...
Burchardt: Diese ganze Diskussion
Vollmer: Diese Initiative wolle ich aufgreifen - damals war ich dann schon Vizepräsidentin, deswegen konnte ich das überhaupt auch nur mit einer gewissen Sichtbarkeit - und hatte dann aber begriffen, der Weg führt nicht um die Vertriebenen herum, sondern durch sie hindurch. Also man muss auch mit ihnen sprechen und die Gutmeinenden mit in diesen Prozess einbeziehen. Und dafür fand ich ein gewisses Eingeständnis, dass uns Linke das Schicksal der Vertriebenen verdammt wenig interessiert hatte und dass es da auch an Mitgefühl gefehlt hat und dass wir zu leichtfertig gesagt haben, jemand muss da halt die Schuld übernehmen, und dann sind die das halt gewesen, sonst wären es andere gewesen. Dass das letztendlich sogar historisch dumm und strategisch dumm war, weil es die Vertriebenen ganz und gar zum festen Bestandteil der CSU und des rechten Lagers gemacht hatte - was sie ja von Natur aus gar nicht sein mussten -, und deswegen fand ich, dass diese Geste notwendig war.
Und damals sprachen noch wenige davon, dass auch alle diese Vertriebenen wirklich schwer traumatisierte Menschen waren. Ich wollte aber damit natürlich auch erreichen, dass sie aufhören dürfen, politisches Instrument von Parteipolitik zu sein. Und diese Debatte ist doch so heftig geführt worden, dass sie auch das Lager der Vertriebenen ausdifferenziert hat, was ich immer einen Fortschritt finde, wenn sich feste ideologische Blöcke allmählich auflösen und in wirkliche ehrliche Debatten kommen und nicht mehr in den alten Grabenkämpfen verharren.
Und am Ende stand dann diese deutsch-tschechische Erklärung - hat lange, lange gedauert, ich musste sehr oft den Tschechen erklären, warum so was überhaupt so lange dauert, nachdem sie von Gorbatschow an einem Nachmittag aus dem Warschauer Pakt entlassen waren, warum eine viel länger zurückliegende Erklärung des Verhältnisses zu den Deutschen so lange dauert, aber es hat gewirkt. Und wenn ich heute zurück gucke, damals, als ich das anfing, war ja das Verhältnis zu den Polen wunderbar, und zwar durch die Initiativen von Willy Brandt und in Warschau und so weiter, und nur das Verhältnis zu den Tschechen war kompliziert. Wenn wir jetzt die letzte Entwicklung sehen, dann sieht man, die Tschechen haben sich an die wirklichen heutigen politischen Verhältnisse in Deutschland gewöhnt und sind nicht mehr unter Schock und Trauma, und mit den Polen mussten wir da noch mal durch einen solchen Prozess hindurch, und vielleicht auch deswegen, weil es da keinen Willy Brandt mehr gab, der das mit Autorität hätte klären können.
Burchardt: Würden Sie denn, um das mal zu benamen, Frau Steinbach empfehlen, ihre Position mal zu adaptieren?
Vollmer: Ich habe Frau Steinbach schon sehr früh gesagt, als es übrigens noch unter Rot-Grün ja ein Akzeptieren dieses Zentrums gab, aber auf wissenschaftlicher Basis , sich mit den Vertreibungen in den Geschichten der europäischen Völker zu beschäftigen, und das ja auch schon verhandelt war, habe ich gesagt: Frau Steinbach, wenn Sie doch begreifen würden, jetzt haben Sie gewonnen in der Sache. Und aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, wenn man in so einer Sache gewonnen hat, dann muss man sich als Person zurückziehen, dann müssen nämlich andere Väter und Mütter dieser Initiative werden. Nur dann sind sie auf Dauer historische Erfolge. Aber diese Weisheit hat sie wirklich nicht gehabt, und darüber kann man auch viel nachdenken, warum sie das nicht hingekriegt hat, und jetzt haben wir einen Kladderadatsch.
Burchardt: Frau Vollmer, wir müssen zum Schluss - das Schlusswort soll nicht Kladderadatsch sein. Was machen Sie augenblicklich und sind Sie zufrieden mit dem, was Sie auch noch politisch bewirken können? Sie sind ja bis in die Lehre gegangen inzwischen.
Vollmer: Ich habe die letzten drei Jahre mit das Tollste gemacht, nämlich an einem Buch geschrieben über Heinrich und Gottliebe von Lehndorff, das sind Leute aus dem ganz engsten Kreis derer gewesen, die wirklich versucht haben, nicht nur Hitler zu töten, sondern auch die NS-Macht in Deutschland zu stürzen mit einem Staatsstreich, und die waren fast vollständig vergessen. Das ist ein Beispiel dafür, von einer doppelten Niederlage, gegen die man einfach angehen muss. Und die Tatsache, dass es dieses Buch jetzt gibt und dass man sich mit der Geschichte beschäftigen kann, ist auch für mich persönlich sehr wichtig. Ich habe übrigens unglaublich viel gelernt. Dieser Teil des deutschen Widerstands - also der militärische - der lag uns ganz besonders fern, er war aber der einzige, der diese ganzen Verbrechen, wenn er Erfolg gehabt hätte, wirklich rechtzeitig - nein, nicht mehr rechtzeitig, aber ein Jahr vor dem bittersten Ende hätte beenden könnten, und das ist die wirkliche Tragödie. Es gab welche, die es beenden wollten, sie haben sogar einen umfassenden Plan gehabt, und der ist dann trotzdem gescheitert.