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Anton Reiser/Andreas Hartkopf

Wie entsteht Scham? Wie Selbstverachtung, wie jenes stille Wüten gegen sich, das nur im Amoklauf nach außen schlägt? Was auf der anderen Seite bindet Menschen zusammen, so leicht und unmerklich, so sanft und unzerreißbar, daß keines aus der Welt fällt, wenn es gut geht? Wo wird die Dankbarkeit zur Demut, wo macht der Terror guten Willens aus fröhlicher Miene Heuchelei? Und wie gelingt es doch ständig, aus potentiellen Amokläufern Nachbarn zu machen, Väter und Brüder?

Elke Schmitter |
    Was wir über den Menschen wissen, kommt aus Erfahrung und Literatur. Die Wissenschaft hat selbst da, wo sie spektakuläre Ergebnisse vorweisen konnte, im Wesentlichen nur Intuitionen bestätigt, die wache und sensible Zeitgenossen für allzu selbstverständlich hielten, um sie noch zu formulieren. Für die Psychologie unseres Jahrhunderts war die Entdeckung des Kinderarztes René Spitz von einiger Bedeutung, daß Säuglinge psychisch verwahrlosen, wenn sie nur satt und sauber sind, daß ihnen etwas Wesentliches zur Entwicklung fehlt: Berührung, Kontakt, Aufmerksamkeit und Liebe. Daß ein solches "empirisches Resultat" als bahnbrechend gilt, kommentiert eher unsere Wissenschaft als unsere Überzeugungen und unser zweiflerisches Jahrhundert, das nicht gelten lassen will, was nicht "bewiesen" ist.

    Dennoch ist mehr historisch und sozial "bedingt", "vermittelt" (und wie die Konstruktionen lauten mögen, in denen sich die Sprache um die Erfahrung drückt), als unsere Intuitionen meinen und auch das lehrt die Literatur. Die Tagebücher eines jungen Römers zur Zeit des Tacitus scheinen uns in vielem näher als das prosaische Gebet des Augustinus; die Zeitachse ist nur eine Koordinate der Wahrnehmung, nicht unbedingt die Entscheidende. Und doch kann man für die deutschsprachige Literatur einen Punkt markieren, an dem der moderne Mann über sich Zeugnis abzulegen beginnt. Ein erstes Zeugnis, das weniger moralische Rhapsodie ist als psychologisches Protokoll, ein Zeugnis auch, in dem Gottes Wille und Ratschluß und Wille und Schicksal des Einzelnen verschiedenen Sphären angehören. Dieses Zeugnis ist eine Autobiographie, sie trägt den Titel "Anton Reiser".

    Anfangs ist Anton fast immer allein, mit Gott. Die Autobiographie des Karl Phillip Moritz, als ältestes Kind der Dorothea Henriette Moritz, geb. König, und des Militär-Oboisten Johann Gottlieb Moritz 1756 in Hameln geboren, beginnt in einem Vakuum. Anton Reiser ist offenbar zufällig auf der Welt, ungewünscht, und unerwünscht geblieben, vernachlässigt bis an die Grenze der Verwahrlosung, früh kränklich. "Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten, und ihm doch einer so nahe wie der andre war."

    Naturgemäß verläßt das Kind den ärmlichen Haushalt, wann immer ihm das möglich ist, und mit symbolischer Präzision verletzt es sich am linken Fuß und ist vier Jahre lang gehbehindert. Sein Denken sucht Beschäftigung, seine Seele ist auf die Einbildungskraft angewiesen, sein Gehirn wird vom Vater gefüttert mit pietistischen Doktrinen über die Abtötung des Fleisches und der Sinne, um "das innere Wort" deutlich vernehmen zu können. Das einsame Kind "fing an, sich wirklich mit Gott zu unterreden, mit dem er bald auf einem ziemlich vertraulichen Fuß umging. Den ganzen Tag über, bei seinen einsamen Spaziergängen, bei seinen Arbeiten, und sogar bei seinem Spiele sprach er mit Gott, zwar immer mit einer Art von Liebe und Zutrauen, aber doch so, wie man ohngefähr mit einem seinesgleichen spricht, mit dem man eben nicht viel Umstände macht, und ihm war es denn wirklich immer, als ob Gott dieses oder jenes antwortete."

    Allein mit Gott, körperlich versehrt, von äußerst lebendiger Phantasie, von früh verletztem Selbstgefühl, von um so größerer Eitelkeit: Anton Reiser hat alle Aussichten, ein schwerer Neurotiker zu werden, und er erfüllt unsere Erwartungen unverzüglich. "Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden, und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte." Der intelligente Stipendiat hungert sich an Freitischen durch Hannover, wird von seinen Wohltätern fadenscheinig gekleidet, von seinen Schulkameraden gemieden, von seinen Erziehern ohne Nachsicht gefördert. Er findet nur schwerlich Freunde, er zeigt das erwartbare Ungeschick des Unglücklichen und Pechvogels, er wird schwermütig und ein Heuchler, bettelnd um Anerkennung, zermürbt von einer lieblosen und unerbittlichen inneren Instanz, die Sigmund Freud einhundertfünfzig Jahre später "Über-Ich" heißen wird. Und doch wird er ein Mensch. Er wird ein Zeitgenosse.

    Denn nichts in seinem Gemüt ist uns wirklich fremd. Manches braucht die Nachempfindung beim Lesen, einiges die innehaltende Erinnerung an Momente der Scham und Selbstverletzung, des Krampfs der guten Vorsätze, an den unwillkürlichen Haß, der auf Demütigung reagiert, an diese frühen Erfahrungen der Seele, die niemandem erspart bleiben, der unter Menschen aufwächst. Und die wir kennen wie die Augenblicke der Liebe, die Anton Reiser schließlich retten, die unverdiente Zuneigung, die arglose Bewunderung, die Freundlichkeit, die ihm zustößt wie einem Blinden ein Lächeln, das er zu sehen meint.

    Es ist nicht überraschend, daß der Autor dieser Autobiographie ein "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" begründet hat, "Fakta, und kein moralisches Geschwätz": am Ende ist Gott nicht mehr sein Gesprächspartner, sondern der Mensch. Vielleicht rettet den Kauz Anton Reiser der Zufall mancher Zuneigung vor Selbstmord oder Verkümmerung, vermutlich rettet den Dichter und Intellektuellen Karl Philipp Moritz der Glaube an das menschliche Gespräch der Aufklärung vor dem Amoklauf: "Aber wie kann ich den ganzen übrigen Teil meines Lebens besser nutzen, als wenn ich ihn, neben der tätigen Ausübung meiner Pflicht, zur Erforschung und Betrachtung desjenigen anwende, was mir und meinen Mitgeschöpfen gerade am wichtigsten ist? Und was ist dem Menschen wichtiger, als der Mensch?"

    Diese Emphase war nicht ganz neu, aber die gottverlassene Offenheit war es, der nackte Idealismus, mit dem Karl Philipp Moritz sein tatsächliches Leben mittels Sprache zu einer Erfahrung machte zum Material für Leser bis heute. Gerade ist eine Ausgabe des "Anton Reiser" erschienen, die in Genauigkeit der Kommentierung und nachgerade liebevoller philologischer Sorgfalt einzigartig ist. Das Buch überzeugt aber auch durch den glücklichen Einfall, den autobiographischen Roman mit einem Moritz-Portrait des Freundes Karl Friedrich Klischnigä ("Anton Reiser, Fünfter und letzter Teil") und dem kuriosen Paralleltext zum "Anton Reiser", nämlich >>Andreas Hartknopf <<, zu ergänzen, den das Nachwort von Benedikt Erenz zutreffend als "sprunghaftes und traumseliges, manchmal seltsam vermurmeltes und doch oft so lustiges Werk" beschreibt. Er schließt seinen klugen Essay auf die bündigste, wirksamste Weise: "Lesen Sie >>Andreas Hartknopf<<, bestürmte Arno Schmidt in einer Radiosendung 1956 seine Zuhörer, 'so reichlich wuchern die genialen Bücher in unserem Deutschland wahrlich nicht'. " Lies doch Anton Reiser"", beschwor Johann Wolfgang von Goethe in einem Brief aus Rom 1786 Charlotte von Stein.

    Und wir dürfen sagen: Dabei bleibt's!"