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Antony Beevor: Stalingrad

Aus einer ganz anderen Perspektive, aus dem Blickwinkel eines britischen Militärhistorikers, beschreibt Antony Beevor Vorgeschichte, Verlauf und Folgen der Schlacht um Stalingrad. Er konnte bei seinen Recherchen auch sowjetische bzw. russische Archive einsehen. - "Stalingrad" - so der lakonische Titel seiner Arbeit. Ob es sich dabei aber nur um ein vor allem an die Historiker-Gemeinde adressiertes weiteres Werk zum sogenannten "jüngsten Stand der Forschung" handelt - das erfahren Sie jetzt von unserem Rezensenten Tillmann Bendikowski.

Tillmann Bendikowski |
    Bekanntermaßen ist der Blick zurück in die Vergangenheit zuweilen seltsam getrübt. Das gilt für die Geschichte des sogenannten ”Dritten Reiches” im Allgemeinen, für die Geschichte der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gilt es allerdings im Besonderen. Dies lässt sich nach Einschätzung des britischen Sachbuchautors Antony Beevor keineswegs nur an der hitzigen Debatte um die Beteiligung deutscher Soldaten an Kriegsverbrechen erkennen, sondern vielmehr daran, in welch hohem Maße zuweilen in der deutschen Erinnerung noch immer Ursache und Wirkung verwechselt werden. Und dies treffe besonders für die Erinnerung an Stalingrad zu:

    Bis heute sehen viele deutsche Überlebende die Schlacht von Stalingrad als eine geschickt gestellte sowjetische Falle, in die sie sich durch eine bewusst vorgenommene Rückzugstaktik der anderen Seite haben locken lassen. Infolgedessen neigen sie dazu, sich eher als die Opfer denn als die Verursacher der Katastrophe zu betrachten.

    Um dieser Sichtweise zu entgehen, hat Antony Beevor für sein 1999 erstmals in Deutsch erschienenes Buch auf eine breite Quellengrundlage zurückgegriffen: Über die reine Literaturrecherche hinaus wertete er Materialien aus Moskauer Archiven aus und führte Interviews mit Augenzeugen und Beteiligten. So kann er das Schicksal der Soldaten auf beiden Seiten sowie das der Zivilbevölkerung schildern. Doch zunächst nimmt sich der Autor die nötige Zeit, die Vorgeschichte der Schlacht zu erzählen. So beginnt sein Buch folgerichtig mit dem sich abzeichnenden deutschen Überfall auf die Sowjetunion:

    Der 21. Juni 1941, ein Samstag, bescherte der Hauptstadt des 'Großdeutschen' Reiches einen perfekten Sommermorgen. Viele Berliner nahmen den Zug hinaus nach Potsdam, um den Tag im Park von Sanssouci zu verbringen. Andere gingen zum Schwimmen an die Ufer des Wannsees oder des Nikolassees.

    Am Tag darauf, am 22. Juni 1941, griffen die deutschen Truppen im Osten an. Die deutsche Öffentlichkeit, verwöhnt von den Blitzsiegen der vergangenen zwei Kriegsjahre, mochte sich von den ersten militärischen Erfolgen täuschen lassen. Der vermeintliche ”Koloss auf tönernen Füßen” – so das vorherrschende, doch unzutreffende Bild von der Sowjetunion – schien schon bald zu fallen, wenn ihm nur der richtige Schlag versetzt würde. Tatsächlich resultierte der zunächst rasche Vormarsch der deutschen Besatzer auch aus der Ausbildungssituation der Roten Armee. Der mangelte es nämlich nicht nur an erfahrenen Offizieren.

    Die meisten Wehrpflichtigen, die sich im Kampf bewähren sollten, hatten nur wenig mehr als ein Dutzend Tage Ausbildung erhalten, manche sogar noch weniger. Jungen Bauern, die man aus Kolchosen einberufen hatte, mangelte es an jeglicher Erfahrung, was moderne Kriegsführung und Bewaffnung anging.

    Doch trotz aller Anfangserfolge: Inzwischen hat die Militärgeschichtsforschung längst herausgearbeitet, dass das Unternehmen ”Barbarossa” tatsächlich keines der ursprünglich gesteckten Ziele erreicht hat: Die Masse des russischen Heeres entkam der geplanten Vernichtung, die sowjetische Wirtschaft blieb intakt und die erwarteten Ausbeutungserfolge in den besetzten Gebieten blieben aus. Doch die deutschen Soldaten nahmen zunächst nur ihre Erfolge wahr. So genossen sie auch – im Sommer 1942 vor den Toren der Stadt Stalingrad angekommen – ihren Stolz, als erste an der vermeintlich neuen Ostgrenze des ”Großdeutschen Reiches” zu stehen. Einige scheuten beim Anblick der weißen Wohngebiete über dem hohen Westufer der Wolgastadt nicht den Vergleich mit Athen; ein paar Soldaten sprachen von Stalingrad gar als der ”Akropolis”. Der Rausch über den schnellen Vormarsch prägte auch die Feldpostbriefe in die Heimat:

    Ihr könnt Euch die Schnelligkeit unserer lieben motorisierten Kameraden nicht vorstellen. Dabei die rollenden Angriffe auf den Widerstand der Russen von unseren Fliegern. Was ein Gefühl der Sicherheit, wenn unsere Flieger da sind, denn da lässt sich kein Russenflieger sehen. Wir dürfen, so Gott will, Euch Ihr Lieben, dieses Jahr wiedersehen. Wenn Stalingrad gefallen ist, ist die russische Südarmee vernichtet.

    Es kam bekanntlich anders. Antony Beevor schildert in seiner rund 500 Textseiten umfassenden Darstellung die Entwicklung der folgenden Monate detailliert: die deutschen Luftangriffe, den Sturm auf die Stadt, dann den einsetzenden Häuserkampf. Und inmitten des Mordens die Zivilisten, von denen fünf Monate nach Beginn der Kämpfe noch mehr als 10.000 in den Ruinen eingeschlossen waren. Der Autor schildert kenntnisreich die Kämpfe, die die deutschen Besatzer schließlich in die gefürchtete Situation der Einkesselung brachten. Die entscheidende ”Operation Uran” hatte die Rote Armee im November 1942 gestartet. Die deutschen Generäle hatten niemals mit einer russischen Offensive von solchem Ausmaß gerechnet. Und auch die Sowjets waren überrascht, als sie nach der Einkesselung ihren militärischen Erfolg zunächst kaum überblicken konnten:

    Die Russen erkannten trotz all ihrer Luftaktivitäten über dem Kessel immer noch nicht, welch enorme Streitmacht sie eingekesselt hatten. Oberst Winogradov, der Chef der Nachrichtenabteilung der Roten Armee im Hauptquartier der Don-Front, schätzte, dass durch die 'Operation Uran' 86.000 Soldaten in die Falle gegangen waren. Die wahrscheinlich richtige Zahl, einschließlich Verbündeter und Hilfswilliger, war nahezu dreieinhalb mal so groß; es handelte sich um annähernd 290.000 Menschen.

    Die Katastrophe der deutschen Besatzer nahm ihren Lauf. Hunger, Kälte, Hoffnungslosigkeit und allen voran der tausendfache Tod markierten das sich nun abzeichnende Ende der Sechsten Armee:

    Der Bedarf der deutschen Soldaten an Hoffnung war mit Hass auf den bolschewistischen Gegner und einem Verlangen nach Rache vermischt. In einem Zustand, den man als 'Kesselfieber' bezeichnete, träumten sie davon, dass ein SS-Panzerkorps die sie einkreisenden russischen Armeen durchbrechen werde, um sie zu retten und so das Schicksal in einen großen, unerwarteten Sieg umzukehren. Sie neigten dazu, immer noch auf Goebbels' Reden zu hören. Viele stärkten ihren Überlebenswillen, indem sie das Lied der Sechsten Armee, das von Franz Lehár komponierte Wolgalied sangen: 'Es steht ein Soldat am Wolgastrand, hält Wache für sein Vaterland'.

    Für des Deutschen Vaterland hielt bald niemand mehr Wache in Stalingrad: Am 31. Januar beziehungsweise am 2. Februar 1943 streckten die Truppen im Kessel ohne förmliche Kapitulation die Waffen. Über 100.000 Wehrmachtsangehörige marschierten in die Kriegsgefangenschaft – nur rund 5.000 sollten bekanntlich heimkehren. Antony Beevor stellt diese Geschichte einer Katastrophe erzählerisch gekonnt und historisch weithin zuverlässig dar. Dass er sich als ehemaliger Offizier von soldatischen Kategorien wie ”tapfer” oder ”heldenhaft” nicht trennen kann, ist zwar störend, weil ohne analytischen Wert, trübt aber insgesamt nicht das Verdienst des Buches. Dieses schildert eindrucksvoll die Hybris eines Volkes selbsternannter Herrenmenschen, deren Führer noch im Moment der Katastrophe ihre Unmenschlichkeit und Uneinsichtigkeit unter Beweis stellten. Diese Schlacht sei – so Beevor – eine ”Geschichte voller Wahnsinn, Mitleidlosigkeit und Tragik”. Der Anteil des Wahnsinns war enorm – bis zum Schluss. Am 29. Januar 1943, zwei Tage vor dem Ende im Kessel, schickte das Hauptquartier der Sechsten Armee einen Funkspruch an Adolf Hitler:

    Zum Jahrestag Ihrer Machtübernahme grüßt die Sechste Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuzfahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und den kommenden Generationen ein Beispiel dafür sein, auch in der hoffnungslosesten Lage nie zu kapitulieren. Dann wird Deutschland siegen. Heil, mein Führer! Paulus, Generaloberst.

    Tillmann Bendikowski war das. Er rezensierte: "Stalingrad" vomn Antony Beevor, erschienen im Orbis-Verlag München. Das Buch hat 544 Seiten und ist erhältlich für 12 Euro 50.