Kommentar
Antrag auf Haftbefehle: Netanjahu und Sinwar auf einer Stufe?

Werden Hamas und Israel durch den Antrag auf Haftbefehl gleichgesetzt? Nein, findet unser Autor. Die Empörung über den Chefankläger soll vor allem ablenken von dem, was in Gaza gerade passiert.

Ein Kommentar von Jan-Christoph Kitzler | 21.05.2024
Palästinenser in zwischen Ruinen der Stadt Hamad im Gazastreifen.
Israeli-Palestinian conflict-Khan Yunis (picture alliance / dpa / Abed Rahim Khatib)
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat Haftbefehle beantragt: Gegen drei Führungskader der Terrororganisation Hamas und gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant, Israels Premier- und Verteidigungsminister.
Ganz unabhängig davon, wie das Gericht entscheidet, ob am Ende wirklich Haftbefehle erlassen werden und gegen wen: Allein die Tatsache, dass die fünf Fälle in einem Atemzug veröffentlicht wurden, hat große Empörung ausgelöst.
Der Vorwurf: Der Angriff der Hamas und anderer Terrororganisationen aus dem Gazastreifen am 7. Oktober und Israels Kriegführung in der Folge würden auf eine Stufe gestellt.

Unterscheidung zwischen Hamas und Israel

Vermutlich hat sich kaum einer der Kritiker die Mühe gemacht, die Erklärung des Chefanklägers Karim Khan in Gänze nachzulesen. Sie unterscheidet sehr wohl, auch in der Qualität, zwischen den Taten der Hamas und den Folgen des Kriegs in Gaza, für die auch Israels Regierung die Verantwortung trägt.
Über das, was am 7. Oktober und an den darauffolgenden Tagen passierte, kann es keine zwei Meinungen geben: Nach tausenden Raketen kamen die Terroristen aus dem Gazastreifen nach Israel, um Menschen in großer Zahl abzuschlachten, zu vergewaltigen, zu verschleppen. Haftbefehle gegen Vertreter der Hamas sollten eine Selbstverständlichkeit sein.

Ist Israel zu weit gegangen?

Mit den Folgen der israelischen Kriegführung im Gazastreifen ist es allerdings weniger eindeutig – nicht nur, weil der Krieg noch andauert. Angesichts vieler Opfer, einer flächendeckenden Zerstörung, Hunderttausenden, die nicht genug zu essen haben, und vielen Verletzten, die nicht richtig versorgt werden, stellt sich die Frage: Wo endet das Recht auf Selbstverteidigung Israels – das auch von der Bundesregierung immer wieder beschworen wird – und wo beginnen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs ist der Meinung, die Grenze wurde überschritten. Jetzt muss sich das Gericht mit der Frage befassen.

Empörung soll vom Krieg ablenken

Die Empörung vor allem, aber nicht nur, in Israel ist nun gewaltig: Außenminister Katz sprach von einer „historischen Schande“, Oppositionsführer Benny Gantz von „moralischer Blindheit“ und Premier Netanjahu sagte gar: So sehe „der neue Antisemitismus“ aus.
Man darf den Richterinnen und Richtern durchaus zutrauen, zu unterscheiden. Und so ist der Aufschrei wegen der behaupteten Gleichsetzung des Terrors der Hamas mit der israelischen Kriegführung in Gaza vor allem eines: Ablenkung von dem, was in Gaza gerade passiert.
Ob daran nun ausschließlich die Hamas Schuld ist, oder auch Israel, ob Israel als Kriegspartei seiner Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung in Gaza gerecht wird – darüber urteilt jetzt der Internationale Strafgerichtshof.
Es ist gut, dass genau hingesehen wird, denn es geht um wichtige Fragen – und es ist dem Gericht zu wünschen, dass es sich dabei nicht ablenken lässt.