Nein, Beethovens 9. Sinfonie ist kein ausgefallenes Werk für einen festlichen Anlass, und der letzte Satz mit "Freude, schöner Götterfunken" in seiner Bedeutung für alle Menschen, die Brüder werden sollen, bereits stark strapaziert. Und trotzdem hat Kirill Petrenko dieses Werk auf das Programm seines Antrittskonzertes gesetzt und es mit Alban Bergs Symphonischen Stücken aus der Oper Lulu kombiniert. Die Sopranistin Marlis Petersen, weltweit gefeierte Lulu ist diese Saison Artist in Residence bei den Berliner Philharmonikern. Sie interpretierte die Solopassage im dritten Satz der Suite mit der perfekten Mischung aus kindlich-kaltem und sinnlichem Ton. "Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab" lauten Lulus erste Worte.
Das Wesentliche in der Kunst
Nach einem sinnlich- schwelgerischen, kammermusikalisch zarten Beginn, gipfelt die Lulu-Suite letztlich in der totalen Zerstörung, in einer grausamen Klangkaskade voll Schmerz und Gewalt. Das ist alles andere als gefällig und verstört zum Einstand eines so freudig erwarteten Neubeginns bei den Berliner Philharmonikern. Doch Kirill Petrenko zeigt so, worum es ihm bei seiner Arbeit geht: um das genaue Herauslesen aller Details der Kompositionen, die das Wesentliche der Kunst bergen. Über die Zeitepochen hinweg will er ewig menschliche Themen vor Ohren führen und zum Nachdenken und Mitfühlen bewegen. Man ging also nach den ersten 40 Minuten des Konzertabends etwas bedrückt und tief durchatmend in die Pause, um dann mithilfe von Beethovens 9. Sinfonie wie Phoenix aus der Asche langsam wieder aufzustehen.
Die harte Arbeit an der Harmonie
Die leere Quinte, mit der Alban Bergs Lulu- Suite endete, erklang fahl und suchend erneut zu Beginn der Beethoven-Sinfonie, Petrenko ließ in den ersten beiden Sätzen dunkle Farben in den Mittelstimmen sprechen, das Blech kalt und die Streicher eckig tönen, um den Sehnsuchtston der Holzbläser umso flehender und zarter immer wieder hoffnungsvoll aufblitzen zu lassen. Ja, das kriegerische, kämpferisch- zerstörerische Element in Beethovens Musik kam sehr deutlich, gelegentlich fratzenhaft zum Vorschein. In unaufhaltsamem Fluss ohne Zäsuren ergab sich eins aus dem anderen, vermittelte sich, dass Harmonie hart erarbeitet werden muss.
Das Publikum von den Sitzen gerissen
Im dritten Satz konnte man sich von dieser Harmonie kurzfristig einlullen lassen, bis die Schreckensfanfare den Teufelsritt des vierten Satzes einleitete. Wenn die Hässlichkeiten in Beethovens Komposition vorher so scharf aufgezeigt werden, bekommt das "O Freunde, nicht diese Töne" umso mehr Bedeutung, und Bassist Kwangchul Youn fügte sich souverän wie auch die anderen Solisten Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns und erneut Marlis Petersen in die straff und unsentimental geführten Zügel des Meisters am Pult. Beeindruckend: Wenn Beethovens wilde Melodieführung in so rasantem Tempo gelingt, entsteht selbst in den gewaltigen Chören eine Duftigkeit, die vor allem eines bereitet: Freude! Die stand dann auch allen Beteiligten auf dem Gesicht, allen voran der lächelnd tänzelnde, immer sprungbereite Petrenko. Das Finale mit dem Berliner Rundfunkchor geriet zum Götterfunken- Feuerwerk, das das Publikum in der Philharmonie von den Sitzen riss. Kirill Petrenko beweist sich als echter Kracher für dieses Orchester, möge seine Zündkraft lange anhalten!