" Wir haben immer von Chaos geredet. Aber vom Begriff "die Chaostheorie" haben wir uns irgendwann distanziert, weil zu viele Leute das in einem unseriösen Zusammenhang gebraucht haben."
Eckehard Schöll, Professor für Theoretische Physik, Technische Universität Berlin:
" Das Wort Chaos ist ein bisschen in Verruf geraten, weil es missbraucht wurde von populärwissenschaftlichen Äußerungen."
Joachim Peinke, Professor für Physik, Universität Oldenburg:
" Das war die Euphorie am Anfang, dass man dachte, jetzt hat man alles verstanden. Wenn man genau hingesehen hat, hat man mit der Chaostheorie doch nur einen Teilbereich erkannt."
Heinz-Otto Peitgen, Professor für Mathematik, Universität Bremen:
" Ihr Eigenleben als eigene Disziplin hat man über eine gewisse Zeit vermutet und geglaubt, es wird so etwas geben wie ein neues Gebiet, die Chaostheorie. Das hat sich nicht ergeben."
Boston, ein Morgen im Jahre 1961. Edward Lorenz sitzt in der Cafeteria des Massachusetts Institute of Technology und nippt an seinem Kaffee. Lorenz ist Meteorologe, er entwickelt ein primitives Computermodell für die Wettervorhersage: eine simple Formel, die nichts weiter enthält als Temperatur, Windstärke und Wärmefluss. Gestern hat Lorenz sein Programm bereits durchlaufen lassen, heute will er es noch mal überprüfen. Dazu hat Lorenz das Zwischenergebnis eingetippt - die Zahl 0,506.
Endlich ist der Computer mit seinen Berechnungen fertig. Lorenz schaut sich den Ausdruck an und traut seinen Augen nicht: Das Ergebnis ist völlig anders als das von gestern Abend! Bald wird ihm die Ursache klar - ein winziger Rundungsfehler bei der Eingabe. Statt 0,506 hätte Lorenz 0,506127 eintippen müssen. Ein marginaler Unterschied nur, ein hundertstel Prozent - im Modell entspricht das einem schwachen Windhauch. Doch dieser Windhauch hatte genügt, um die Vorhersage vollkommen durcheinander zu bringen. Edward Lorenz bringt das auf eine abstrus klingende Frage:
Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Wirbelsturm in Texas auslösen?
Der berühmte Schmetterlingseffekt. Kleine Ursachen können gewaltige Ursachen haben. Die Grundthese der Chaostheorie. In den achtziger und frühen neunziger Jahren war diese Theorie höchst populär. Eckehard Schöll, Professor für Theoretische Physik, Technische Universität Berlin:
" Der Begriff Chaos erzeugt natürlich in jedem Zuhörer schon mal eine Vorstellung. Man findet es irgendwie faszinierend, dass sich die Wissenschaft damit beschäftigt - mit einem scheinbar irregulären und exotischen Verhalten. Das hat sicher eine Rolle gespielt. "
Heinz-Otto Peitgen, Professor für Mathematik, Universität Bremen:
" Ich bin sicher, dass der Name die entscheidende Bedeutung hatte. Wenn etwas aus den Naturwissenschaften oder der Mathematik kommend sich mit Chaos beschäftigt, dann erwartet man, dass die, die das betreiben, etwas ganz Besonderes können."
In den achtziger Jahren wurden die Computer immer besser und konnten nun auch komplexe Naturprozesse simulieren.
In einigen dieser Simulationen tauchte der Schmetterlingseffekt auf: Die Programme spuckten ganz andere Zahlen aus, wenn man die eingegebenen Zahlen ein klein wenig veränderte. Gleichzeitig konnten die Forscher auf ihren Rechnern so genannte Fraktale erzeugen - bizarre, hochkomplexe Figuren wie das Apfelmännchen oder die Juliamenge. Eine typische Eigenschaft dieser Fraktalen ist die Selbstähnlichkeit. Zum Beispiel sieht eine Küstenlinie von einem Satelliten aus betrachtet ähnlich aus wie von einem Heißluftballon: Kommt man der Küste näher, entdeckt man mehr und mehr kleinere Buchten, die wieder ähnlich aussehen wie die großen Buchten. Diese Fraktale hängen eng mit dem Chaos zusammen. Sie bilden quasi die Geometrie, in deren Rahmen sich das Chaos abspielt.
In der achtziger Jahren schwappte das Chaos von den Studierstuben der Wissenschaft ins öffentliche Bewusstsein. Das Apfelmännchen eroberte Kunstgalerien und Zeitschriften. Philosophen sinnierten über flügelschlagende Schmetterlinge. Dichter und Denker spekulierten über den Niedergang des naturwissenschaftlichen Determinismus.
Im Auge der Öffentlichkeit so etwas wie ein Umsturz der etablierten Wissenschaft. Die Natur als dynamischer, pulsierender Organismus statt als stoisches Uhrwerk. Der Triumph des Freien, Willkürlichen über das Exakte, Planbare.
Doch heute ist es ruhig geworden um Chaos und Fraktale. War die Sache nichts weiter als ein großer Hype, eine Blase, die zerplatzt ist und kaum Spuren hinterlassen hat? Oder wurde das Chaos still und heimlich integriert in die Theorien von Klimaforschern, Physikern und Medizinern?
" Winzige Ursachen haben riesige Effekte, "
sagt Eckehard Schöll aus Berlin.
" Das Entscheidende dabei ist das Folgende: Wenn Sie ein System zu einem bestimmten Anfangszustand kennen, können Sie nach den deterministischen Gesetzen beliebig lange vorausberechnen, wie sich das verhält. Wenn Sie die Anfangsbedingungen aber ein bisschen verändern, und das System zeigt Chaos, dann entwickelt es sich vollkommen anders im Laufe der Zeit, sodass Sie praktisch nicht mehr voraussagen können, wie es sich entwickelt. (3:12) Wenn Sie den Wetterbericht angucken: Wir kennen natürlich nicht die Anfangsbedingungen beliebig genau, sondern nur mit einer gewissen Unsicherheit. Und deswegen können wir auch nur drei, vier, fünf Tage vorausberechnen. Wenn wir länger vorausberechnen, kann sich das System in ganz verschiedener Weise unvorhersagbar für uns entwickeln. "
Heinz-Otto Peitgen aus Bremen sagt:
" Die Möglichkeit der naturwissenschaftlichen Erkennung unserer Zukunft hat Grenzen. Ich weiß nie ganz genau, wie die Anfangsbedingungen sind. In der Regel macht das nichts. Ob es 17,3 Grad ist oder 17,5 Grad, spielt für die Entwicklung keine Rolle. Aber bei Chaos eben eine gewaltige. Und das bedeutet die Unmöglichkeit der langfristigen Prognose. "
Dass sich das Wetter zuweilen chaotisch verhält, gilt seit den frühen Neunzigern als mathematisch bewiesen. Genau das ist der Grund, warum die Wetterprognose hin und wieder völlig danebenliegt. Peitgen:
" Und das ist unvermeidbar, lässt sich methodisch nicht überwinden. Das ist so, das muss so hingenommen werden, lässt sich durch keinen Trick aufheben. Das war ein Riesendurchbruch."
Dennoch, und das war eines der wichtigsten Erkenntnisse der Theorie: Auch im Chaos findet sich ein gewisse Ordnung - eine Ordnung, die sich durch Formeln und Gesetze beschreiben lässt. Schöll:
" Wenn Sie Herzrhythmusstörungen untersuchen wollen, und Sie nehmen das EKG eines Patienten auf, dann bekommen ganz irreguläre komplizierte Zeitserien, die für jeden Patienten anders aussehen. Nun kann man aus diesen Zeitserien eine Größe berechnen, die man die Entropie nennt. Das ist die mittlere Größe, die da drin steckt. Und wenn die gewisse Irregularitäten zeigt, dann ist es ein Indiz dafür, dass der Mensch krank ist."
Die Entropie ist eine der Größen, mit der sich das Chaos in Zahlen fassen lässt. Andere solche Größen heißen fraktale Dimension und Ljapunov-Exponent. Mit diesen Größen lässt Ordnung ins Chaos bringen: Sie geben an, wie instabil ein chaotisches System ist oder wie schnell sich verschiedene Anfangsbedingungen auseinander entwickeln.
Und mit diesen Größen lässt sich konkret rechnen. Die Forscher haben sich das Chaos zunutze gemacht. Sie haben es von der theoretischen Spielwiese in die handfeste Praxis überführt.
Peter Tass, Professor für Medizin, Forschungszentrum Jülich, erklärt:
" Beim Hirnschrittmacher handelt es sich um eine Elektrode. Die wird in bestimmte Teile des Gehirns implantiert. Diese Elektrode steht in Verbindung mit Kabeln unter der Haut, die zu einer Batterie und einer Steuerelektronik führen. "
Der Hirnschrittmacher wird unter anderem bei schweren Fällen von Parkinson eingesetzt. Bei Parkinson sind bestimmte Regionen des Gehirns überaktiv. Die Hirnzellen schalten sich zusammen und feuern synchrone Nervenimpulse ab - mit der Folge, dass die Gliedmaßen des Erkrankten unkontrolliert zittern. Auf diese fälschlich zusammengeschalteten Nervenzellen zielt der Hirnschrittmacher. Er steuert mit künstlichen elektrischen Pulsen dagegen. Tass:
" Mehr als 100 elektrische Reize pro Sekunde werden dauerhaft verabreicht, um diese Nervenzellen quasi zu blockieren - das Feuern dieser Nervenzellgebiete zu unterdrücken. "
Diese Tiefenhirnstimulation zeigt spektakuläre Erfolge: Manche Patienten können nach der Implantation wieder arbeiten. Nicht selten aber kommt es zu massiven Nebenwirkungen: Depressionen etwa oder Gedächtnisstörungen. Und zum Teil lässt die Wirkung des Hirnschrittmachers schon nach Monaten nach.
" Das ist ein Dauerreiz, und das Nervensystem gewöhnt sich dran. So wie man sich auch dran gewöhnen kann, wenn man neben einer Autobahn wohnt. Dann hört man irgendwann die Autos nicht mehr."
Deshalb arbeitet Tass an einer Verbesserung des Hirnschrittmachers. Bislang gibt die Elektrode pro Sekunde mehr als 100 Reizimpulse ab, um die kranken Hirnzellen aus ihrem fatalen Rhythmus zu bringen. Tass versucht es mit deutlich weniger Impulsen.
" Mit Methoden der statistischen Physik und auch der Chaostheorie entwickeln wir neue, sanfte, aber sehr effiziente Kontrolltechniken. Das Ziel ist, dass man das Feuern nicht einfach unterdrückt, sondern dass man die Tätigkeit dieser Nervenzellen näher zum gesunden Zustand bringt. Das ist also ein wesentlich milderer und natürlicherer Eingriff."
Die Chaostheorie verrät, wie ein schonendes Stimulationsmuster aussehen könnte: Pro Sekunde genügen zwei Salven mit je fünf Einzelpulsen, um den Nervenpulk aus dem Takt zu bringen. Der Vorteil:
" Wir brauchen deutlich weniger Strom und kriegen auch einen signifikant besseren Effekt bezüglich der Symptomunterdrückung. Das hat die erste intraoperative Studie gezeigt."
Intraoperative Studie: Das heißt, dass Peter Tass sein neues Verfahren während des Einpflanzens des Hirnschrittmachers erprobt hat - mit gutem Erfolg, wie er sagt. Bis das neue Verfahren in die Kliniken Einzug hält, wird es allerdings noch dauern.
" Ich hoffe, dass wir in drei bis fünf Jahren soweit sind, das Implantat zu haben."
Und vielleicht bringt die neue Hirnelektrode sogar einen Selbstheilungsprozess in Gang: Gekitzelt von den schwachen, aber gezielten Pulsen könnten es sich die Nervenzellen regelrecht abgewöhnen, gemeinsam zu feuern. In diesem Fall könnte man den Hirnschrittmacher nach einiger Zeit wieder entfernen. Der Patient wäre geheilt.
Theo Geisel, Direktor am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen:
" Wir wurden motiviert uns damit zu beschäftigen, als die SARS-Epidemie im Jahre 2003 ausbrach. Es war alsbald offensichtlich, dass sich die Keime über das Flugnetz ausbreiten. Sehr bald waren Fälle bekannt in Toronto, in Frankfurt, Singapur usw. Traditionell verwendet man ein Modell, das mit Diffusionsbewegungen arbeitet. Das ist wie wenn Sie einen Fettfleck auf Ihrer Hose haben, der sich langsam ausbreitet. Es war offensichtlich, dass diese Art von Ausbreitung bei SARS nicht mehr wirksam war, sondern dass es über das Flugnetz ging."
Geisel entwarf ein Computermodell: Darin bildete er die wichtigsten Flugverbindungen nach und berücksichtigte, wie viele Passagiere von A nach B fliegen - per Direktflug oder mit Umsteigen.
" Das haben wir für die 500 größten Flughäfen der Welt gemacht. Da können Sie sich denken, dass das eine große Zahl von Verbindungen gibt zwischen diesen Flughäfen. Dann haben wir in Hongkong einen Infektionskeim gestartet und die Krankheit ausbrechen lassen. Und wir versuchten mit diesem Modell eine Vorhersage zu machen, wie sich die Infektion ausbreitet über den Globus."
In sein Modell ließ Geisel auch Methoden aus der Chaostheorie einfließen. Das Resultat:
" Dann kann man eigentlich recht gut vorhersagen, wie sich die Epidemie ausbreitet. Im Falle von SARS haben wir das verglichen mit den tatsächlich gemeldeten Fällen. Und das hat recht gut übereingestimmt. Die Vorhersage des Modells ist recht zuverlässig. Das Modell hat ziemlich genau die gefährdeten Länder vorhergesagt und die nicht gefährdeten Länder vorhergesagt."
Sollte künftig eine vergleichbare Epidemie ausbrechen, könnte man mit Geisels Computermodell abschätzen, welche Orte auf der Welt besonders gefährdet sind und wo es Sinn macht, besondere Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
Rolf Bader, Musikwissenschaftliches Institut, Universität Hamburg.
" Die Einschwingvorgänge haben eine sehr hohe Chaozität, was man zum Beispiel durch fraktale Dimensionen messen kann - was ich von Hunderten von Einschwingvorgängen getan habe. Man kann zum Beispiel bei der Gitarre anhand der fraktalen Dimension in der Tat den Klangcharakter der Gitarre daran messen."
Der Einschwingvorgang - also die Phase der ersten Millisekunden - ist für den Klang eines Instruments bestimmend. Teile dieses Einschwingens verlaufen chaotisch, sagt Bader.
" Das Chaos ist eigentlich die Tatsache, dass das System an sich chaotisch wäre, aber die Musikinstrumente so konstruiert sind, dass sie aus diesem Chaos herausfinden - was überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist. Das Komplizierte an Musikinstrumenten ist, sie so zu bauen, dass sie aus diesem anfänglichen Chaos möglichst schnell zu einem geordneten Zustand finden. Das ist die große Herausforderung eines Instrumentenbauers, dass das möglichst schnell passiert."
Um die Instrumentenbauer zu unterstützen, hat Rolf Bader mit Hilfe der Chaostheorie eine Software entwickelt. Sie bildet das komplette Instrument im Rechner nach: eine virtuelle Gitarre in 3D.
" Erst wenn man in Zeitlupe auf dem Bildschirm die einzelnen Teile schwingen sieht, hat man überhaupt eine Chance zu verstehen, wie dieses unfasslich komplexe System funktioniert. Und aus diesen Ergebnissen kann man dann Rückschlüsse ziehen, wie man's umbauen müsste, um den und den Effekt zu erzielen."
Der Computer kann nicht nur den Klang der ganzen Gitarre nachbilden. Er kann auch simulieren, was die einzelnen Bauteile zum Gesamtklang beitragen - die Decke etwa, der Hals oder die im Instrument schwingende Luft.
" Die Decke ist nur für den Attack zuständig, nur für den schnellen Einsatz, dass das Instrument sofort da ist. Der Sound an sich ist sehr langweilig: Es klingt nur wie eine Saite, die auf einer Holzplatte ist - also überhaupt nicht interessant. Aber es ist der einzige Teil der Gitarre, der sofort einschwingt. Die restlichen Teile sorgen dann für die Klangfarbe."
" Zarge und Boden sind für die Mitten zuständig. Der Boden eher für die tieferen Mitten, die Zarge für die höheren Mitten. Sie bringen zum Einschwingvorgang so eine Mächtigkeit mit."
" Der Hals ist für sehr, sehr helle Frequenzen zuständig. Man hat früher gar nicht gedacht, dass der Hals wirklich wichtig sei. Aber wenn man den weglässt, fehlt einem das Prickeln - so was ganz Helles, Interessantes. Und dann ist es nicht mehr eine wirkliche Gitarre. Das sind die Feinstrukturen, auf die es ankommt."
" Die Luft ist wie ein Pumpen. Man hört so ein Wumms, der bei jedem Ton mitkommt. Und dieser Wumms ist nötig, um so einen Schub zu machen in einem Ton. Und das macht die Luft an der Sache."
Mit Baders Software können Instrumentenbauer genauer abschätzen, welchen Einfluss jedes Bauteil auf den Gesamtklang hat.
" Da sind wir ganz stolz, weil wir ein System entwickelt haben, das inzwischen weltweit anerkannt ist und in den besten leberchirurgischen Zentren eingesetzt wird,"
sagt Heinz-Otto Peitgen von der Universität Bremen. Wenn Ärzte einen Tumor aus der Leber entfernen, gehen sie das Risiko ein, dass die Leber danach nicht mehr ausreichend funktioniert. Dieses Risiko ist von Patient zu Patient und von Tumor zu Tumor verschieden, das wussten die Chirurgen schon lange. Peitgen hat mit Hilfe von Chaos und Fraktalen eine Software entwickelt, die das Risiko in konkrete Zahlen fasst.
" Und zwar in folgendem Sinn, dass manchmal eine geringe Veränderung der Lage des Tumors in einer Leber - also ein bisschen mehr links oder ein bisschen mehr rechts - das Risiko extrem verändert. Das Risiko kann ein bisschen mehr links relativ klein sein. Und die Lage ein ganz klein bisschen verändert, und das Risiko springt plötzlich und wird sehr groß. Während in anderen Lagen - ob ich den Tumor hier oder da habe - das Risiko praktisch unverändert bleibt. D.h. die Risikoverteilung ist manchmal von extrem kleinen Veränderungen abhängig."
Heute schicken Leberchirurgen aus aller Welt Röntgenbilder nach Bremen. Hier begutachtet ein Expertenteam die Bilder mit Hilfe der Chaos-Software. Ergebnis ist eine detaillierte Risikoanalyse, die den Chirurgen bei der Operationsplanung unterstützt.
Eine Geschichte gar nicht so untypisch für den Werdegang der Chaostheorie. In den 80er Jahren galt Peitgen als eine Art Papst der Chaostheorie. In den 90ern aber wandte er sich der Medizin zu. Er rief ein Institut namens Mevis ins Leben, gründete Firmen und beschäftigt heute mehr als 100 Mitarbeiter. Mevis entwickelt Computerprogramme, die aus Röntgenbildern Informationen herauskitzeln, an die der Arzt durch bloßes Anschauen nicht herankommt. Die Software zur Verbesserung von Leberoperationen ist ein Beispiel dafür. Doch im Gegensatz zu ihr sind die meisten anderen Mevis-Projekte vom Chaos weit entfernt.
" Dieser Weg von der Chaostheorie, mit der das alles anfing, hat heute Inhalte, die nur noch sporadisch etwas mit Chaostheorie zu tun haben - aber wenn, dann sehr ernsthaft."
Und es gibt auch Felder, bei denen sich die Erwartungen an die Chaostheorie nicht erfüllt haben, meint Joachim Peinke, Professor für Physik, Universität Oldenburg:
" Die ganze Sache kam dadurch etwas ins Stocken, dass man am Anfang euphorisch war und dachte, man hat die wesentlichen Mechanismen erkannt, wie alles komplexe Verhalten entstehen kann. Wenn man genau hingesehen hat, hat man mit der Chaostheorie doch nur einen Teilbereich erkannt. Komplexe Systeme sind viel reichhaltiger als nur chaotisch. Und das war die Euphorie am Anfang, dass man dachte, jetzt hat man alles verstanden. Man hat für einige Spezialfälle ein gutes neues Verständnis erreicht. Aber wie das Leben entsteht, wie Bäume entstehen, wie Wolken entstehen und so weiter - das lässt sich nicht alles auf einfache chaotische Mechanismen zurückführen."
Das gilt insbesondere für das Phänomen der Turbulenz. Ein Beispiel für Turbulenz sind die Luftwirbel, die ein Flugzeug hinter sich erzeugt. In der Technik spielen Turbulenzen eine große Rolle: bei der Aerodynamik von Autos und Passagierjets ebenso wie beim Wirkungsgrad von Windrädern.
In den 80ern hatten sich manche Forscher von der Chaostheorie einen Durchbruch versprochen. Sie hatte gehofft, die Turbulenz durch und durch verstehen zu können. Fehlanzeige, meint Joachim Peinke.
" Die Chaostheorie ist nicht in der Lage, die Komplexität eines turbulenten Feldes zu beschreiben. Wir wissen: Die größten Rechner werden das nie berechnen können. Die Computer der nächsten Jahrzehnte werden nicht ausreichen, um z.B. die Turbulenzströmung hinter einem Lastwagen richtig zu berechnen."
Das Problem: Große Wirbel erzeugen kleine, diese kleinen Wirbel erzeugen noch kleinere usw. usf. Ein komplexes Wechselspiel, für die Chaostheorie schlicht zu viel. Stattdessen arbeiten die Experten heute mit Näherungsformeln und Computersimulationen. Und ohne Experimente kommen sie nicht aus - Experimente etwa im Windkanal.
" Alle größeren Firmen bauen große Windkanäle. Die experimentelle Untersuchung der Turbulenz ist wieder stark im Kommen."
Dennoch, meint Joachim Peinke: In anderen Bereichen hat die Chaostheorie heute ihren festen Platz.
" Es gibt Hunderte von Gebieten, in denen man mit Chaostheorie ganz gut die Sachen erklären kann. Das ist einerseits das Abebben des Spektakulären, aber andererseits der Erfolg im Detail, das man hier überall sieht, wo diese Effekte zum Tragen kommen."
Und die Forscher arbeiten an immer neuen Nischen, immer neuen Einsatzfeldern für die Chaostheorie bzw. die nichtlineare Dynamik, wie das Feld heute etwas allgemeiner heißt. Ein Beispiel nennt Eckehard Schöll aus Berlin:
" Das geht hier um ein Knistergeräusch von Magneten bis zu Erdbeben. Die Mechanismen, die zu einem Erdbeben führen, wenn sich zwei Erdschollen langsam aneinander vorbeiführen. Dann bilden sich immer wieder Erdbeben unterschiedlicher Stärke - von ganz kleinen Erdbeben bis zu ganz starken Erdbeben. Und genau dieses Verhalten findet man, wenn ein Magnet in ein Magnetfeld gebracht wird und langsam magnetisiert wird. Oder man findet es, wenn man ein Stück Papier zerknüllt, oder wenn man Rice Crispies zerbeißt."
Erdbeben, Papierknistern, Rice Crispies - all das ließe sich mit ein- und derselben Mathematik verstehen, so hoffen die Experten. Könnte man also eines Tages die Erdbebenvorhersage verbessern, indem man das Zerknüllen von Papier analysiert?
" Das ist natürlich Zukunftsmusik. Aber wir lernen zunächst mal verstehen: Wie kommt's zu Erdbeben? Warum treten Erdbeben mit verschiedenen Stärken auf?"
Ein weiteres Forschungsfeld nennt sich Chaoskontrolle. Ein ungewöhnlicher Ansatz. Er hat zu tun mit dem Effekt der Rückkopplung.
Manche Systeme werden chaotisch, wenn man sie mit ihren eigenen Signale füttert. Ein Paradebeispiel ist das Rückkopplungspfeifen bei einem Konzert - mathematisch gesehen ein chaotischer Prozess.
Auch Künstler haben das Prinzip der chaotischen Rückkopplung aufgegriffen.
1970 spricht der Avantgarde-Komponist Alvin Lucier ein paar Sätze auf Tonband auf, spielt sie im selben Raum ab, nimmt das Abgespielte wieder auf - und wiederholt diese Prozedur einige Dutzende Mal. Am Ende ist vom Inhalt nichts mehr zu verstehen. Die Resonanz des Raumes ist so übermächtig, dass sie den Klang völlig dominiert - ein chaotischer Prozess. "I Am Sitting in A Room", so heißt die Komposition, hier in einer elektronischen Version des Collagekünstlers Residuum.
Die Chaoskontrolle hingegen macht sich die Rückkopplung zu Nutze. Das Prinzip: Füttert man ein chaotisches System mit einem gewissen Zeitverzug mit den eigenen Signalen, kann sich das System stabilisieren. Es verhält sich nicht mehr chaotisch, sondern regulär.
" Das System spürt seine Vergangenheit - und zwar ein bestimmtes Stück zurückversetzt. Wenn Sie diese Verzögerungszeit so wählen, dass sie ungefähr der Periode entspricht, mit der das ungestörte System oszillieren möchte, dann führt das zu einer Feinabstimmung. Das heißt kleine Schwankungen werden damit ausgeglichen. Und damit haben Sie reguläres Verhalten."
Ein Beispiel dafür wäre eine spektakuläre Anwendung in der Medizin: eine neue Art von Herzschrittmacher.
Ein gewöhnlicher Schrittmacher sendet regelmäßige elektrische Pulse aus. Mit diesen Pulsen gibt dem Herzen stoisch den Takt vor. Anders der neue Schrittmacher mit eingebauter Chaoskontrolle.
" Die benutzt das Signal des Herzens, also das EKG-Signal selber, schickt das mit einer bestimmten Zeitverzögerung wieder zurück in das Herz. Es wird kein äußerer Sender benötigt, der ein äußeres Signal erzeugt und abgibt. Sondern dass Signal, das aus dem Herzen kommt, wird genommen und mit Zeitverzögerung rückgekoppelt."
" Wenn das Herz jetzt außer Takt kommt und einen chaotischen Zustand annimmt, dann sorgt diese Zeitverzögerung selber dafür, dass dieses Chaos unterdrückt wird."
Das neue Gerät wäre kein Schrittmacher im eigentlichen Sinne, sondern eine Art Echomacher, der lebensbedrohliche chaotische Zustände verhindert. Noch ist er nur eine Vision. Doch eines Tages könnte er effektiver seinen Dienst verrichten als die heutigen Implantate.
Und das Resümee? Nun, die Chaostheorie hat die Wissenschaft sicher nicht komplett umgewälzt. Das scheint heute klar. Und für sich selbst gesehen löst sie auch keine Probleme. Aber eingebettet in einen größeren mathematischen Rahmen hat sich das Chaos - das meinen jedenfalls die Experten - zu einem nützlichen Werkzeug gemausert.
Peinke:
" Die Chaostheorie wird viele weitere Anwendungen finden. Das Feld ist aktiv, ist stark in Anwendungsbeispiele gegangen."
Peitgen:
" Sie ist ein Teil geworden inzwischen von einer ganzen Palette naturwissenschaftlicher und mathematischer Aktivitäten."
Schöll:
" Wenn wir den Begriff weiter fassen als nichtlineare Dynamik, dann spielt es sicher eine große Rolle in ganz verschiedenen Bereichen."
Geisel:
" Wir haben in dieser Chaostheorie viele Methoden entwickelt, die nun nützlich sind in anderen Bereichen. Und die wenden wir nun in anderen Bereichen an. Und selbst wenn dort kein Chaos auftritt - dennoch sind die Methoden hilfreich."