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Aphrodite. Die Geschichte einer abendländischen Passion

Es gibt einen antiken Mythos, der auf nachhaltige Weise das abendländische Bild vom Künstler geprägt hat. Er handelt von dem auf Zypern lebenden Bildhauer Pygmalion, der zum Weiberfeind geworden war und seiner Liebessehnsucht nur dadurch Ausdruck zu verleihen wußte, daß er sich selbst ein ideales Frauenbildnis aus Elfenbein schnitzte. Angesichts dieses perfekten, aber toten Idols flehte er am Altar der Aphrodite, die Göttin der Liebe möge seinen Wunsch erfüllen und dem Abbild seiner Phantasie Leben einhauchen. Seine Bitte ward erhört und er konnte sein Gebilde als belebte und beseelte Inkarnation seines Wunsches in die Arme schließen.

Michael Wetzel |
    Dieses Phantasma der Animation eines von Menschenhand hervorgebrachten Artefakts hat die Geschichte künstlerischen Schaffens seit der Antike immer wieder heimgesucht. Es geht dabei um die nachgerade zwanghafte Männerphantasie, den realen Repräsentantinnen des anderen Geschlechts die Ausgeburten des eigenen künstlerischen Schaffensdrangs entgegenzusetzen: artifizielle Frauen, Androiden als mutterlos geborene Töchter rein aus Männerhand. Lebende und liebende Statuen waren das geheime Ziel der plastischen Künste, und man bemühte sich, dem kalten Marmor ebenso Wärme und Weichheit optisch zu verleihen wie die Maler ihren Farben das berühmte Inkarnat, die Leuchtkraft des erötenden Fleisches.

    In dem gleichzeitigen Bemühen, den künstlichen Weibsbildern vollendete Schönheit zu verleihen, sah man sich schon recht früh vor das Problem gestellt, daß keine lebende Frau diesem Ideal als Vorbild dienen konnte. Man ging folglich zu der Praxis über, die jeweils perfekt ausgebildeten Glieder einzelner Modelle im Kunstwerk zu montieren. Makellos schön, das konnte aber nur eine sein, nämlich die Göttin der Liebe selbst, Aphrodite oder - wie sie im römischen Kulturkreis hieß - Venus. Diesem Motiv, dem Bild der göttlichen Aphrodite, hat der Kasseler Kunsthistoriker Berthold Hinz nun in seinem Buch eine intensive Analyse gewidmet. Er nennt sie im Untertitel auch die "Geschichte einer abenländischen Passion", denn genau dieser Aspekt interessiert ihn: der Einsatz männlicher Leidenschaft, der sich in der Unsterblichkeit dieses Wunsches nach einem Abbild der göttlichen Schönheit offenbart.

    Den Ausgangspunkt bildet die so genannte "knidische Aphrodite", die 340 vor Christu von dem athenischen Bildhauer Praxiteles geschaffen wurde. Die heute nur durch römische Kopien bekannte Statue bildete den Anziehungspunkt des Heiligtums der Aphrodite in Knidos, ein Ort an der kleinasiatischen Küste, war sie doch die erste ganzkörperlich nackte Darstellung der griechischen Aphrodite, die von allen Seiten betrachtet werden konnte. Hinz beschäftigt sich mit den Mythen, die sich um die geheimnisvolle Schönheit der Figur ranken und versucht aufgrund der archäologischen Erkenntnisse ihre räumliche Präsentation zu rekonstruieren Dabei fasziniert ihn besonders an den Berichten ein immer wieder kehrendes "Hintertürchen": Der Tempelraum, in dem die Statue ausgestellt war, soll nämlich eine rückwärtige Tür besessen haben, durch die man sich der Göttin hätte auch von hinter nähern können.

    Hinz interpretiert diese Anordnung als libidinöse Fixierung auf das Gesäß, die er im Zusammenhang der griechischen Homosexualität bzw. genauer Päderastie sieht. Mit der knidischen Aphrodite kommt dieser "Gesäßkult" auch bei der Weiblichkeit zum Durchbruch, wie in der "Aphrodite Kallipygos" (zu deutsch: "Die mit dem schönen Hintern"). Hinz verweist demgegenüber darauf, daß die Darstellung des Genitalbereiches von einer Negation der anatomischen Merkmale zeugt. Der Autor sieht darin eine ästhetische Entscheidung, die von einer kulturellen Scheu des Mannes vor dem als häßlich erlebten weiblichen Genital zeugt.

    Leider bleibt die Untersuchung aber bei solchen Statements stehen, ohne nach Erklärungen zu suchen, die über die kunsthistorische Beschreibung hinausgehen. Und das obwohl es gerade in letzter Zeit zahlreiche Untersuchungen zu den Geschlechterbildern der Antike und speziell zur griechischen Päderastie gibt, die u. a. darauf hinweisen, daß das, was Hinz die "Frau mit der zweifachen sexuellen Mechanik" nennt, eine massive Verleugnung der reifen Weiblichkeit als Fruchtbarkeit, Fortpflanzung und damit Vergänglichkeit ist.

    Die Fortsetzung der Analyse durchstreift dann das weite Feld anderer männlicher Versuche, die Natur nachzuahmen oder gar zu übertreffen. Man kennt die Beispiele: die gemalten Trauben des Zeuxis, nach denen Vögel pickten, die mechanischen Kunstwerke des Daidalos, Myrons Kuh etc.. Mit dem Christentum beginnt die Verfolgung dieses Götzentums, allem voran natürlich der Bildersturz der Aphrodite-Darstellungen. Und dennoch hört dieses Gespenst männlicher Leidenschaft nicht auf, in den Bildern wiederzukehren, wie der Autor an Beispielen romanischer Skulptur, aber auch am Rollentausch von Venus- und Marienbildern demonstriert. Im Gewande christlicher Allegorik schleicht sich antike Erotik wieder ein, bis schließlich Dürers Neustrukturierung der Körperproportionslehre des Zeichnens die sexuellen Konnotationen des Nackten in die Kunstform des Aktes aufhob.

    Das Buch von Hinz erzählt diese Geschichte einer abendländischen Passion nicht ohne selbst einen passionierten Autor zu erkennen zu geben. Leider überwiegt dabei auch in theoretischer Hinsicht eine Art Nacktkultur. Eine wissenschaftliche Ebene der Problematisierung fällt dem Unmittelbarkeitspathos zum Opfer. Jedenfalls erlaubt sich der Autor, über seinen Gegenstand zu schreiben, ohne die Fülle neuerer kunst- und kulturgeschichtlicher Forschungen zum Themenfeld auch nur eines Blickes zu würdigen. Andererseits pflegt er bei den detaillierten Beschreibungen der künstlerisch dargestellten weiblichen Körperteile einen geschraubten Gelehrtenstil, wie man ihn aus dem 19. Jahrhundert kennt, das bei der Beschreibung intimer Sexualthemen ins Lateinische überzuwechseln pflegte.

    "Wer Unterhaltung sucht, wird in diesem Buch auf seine Kosten kommen und auch seine Bildung bereichern können. Wer allerdings Erkenntnis sucht, bleibt enttäuscht zurück, denn an einer Deutung seines Materials scheint Hinz nicht gelegen zu sein.