Auf vier oder sechs Spuren brausen Autos im Berufsverkehr über die Leipziger Straße in Berlin Mitte, die den Alexanderplatz und den Potsdamer Platz verbindet. Direkt an die Straße grenzen Arkaden für die Fußgänger. Aber zum Verweilen laden die nicht ein. Die zwei Tische vor dem italienischen Restaurant hier sind leer. Zu laut und stickig ist es durch den angrenzenden Verkehr. Fragt man die Stadtplanungsarchitektin Antonella Radicchi nach den lautesten und unangenehmsten Orten der Stadt, steht die Leipziger Straße ganz oben auf ihrer Liste.
"Es ist wirklich ein Albtraum, dort entlangzugehen. Man hat diese wunderschönen Arkaden und dann grenzen sie an eine so laute Straße. Dieser überdachte Fußweg ist ein Sammelpunkt für Luft- und Lärmverschmutzung. Die Luft zirkuliert nicht, deshalb strömen die Abgase zwar hinein, kommen aber nicht mehr hinaus. Dasselbe gilt für den Lärm – und der wird durch die Decke und die Fassade sogar noch reflektiert und wird immer lauter."
Antonella Radicchi hat sich angewöhnt, eine Stadt mit den Ohren zu erkunden und Orte wie die Leipziger Straße treiben sie in die Verzweiflung, weil hier ihrer Ansicht nach nur mit dem Auge geplant wurde. Wie sehr die Menschen vom Lärm belastet werden, sei offenbar außer Acht geblieben.
Lärm macht krank
"Wenn der Geräuschpegel bestimmte Werte überschreitet, belastet er nachweislich unsere Gesundheit. Lärm kann Herzkreislauferkrankungen, Schlafstörungen und Herzinfarkte auslösen sowie die geistige Entwicklung von Kindern beeinträchtigen."
Schon wer dauerhaft mehr als 65 Dezibel ertragen muss, ist durch solche Erkrankungen bedroht. So laut ist in etwa ein vorbeifahrendes Auto. In Europa werden Radicchi zufolge 125 Millionen Menschen derart von Verkehrslärm in Mitleidenschaft gezogen, in Berlin sind es 220.000.
Deswegen hat die Architektin an der Technischen Universität Berlin ein Gegenprogramm gestartet. Sie will genervten Großstädtern die Chance geben, Orten wie der Leipziger Straße zu entfliehen. Dafür hat sie eine App entwickelt: "Hush City" heißt sie, die stille Stadt. Darin kann jeder, der mit einem Smartphone irgendwo auf der Welt in einer Stadt unterwegs ist, seine liebsten ruhigen Plätze markieren, eine kurze Aufnahme der Geräuschkulisse hochladen und ein Foto dazustellen.
Ein Netzwerk ruhiger Orte
"Menschen sollen auf ein Netzwerk ruhiger Orte in ihrer Nachbarschaft zurückgreifen können, dort, wo sie leben oder arbeiten. Diese Plätze sollten zu Fuß und für alle erreichbar sein, also etwa alte Menschen oder Mütter mit kleinen Kindern."
Berlin habe zwar auch in der Innenstadt schon Ruhezonen ausgewiesen. Das seien aber meist größere Parks wie etwa der Tiergarten. Es gebe zu viele Orte in der Stadt, von denen aus solch ein ruhiges Gebiet nicht zu Fuß erreichbar ist. Rund 250 Einträge hat ihre App bisher gesammelt, 50 davon aus Berlin, wo Radicchi in Neukölln gemeinsam mit einem Stadtteilbüro ihr Pilotprojekt gestartet hat.
Einer davon ist der Berliner Weichselplatz. Der liegt an einer Kanalgabelung, an der drei Stadtteile zusammentreffen. Kinder toben auf einem Spielplatz, auf der gegenüberliegenden Straßenseite stärken die Eltern sich im Café. Skatebordfahrer springen auf einem eigens hergerichteten Platz über Betonrampen. Hin und wieder rollt ein Auto durch die verkehrsberuhigte Zone. Ein eklatanter Unterschied zur lauten Hauptstraße, obwohl man auch hier nicht ganz ohne Geräusche auskommt.
Keine Stille, aber angenehme Klanglandschaften
"Leute erwarten gar nicht, dass sie in einer Stadt vollständige Ruhe finden. Aber sie erwarten angenehme Klanglandschaften. Sie wollen keinen Straßenverkehr, haben aber in der Regel nicht so viel gegen spielende Kinder oder plätscherndes Wasser."
Es ist dieser subjektive Eindruck, auf den es Radicchi ankommt. Sie will mit ihrer App dazu beitragen, dass Geräusche nicht allein als Lärm wahrgenommen werden, den es zu vermeiden gilt, sondern auch als etwas Angenehmes – als Ressource, wie sie es nennt. Das sei eine Lücke im bisherigen Kampf gegen die Lärmbelästigung. Auch die zuständige Europäische Umweltagentur hat vor zwei Jahren festgestellt, dass es nicht ausreicht, Geräuschpegel zu messen. Sie hat Mitgliedsstaaten und Forscher deshalb aufgefordert auch herauszufinden, welche Geräusche Menschen stören und welche für sie erträglich oder gar angenehm sind.
"Wenn wir von den persönlichen Präferenzen der Menschen ausgehen, können wir Planungsverfahren und politische Richtlinien entwickeln, um die existierenden ruhigen Orte zu schützen und neue zu schaffen."
Manche Orte bleiben geheim
Um sich nicht allein aufs Internet und auf Smartphone-Nutzer zu verlassen, führt Radicchi auch Interviews mit Stadtbewohnern durch und macht Rundgänge, sogenannte Soundwalks, bei denen Teilnehmer ihre Eindrücke von den Geräuschen in der Umgebung schildern können. Nur auf eines war sie nicht vorbereitet: dass manche Menschen gar keine Lust haben, ihre ruhigen Rückzugsorte preiszugeben.
"Einer sagte mir: Warum soll ich meinen Lieblingsort verraten, der ist geheim, ich will ihn gar nicht mit den anderen teilen?"
"Einer sagte mir: Warum soll ich meinen Lieblingsort verraten, der ist geheim, ich will ihn gar nicht mit den anderen teilen?"
Dass Menschen nicht nur Ruhe brauchten, sondern auch allein sein wollten, müsse sie womöglich noch stärker berücksichtigen, sagt Radicchi. An ihre Idee glaubt sie trotzdem.
"Ich bin Optimistin, ich glaube, dass diejenigen, die sich für das Projekt interessieren, auch Respekt vor den Rückzugsorten anderer haben. Wenn man einen ruhigen Platz in der Stadt hat und da sitzt man nicht allein, sondern mit zehn anderen Menschen, was soll denn passieren?"