Wo sonst ein unglaublicher Andrang und Chaos herrscht, ist Ruhe eingekehrt. Muslime in weißen Gewändern, in geordneten Reihen - die Abstandsregeln beachtend - umkreisen die Kaaba. Traurige Bilder aus Mekka für die, die sich in diesem Jahr zur Pilgerreise angemeldet hatten. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als im Fernseher oder im Internet die wenigen Pilger per Livestream zu verfolgen - oder aber die Smartphone App "Muslim 3D" herunterzuladen.
Mit dem Avatar zur Kaaba
Der Entwickler der App ist Bilal Chbib, Geschäftsführer der Bonner Softwarefirma Bigitec. Dabei handelt es sich um...
"... ein Educational RPG-Game. Das heißt: so etwas wie ein bildungsvermittelndes Rollenspiel. Bisschen inspiriert von Videospielen, die man kennt, wo man als 3D-Charakter in einer Welt herumläuft und die erforschen kann, auf bestimmte Missionen geht und dabei auch viel über diese Welt lernt."
Bei diesem Videospiel wird der Hadsch simuliert. Derzeit kann man auf mobilen Geräten die Demoversion des Spiels kostenlos herunterladen. Spätestens Ende 2020 will Chbib eine finale Version auf den Markt bringen. Bereits jetzt kann man auf dem Smartphone einen Avatar steuern, die Kaaba besuchen und die Landschaft um Mekka erkunden. Bilal Chbib:
"Diesen Ansatz haben wir auch gewählt, damit wir das interessant gestalten für diejenigen, die interessiert sind, mehr über die islamische Kultur und Geschichte zu erfahren."
Die islamische Pilgerreise hat einen festen Ablauf, den die App "Muslim 3D" virtuell nachzeichnet. Wir können wie Pilger in Mekka die Kaaba sieben Mal umrunden – und zwar gegen den Uhrzeigersinn. Ebenfalls sieben Mal müssen wir den Weg zwischen den zwei Erhebungen Safa und Marwa zurücklegen. Am siebten Tag hören die Pilger eine Predigt und am achten steigen sie auf den Berg von Arafa, der etwa 25 Kilometer von Mekka entfernt liegt. Vor dem neunten Tag übernachten sie in Mina, bevor sie den neunten Tag schweigend an den Hängen des Arafa verbringen.
Nach Sonnenuntergang gehen sie zurück nach Mina, wo sie sieben Steinchen auf einen Felsen werfen, der den Teufel symbolisieren soll. Danach schlachten die Pilger ein Opfertier, und wir beenden unsere Reise.
Islamwissenschaftler: "Authentisches Fundament"
Alle diese Traditionen gehen auf die Geschichte des Propheten Abraham und seiner Ehefrau Hager zurück. Der Legende nach soll Abraham seine Frau Hager und seinen Sohn Ismael in dem felsigen und unfruchtbaren Tal von Mekka zurückgelassen haben. Auf der Suche nach frischem Wasser sei Hagar sieben Mal zwischen dem Hügel von Safa und Marwa hin und her geirrt. Hagar fand nach dieser Tortur tatsächlich die für Muslime heilige Zamzam-Quelle.
Viele Details, die man bei so einem Spiel wie Muslim 3D also beachten muss. Um Fehler zu vermeiden, habe man auch einen Islamwissenschaftler als Berater ins Entwicklerteam geholt.
"Es war mir persönlich sehr wichtig, dass wir Authentizität liefern, weil das ein sehr sensibles Thema bei Muslimen ist und auch für mich, dass wir da auf authentischem Fundament stehen, damit es eine gewisse Akzeptanz auch hat."
Tatsächlich sei im Zuge der Corona-Pandemie die Nachfrage für Muslim 3D gestiegen. Auf die internationale Berichterstattung ist Chbib ebenso stolz wie auf die steigenden Downloadzahlen. 60 Prozent aller Downloads seien erst nach Ausbruch der Corona-Pandemie im März erfolgt.
"Das mag daran liegen, dass die Leute zu Hause sind, nichts zu tun haben und deswegen auf so etwas wie unsere Produkte oder auf andere Produkte kommen."
Durch virtuelle Vorbereitung künftige Katastrophen verhindern
Das primäre Ziel von Muslim 3D sei der Lernfaktor. Auch um Katastrophen wie aus dem Jahr 2015 zu verhindern. Als Zehntausende Menschen dicht an dicht standen, brach plötzlich eine Massenpanik aus. Nahe Mekka kamen dabei 700 Menschen um ihr Leben.
"Ich sehe den größten Mehrwert genau darin, dass man sich darauf vorbereitet. Dass man die Orte schon mal virtuell besucht, um das Chaos, wenn man dort ist, zu reduzieren."
Zwar bemühe sich die saudische Regierung die Organisation des Hadsch immer weiter zu verbessern. Dennoch, glaubt Chbib, dass eine gut vorbereitete Pilgergemeinschaft die beste Prävention ist. Muslim 3D könne hier einen wichtigen Beitrag leisten.
"Da solltet ihr nicht langgehen, hier solltet ihr euch treffen, so sehen eure Führer aus, wenn ihr dort seid. Versammelt euch da, wenn irgendwas passiert. Hier übrigens findet ihr die Ärzte-Station, so kommt ihr dahin. Das ist ja super, wenn man da virtuell hingehen kann, als wäre man dort."
Noch realistischer werde es in Kombination mit einer speziellen Brille für virtuelle Realität, abgekürzt auch VR genannt. Eine VR-Unterstützung sei in der finalen Version bereits implementiert. Bilal Chbib:
"Und es fühlt sich wirklich realistisch an, als würde man dort stehen. Klar die Geräte sind noch in gewisser Hinsicht limitiert, aber die entwickeln sich rapide. Ich sehe den Fortschritt in der Technologie. Ich habe hier hinten einen VR-Anzug. Wenn ich den anziehe und mich in VR bewege, dann habe ich einen 3-dimensionalen Körper. Ich bin in einem virtuellen Raum; ich sehe meine Arme und Beine und meinen Kopf sich entsprechend im Raum bewegen."
Religionssoziologe: "Hadsch bedeutet auch Strapazen"
Es fehle nur noch, dass man Dinge berühren oder virtuell riechen kann. Dennoch glaubt Chbib, dass eine virtuelle Reise nach Mekka die islamische Pflicht der physischen Pilgerreise nicht ersetzen kann. Denn es gehe schließlich auch um körperliche Anstrengung. Dazu Rauf Ceylan, Religionssoziologe an der Universität Osnabrück.
"Die Geschichte von Abraham, seiner Frau Hager sowie seines Sohnes Ismael selbst am eigenen Leib zu erleben. Also insofern soll schon der Pilger die Geschichte des Patriarchen und seiner Familie, durch bestimmte Symbole reproduzieren. Zudem sollen die Pilger ja auch die Strapazen mitfühlen, weil Hadsch bedeutet ja auch immer Strapazen."
Den physischen Aspekt könne die virtuelle Realität weder im Augenblick noch in der Zukunft ersetzen. Darin sind sich 3D-Muslim-Entwickler Bilal Chbib und der Wissenschaftler Rauf Ceylan einig. Einigkeit herrscht auch darin, dass das Thema "virtuelle Realität" noch nicht ausreichend Eingang in die theologische Forschung gefunden hat - aber durchaus ins aktive Gemeindeleben in Deutschland. Der Münsteraner islamische Theologe Mouhanad Khorchide etwa leitet seit den coronabedingten Einschränkungen von Zusammenkünften eine virtuelle Moschee, in der er freitags predigt. Dies sei nicht als Ersatz für eine normale Moschee gedacht, so Khorchide, "sondern als Erweiterung des Angebots, gerade zu diesen Zeiten, Corona-Zeiten, wo die Moscheen zumachen mussten."
Dennoch glaubt Rauf Ceylan, "dass die Frage von Gebet, Religion und Digitalisierung ein Zukunftsthema ist, dass die Theologinnen und Theologen noch nicht für sich entdeckt haben. Das heißt auch: Die islamische Theologie muss sich in Zukunft viel stärker mit dieser Frage auseinandersetzen."