Denn beim Thema Steuergerechtigkeit zeigt sich laut Gros ein systemimmanentes Paradoxon der EU: Einerseits seien Steuern eine nationale Angelegenheit, gleichzeitig sage aber die EU: "Wenn ihr einzelnen Unternehmen gewisse Steuervorteile gebt, verstößt das gegen die Konkurrenz innerhalb des internen Marktes und deswegen können wir das nicht erlauben." Und eigentlich wollten die Mitgliedsländer auch mehr Steuergerechtigkeit, sagte Gros. Andererseits wollten sie ihre nationale Hoheit über das Steuerrecht nicht aufgeben.
Auf Dauer müssten die europäischen Regierungen aber einen Kompromiss in der Frage finden, der nicht nur nationale Interesse im Blick habe, so Gros. Ein "größeres politisches Signal" sei erforderlich.
Der Wirtschaftswissenschaftler geht davon aus, dass im Fall Apple noch nicht das letzte Wort gefallen ist. "Es wird sich so lange hinziehen, bis alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft sind."
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Apple soll 15 Jahre lang unerlaubte Steuervorteile in Irland genossen haben. Und dieses Geld, das soll der Konzern jetzt zurückzahlen, und zwar an die irischen Steuerbehörden. Am Telefon ist jetzt Daniel Gros vom Centre for European Policy Research. Das ist ein Think Tank in Brüssel, der sich genau mit solchen Fragen sehr viel beschäftigt. Schönen guten Tag, Herr Gros.
Daniel Gros: Guten Morgen aus Brüssel.
Armbrüster: Herr Gros, 13 Milliarden Euro Steuern nachzahlen, für wen ist das jetzt die größere Ohrfeige, für Apple oder für die Regierung in Irland?
Gros: Eigentlich sollte es keine Ohrfeige für Irland sein, sondern ein Geschenk. Denn wenn man das mal auf Deutschland umrechnet, wäre das so viel, als wenn der deutsche Staat plötzlich 260 Milliarden Mehreinnahmen hätte. Eigentlich sollte sich die irische Regierung doch freuen.
Armbrüster: Was schätzen Sie denn, warum freut sie sich nicht?
Gros: Sie freut sich natürlich nicht, weil sie sich sagt, vielleicht bekommen wir das Geld ja auch, aber dann werden wir in der Zukunft kein Geld mehr bekommen, denn viele Firmen werden nicht mehr hier formal in Dublin registriert sein, und deswegen letztendlich auf längere Zeit verlieren wir doch etwas und wir verlieren vor allen Dingen unseren guten Ruf als Steuerparadies. Und das ist es, worauf es der irischen Regierung eigentlich ankommt.
Hoheitliche Aufgabe im gemeinschaftlichen Korsett
Armbrüster: Und ist genau das auch das Signal, was Margrethe Vestager mit dieser Entscheidung aussenden will?
Gros: Genau. Das ist der Knackpunkt dabei, dass einerseits Steuern noch rein eine nationale Angelegenheit bleiben, dass aber de facto die EU sagt, wenn ihr einzelnen Unternehmen gewisse Steuervorteile gebt, verstößt das gegen die Konkurrenz innerhalb des internen Marktes, und deswegen können wir das nicht erlauben. Die Kommission versucht also, faktisch eine hoheitliche Aufgabe doch irgendwie in ein gemeinschaftliches Korsett zu zwingen, damit solche Sachen nicht weiter passieren.
Armbrüster: Das heißt, eigentlich sollten dann auch bei einigen Leuten in der Bundesregierung die Alarmglocken schrillen, denn eigentlich ist das, was Brüssel da jetzt fordert, ein einheitliches europäisches Steuersystem.
Gros: Es läuft in diese Richtung. Es läuft aber auch in die Richtung, die man eigentlich wollte, nämlich mehr Steuergerechtigkeit, weniger Steuervorteile für große multinationale Unternehmen, die es einfacher haben, verschiedene Steuerschlupflöcher auszunutzen. Deswegen ist die Regierung auch in Deutschland wie in vielen anderen Ländern dabei gespalten. Einerseits wollen sie mehr Gerechtigkeit, aber andererseits wollen sie gleichzeitig ihre Souveränität auch nicht aufgeben und beides geht halt nicht gleichzeitig.
Armbrüster: Denn auch Deutschland - das sollte man hier mal anmerken - gewährt auch einigen Unternehmen Vorteile bei der Besteuerung. Kommen wir zurück auf diesen Fall. Jetzt haben sowohl der Apple-Konzern als auch Irland schon angekündigt, gegen diese Entscheidung aus Brüssel vorzugehen. Könnte sich diese ganze Geschichte jetzt noch länger hinziehen?
Gros: Sie wird sich sicher noch sehr lange hinziehen, denn bei solchen Summen werden natürlich alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft werden und es wird insbesondere auch wieder der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sich damit beschäftigen müssen, und bei so einem komplizierten Fall, der auch so viele Jahre betrifft, wird es sicher noch sehr lange dauern, bis das letzte Wort dabei gefallen ist.
Nationale Steuergesetzgebung versus Steuergerechtigkeit
Armbrüster: Und wird das auch ein Thema sein im Europäischen Rat - denn letztendlich trifft es ja auch die Regierungen der Mitgliedsländer?
Gros: Natürlich kann sich der Europäische Rat nicht direkt damit beschäftigen, denn das war formal eine Entscheidung der Kommission. Es werden jetzt die rechtlichen Instanzen beschritten und da kann sich der Europäische Rat natürlich nicht einmischen. Worauf es natürlich ankommt ist, dass die Regierungschefs sich auch einmal überlegen, was wollen sie eigentlich. Wollen sie die vollkommene Freiheit bei der nationalen Steuergesetzgebung auf jeden Fall beibehalten, oder wollen sie auch wirklich dem nachgehen, was sie eigentlich gesagt haben, nämlich mehr Steuergerechtigkeit. Und da sollten sie sich einfach mal fragen, wo liegen ihre Prioritäten.
Armbrüster: Zeigt sich denn dann nicht hier eigentlich die ganze Verlogenheit, die wir immer wieder erleben, wenn es um Steuern in Europa geht? Einerseits die einzelnen Mitgliedsländer, die sich immer auch gegenseitig versuchen, Unternehmen abzuluchsen, die Unternehmen gezielt ansprechen, sich in bestimmten Regionen niederzulassen, und andererseits in Brüssel dann immer die große Forderung nach Steuergerechtigkeit - was für ein Wort.
Gros: Ja, das ist leider aber so, wie man so schön sagt, systemimmanent angelegt. Das heißt, wenn man weiter darauf beharrt, dass man die Steuerangelegenheiten national erledigen möchte, ohne darauf zu schauen, was denn die eigenen Entscheidungen für einen Einfluss haben auf die anderen, dann kommt man aus dieser Nummer nicht heraus. Ich glaube, es muss dabei wieder ein europäischer Kompromiss gefunden werden, indem man zugibt, dass man bei den Steuerentscheidungen, die große multinationale Unternehmen betreffen, mehr zusammenarbeiten muss und dabei nicht nur auf das eigene nationale Interesse schauen kann. Da wird es noch viel Kleinarbeit bedürfen, aber erst mal brauchen wir ein größeres politisches Signal, dass man auch wirklich willens ist, in diese Richtung überhaupt zu gehen.
Armbrüster: Könnte es denn sein, dass man mit solchen Entscheidungen, wie sie da heute in Brüssel zurzeit verkündet werden, auch multinationale Konzerne vergrault, sich überhaupt in Europa niederzulassen?
Gros: Man könnte natürlich deren Steueranwälte vergraulen, aber ich glaube nicht, dass man den wirklichen Investitionen dabei irgendeinen Schaden zufügt. Denn diese Unternehmen kommen ja nach Europa, weil es hier einfach einen großen Markt gibt, weil es viele gut ausgebildete Fachkräfte gibt. Und ob sie nun in Irland, Luxemburg, Holland oder Deutschland irgendwie ein kleines Steuersparmodell noch ausnutzen können, ist dabei zweitrangig für die Frage, wo machen sie wirklich ihre Geschäfte, wo schaffen sie Arbeitsplätze. Da handelt es sich mehr um Finanztransaktionen, die keine Arbeitsplätze schaffen.
US-Unternehmen nehmen besonders gern Steueroasen in Anspruch
Armbrüster: Jetzt hat sich auch das amerikanische Finanzministerium vor wenigen Tagen schon eingeschaltet in diesen Streit. Der Finanzminister in Washington hat sich darüber beschwert, dass die EU-Kommission immer wieder gezielt amerikanische Unternehmen abstraft, zuletzt ja auch schon die Kaffeehaus-Kette Starbucks. Was ist dran an diesem Vorwurf, gezielt amerikanische Unternehmen ins Visier zu nehmen?
Gros: Es stimmt nicht, dass die Kommission gezielt amerikanische Unternehmen ins Visier nimmt. Es stimmt aber leider auch, dass große amerikanische Unternehmen besonders aktiv auf diesem Gebiet sind, und das hat seinen ganz einfachen Grund: Weil es nämlich in der amerikanischen Steuergesetzgebung eine Besonderheit gibt, nämlich die, dass Gewinne, die man im Ausland behält, in Amerika überhaupt besteuert nicht werden. So etwas gibt es in Europa nicht oder nicht in einem so vollen Umfang. Deswegen ist es für europäische Unternehmen weniger attraktiv, Steueroasen in Europa in Anspruch zu nehmen. Für die amerikanischen Unternehmen ist es aber sehr viel interessanter und deswegen werden natürlich verhältnismäßig viele amerikanische Unternehmen bei diesen Steuerschlupflöchern auch gefunden.
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