"Also wir können einfach aus den Meeren eigentlich nicht mehr rausholen. Das heißt, dieses ganze Wachstum, was wir in den letzten Jahren gesehen haben, das kommt eigentlich komplett aus der Aquakultur."
Die Weltbevölkerung wächst, der Fischkonsum steigt. Im Jahr 2030, so schätzt die Welternährungsorganisation FAO, werden zwei von drei Fischen aus Zuchtanlagen stammen. Dafür erfindet die Aquakultur Käfige, in denen sich Millionen Fische tummeln, sie erprobt neue Futtermittel und sie setzt auf Züchtungen, die robust sind und schnell wachsen.
"Gleichzeitig kennen wir natürlich die Probleme, die mit Massentierhaltung einhergehen. Also in dem Zusammenhang denke ich schon, dass die Aquakultur aus den Fehlern der Landwirtschaft gelernt hat und auch zwangsläufig lernen musste."
Garnelen in "Hochhäusern unter Wasser"
Der Weg zu den Förde-Garnelen führt nicht zum Meer. Hinter vielen grünen Wiesen endet er beim Klärwerk Bülk, nordwestlich von Kiel. Hier, in einer unscheinbaren grünen Halle, züchtet Bert Wecker Weißbeingarnelen.
Eigentlich findet man die Weißbeingarnele vor den Küsten Süd- und Mittelamerikas, in Wasserschichten, die über 20 Grad warm sind. Hier in Norddeutschland schwimmen sie nun in kräftig erwärmtem Ostseewasser durch eine Art Garnelen-Großstadt. "Wie kriege ich möglichst viele Leute auf wenig Quadratmetern unter? Ich baue Hochhäuser. Wir haben jetzt nicht Hochhäuser in den Himmel gebaut, sondern Hochhäuser unter Wasser."
Fünf schwarze Becken: Vorn die jüngsten Garnelen, ganz hinten die ausgewachsenen. Wer genauer hinschaut, erkennt in dem klaren Wasser übereinandergeschichtete schwarze Platten. "Also wir haben hier auf einem Meter acht bis zehn Etagen. Und man sieht, wie die Garnelen regelrecht in diese Etagen reinschwimmen. Man sieht zwischen diesen Blöcken – ein bisschen wie New York aufgebaut – das System aus Avenues, wo im Prinzip 90 Grad zueinander die Straßenzüge angeordnet sind. So dass die über die Straßenzüge die Etagen wechseln können."
Angenehmes Licht, alle fünf Minuten Futter
Um den Garnelen die ungewohnte norddeutsche Heimat schmackhaft zu machen, baut Geschäftsführer Bert Wecker ihnen nicht nur Straßen und Hochhäuser. Er sorgt auch für tropische Wassertemperaturen und angenehmes Licht. "Wir haben jetzt hier so LED-Bänder installiert, mit Weißlicht und Blaulicht, weil wir festgestellt haben, dass man mit Lichtfarben auf Verhalten sehr gut Einfluss nehmen kann. Bei Rotlicht würden sie inaktiver werden und würden mehr Fläche beanspruchen und dann würden sie mehr Stress haben."
Um zu vermeiden, dass die Tiere sich bei Stress und Hunger gegenseitig auffressen, lässt Wecker es in der Garnelen-Metropole zudem regelmäßig regnen. "Wenn es aussieht wie Regen, dann fällt immer von oben Futter hinein. Das machen wir alle fünf Minuten 24 Stunden am Tag."
Wiegen die Garnelen ungefähr 25 Gramm, werden sie "geerntet": mit einem Kescher rausgefischt, mit Strom betäubt und getötet, gekühlt [*], verpackt und versendet. Spätestens 24 Stunden nach dem Abfischen sind sie beim Kunden. "Und man sieht schon so ein bisschen unser Problem derzeit, das letzte Becken, unser Erntebecken ist schon relativ leer. Wir haben einfach sehr viel Nachfrage momentan."
Krebstiere und Fische sind gesünder und nachhaltiger als Fleisch
Garnelen sind wie andere Krebstiere und Fische auch besonders effiziente Futterverwerter. Als Lieferant von wichtigen Proteinen und Omega-3-Fettsäuren sind sie damit nicht nur gesünder als Fleisch, sondern auch nachhaltiger, wie Mark Heuer von der Umweltorganisation WWF erklärt.
"Jetzt brauche ich für ein Kilo Schweinefleisch, um das zu erzeugen, ungefähr drei bis fünf Kilo Futter."
"Wenn ich ein Kilo Tilapia erzeuge, dann brauche ich ein bis zwei Kilo, in richtig effizienten Farmen sind es 0,7 Kilo. Das liegt einfach daran, dass Fische einen effizienteren Stoffwechsel haben, weil sie wechselwarm sind."
Anstatt ein Kilo Schweinefleisch zu produzieren, könnte man also mit der gleichen Futtermenge bis zu sieben Kilo Tilapia herstellen. Auch die CO2-Bilanz der Fischzucht ist im Schnitt deutlich besser als bei der Fleischproduktion. Könnte man mit "Fisch statt Fleisch" also nachhaltig die Welt ernähren? Mark Heuer: "Die Gefahr ist halt eben, dass wir uns durch dieses Wachstum neue Probleme ins Haus holen, wie zum Beispiel dass wir die Küsten-Ökosysteme zu stark belasten, weil wir Chemikalien und Medikamente in diesen Zuchten nutzen oder weil sich dort Krankheiten ausbreiten und dann auf wild lebende Tiere übergehen."
Antibiotika und Genpool-Kontamination
Eine moderne Haltung, die auf das Tierwohl und die Tiergesundheit setzt, ausgewogenes, hochwertiges Futter und eine effiziente auf Masse ausgelegte Produktion: Die Aquakultur hat viel von der modernen Landwirtschaft gelernt. Doch die Garnelenzucht von Bert Wecker ist eher das Modell "fortschrittlicher Öko-Betrieb". Auch die Fischzucht hat gravierende Probleme mit der Massentierhaltung. Da ist zum Beispiel der Lachs.
Für das beliebte "Hühnchen der Meere" gibt es bereits Impfungen gegen die wichtigsten Krankheiten und Parasiten. In Chile werden trotzdem für eine Tonne produzierten Lachs noch eineinhalb Kilo Antibiotika eingesetzt. Und der Farm-Lachs ist es auch, der allzu oft den Weg in die Freiheit findet: durch Stürme, zerfressene Käfige oder Schiffskollisionen gelangt er ins Ökosystem.
"Die Tiere in der Zucht, die sind ja anders gezüchtet und nicht darauf ausgelegt, dass sie in der freien Wildbahn überleben können. Wenn die jetzt entkommen, dann besteht die Gefahr, dass die sich vermehren mit wildlebenden Artgenossen, und die Nachkommen haben dann einfach geringere Chancen zu überleben. Also man sagt, der Genpool wird kontaminiert."
Chemiekeule gegen Parasiten und Überfischung bei Kleinfischen
Oder nehmen wir die Dorade: Gegrillt, gebacken, gebraten – der würzige, feine Fisch erfreut sich in Europa wachsender Beliebtheit.
Doch ebenso wie der Lachs trägt der Meerfisch mit seinen Ausscheidungen und Futterresten zur Überdüngung der Küsten bei. Und um ihn in Mengen produzieren und gesund halten zu können, komme zudem Formaldehyd zum Einsatz, erzählt Mark Heuer vom WWF:
"Wo jetzt erst einmal jeder die Hände über dem Kopf zusammen schlagen würde und sagen würde: ‚Oh Gott, das steht doch im Verdacht Krebs zu erregen! Wie kann man das denn ins Meer kippen?‘ Andererseits ist das das einzige, was die im Augenblick haben, um diesem Parasitendruck zu begegnen und ihre Zucht durchzuführen."
Im besten Fall könnte Aquakultur zur Schonung der Wildbestände beitragen: Wer Fisch einfach ernten kann, braucht ihn nicht mehr fangen. Aber mit der Aquakultur wuchs auch der Bedarf an Fischmehl als Futtermittel. Vor allem die Wildbestände von kleinen Fischen wie Sardinen oder Sardellen wurden zuletzt stark überfischt.
Das Nachsehen haben die lokalen Fischer. "In Indien sehen wir zum Beispiel, dass einige von diesen Fischarten für Fischmehl und Fischöl schon verschwunden sind. Und da gibt es jetzt Berichte von Fischereien, die einfach alles fangen, was sie in ihre Netze kriegen, egal ob da Jungfische dabei sind oder bedrohte Arten oder auch Fischarten, die wichtig sind für die Ernährung und den Lebensunterhalt von den kleinen Fischern vor Ort."
Läuft es richtig schlecht, dann landen diese teils illegal gefangenen Fische als Futter zum Beispiel in einer vollkommen überfüllten Shrimp-Farm, für die Mangrovenwälder zerstört wurden, die mit ihren Massen an Ausscheidungen und Futterresten die Gewässer überdüngt und das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringt.
Forschung hinkt hinterher
"Ja, die Aquakultur ist letztlich die Landwirtschaft unter Wasser und wir hinken ein wenig der agrarwissenschaftlichen Forschung hinterher", sagt Carsten Schulz, Leiter der Büsumer Gesellschaft für marine Aquakultur, kurz GMA.
"Das liegt einfach auch daran, dass wir ein moderner, relativ junger Wirtschaftszweig und auch Wissenschaftszweig sind und wir sicherlich aus den Erkenntnissen der landwirtschaftlichen Arbeit, der landwirtschaftlichen Forschung dann profitieren und auch viele Dinge übernehmen können. Das ist etwas, was aus meiner Sicht wirklich wichtig ist. Auch um vielleicht von den Fehlern zu lernen, die in dem einen oder anderen Sektor passiert sind in der Vergangenheit."
Überdüngung, Plünderung der Wildbestände, Eintrag von Keimen, Medikamenten und fremden Arten ins Wasser – die Probleme in der Aquakultur sind nicht eben klein. Doch in der Forschung gibt es viele Ideen und Lösungsansätze, wie sich das Potential der Aquakultur nachhaltig ausschöpfen lässt.
Welche Nährstoffe nutzt der Fisch eigentlich?
"Dieses etwas futuristisch anmutende oder sehr technisch anmutende System, das aus mehreren aufgebockten PVC-Becken besteht mit einem Förderband untendrunter, das nutzen wir, um Fischkot zu sammeln."
Michael Schlachter, wissenschaftlich-technischer Koordinator an der Forschungsanstalt GMA in Büsum, steht inmitten einer großen Halle mit unzähligen Versuchsbecken, Wasseraufbereitungsanlagen – und eben Fischkotsammlern. "Da kratzen wir vom Förderband dann den Fischkot sozusagen automatisch ab und haben ihn dann trocken vorliegen. Aus diesem Fischkot können wir den Nährstoffgehalt analysieren und sagen, was hat denn der Fisch an Nährstoffen aus dem Futter wirklich genutzt?"
Denn alles, was der Fisch nicht nutzt, wird nachher wieder ins Wasser ausgeschieden. Das ist ähnlich wie beim Dünger für die Pflanzen: was sie nicht aufnehmen, gelangt in den Boden und die Gewässer.
Damit darüber hinaus möglichst wenig Futter ungenutzt zu Boden sinkt, wird in anderen Forschungsprojekten und Zuchtanlagen auch das Fressverhalten der Fische durch Unterwasseraufnahmen analysiert. Zumindest in offenen Systemen lässt sich durch gezielte Fütterung der Nährstoffeintrag verringern.
Offshore-Anlagen verdünnen den Nährstoffeintrag
Doch weil er sich nie ganz vermeiden lässt, zeichne sich schon jetzt ab, dass Zuchtanlagen in Küstengewässern kaum noch genehmigt werden, sagt Mark Heuer.
"Was man ja auch daran sieht, dass die Produzenten sich auch darauf vorbereiten, indem sie investieren entweder in landbasierte Anlagen, geschlossene Systeme, oder eben den Schritt weiter raus aufs offene Meer mit so genannten Offshore-Firmen gehen."
Im letzten Jahr wurde die größte Offshore-Anlage der Welt von China aus übers Meer bis nach Norwegen geschleppt. Dort, fünf Kilometer von der Küste entfernt, werden nun rund 1,5 Millionen atlantische Lachse aufgezogen. Und zwar Lachse, die züchterisch optimal an die Bedingungen in den Käfigen auf dem Meer angepasst wurden und die rund doppelt so schnell wachsen wie ihre Brüder in Freiheit. Kameras, Sauerstoffsensoren und andere digitale Geräte optimieren dabei ständig Futter- und Nährstoffeinträge. Was dann doch noch ins Meer gelangt, verliert sich in den großen Wassertiefen. Moderne Massentierhaltung auf offener See.
Kreislaufanlagen an Land: umweltfreundlich, aber anspruchsvoll
Es gibt aber auch Anlagen, bei denen weder Ausscheidungen noch Tiere oder Keime in die Umwelt gelangen können. In landbasierten Kreislaufanlagen wird das Wasser immer wieder aufbereitet und wiederverwendet. Eine Anlagenform, die einiges an Wissen, Technik und Energie erfordert, wie Bert Wecker von den Förde-Garnelen weiß. Er zeigt ein großes Becken, in dem keine Garnelen, sondern kleine räderartige Plastikteilchen schwimmen.
"Das, was hier so schön blubbert mit diesen runden Strukturen drin, sind Häuser für Bakterien. Das ist ein sogenannter Biofilter, also Bakterien machen hier die Reinigungsarbeit, und oxidieren giftiges Ammoniak um in Nitrat-Stickstoff, der für die Garnelen nicht mehr giftig ist."
Neben diesen biologischen Filtern kommen mechanische und chemische hinzu. Alles, was so an Ausscheidungen herausgefiltert wird, geht an die Biogasanlage des Klärwerks und wird dort zur Energiegewinnung genutzt. Abgesehen von solchen Synergieeffekten sind Kreislaufanlagen allerdings standortunabhängig. Selbst die Schweiz kann auf diese Weise Meerfisch anbieten. Vor einem beeindruckenden Bergpanorama in Lostallo etwa duckt sich heute ein moderner Bau mit Kreislaufanlage, in dem nachhaltig produzierte "alpine Lachse" heranwachsen. Kostenpunkt für 200 Gramm geräucherten Lachs: rund 23 Euro 50.
"Abfälle" aus der Fischzucht als Pflanzennährstoff nutzen
"Und das ist zum Beispiel die Portulak-Keilmelde. Die ist eigentlich sehr spannend, weil die mehrjährig ist und man kann die Blätter essen und sie schmecken wirklich sehr, sehr gut und die entwickelt sich zu relativ großen Büschen."
Statt die Ausscheidungen der Fische aus den Kreislaufanlagen in die Biogasanlage zu geben oder zu entsorgen, hat in den vergangenen Jahren noch eine andere Idee Aufwind erhalten, die auch Bert Wecker schon ausprobiert hat, in einem Gewächshaus gleich neben der Garnelenfarm.
"Es gibt ja sogenannte salztolerante Pflanzen, die im Wattenmeer vorkommen, die als Überlebensstrategie haben, dass sie nicht Süßwasser brauchen. Und da haben wir schon auch mal in der Vergangenheit eigentlich ein erfolgreiches Projekt gemacht, dass wir überlegen, ob wir die Nährstoffe, die wir im Wasser haben, als Pflanzennährstoffe nutzen."
Produktion von Algen und Muscheln hat "riesiges Potential"
Wirtschaftlich steckt diese Form der Aquakultur noch in den Kinderschuhen. Matthias Halwart von der FAO glaubt aber, dass die kombinierte Aufzucht von Fischen und Pflanzen in Zukunft immer wichtiger werden wird. Vor allem im Meer. Auch hier gibt es die Idee, die Nährstoffe aus der Fischzucht durch gleichzeitig angebaute Algen oder Muschelkulturen dem Wasser gleich wieder zu entziehen. Denn diese Meeresprodukte werden ohnehin bald eine größere Rolle spielen müssen.
"Wir leben auf einem blauen Planeten, der über 70 Prozent mit Wasser bedeckt ist. Und gleichzeitig stoßen wir bei der Lebensmittelproduktion für eine wachsende Bevölkerung auf dem Land immer mehr an unsere Grenzen. Die Produktion von Muscheln und Algen, die kein Süßwasser benötigen, die Nährstoffe und Plankton dem Wasser entziehen, haben ein riesiges Potenzial, sowohl direkt als Nahrung für den Menschen wie auch als Verwendung in Futtermitteln.
Zwar hat sich auch die Produktion von Algen seit dem Jahr 2000 mehr als verdreifacht, doch nur ein kleiner Teil davon wird als Nahrung verwendet. Der weltweite Fischkonsum hingegen stieg von neun Kilo pro Kopf in den 1960er-Jahren auf heute 20 Kilo pro Kopf. Und weil es so schwierig ist, die Menschen zu mehr vegetarischer Kost zu bewegen, versucht man nun, die Fische in der Aquakultur davon zu überzeugen.
Vom Raubfisch zum "Vegetarier"
"Hallo. Moin! Moin." Im Futterlabor der GMA Büsum stehen unzählige Säcke bereit. Verschiedene Inhaltsstoffe können hier abgewogen und mit einem großen Zementrührwerk vermischt werden. Anschließend kommt die Mischung in die Futterpresse, wie Michael Schlachter erklärt. "Auf gleiche Weise macht man zum Beispiel auch aus Hartweizengrieß Spaghetti, nur dass man die ein bisschen länger schneidet als wir unsere kurzen kleinen Futterpellets, die nachher eher in dieser Art – also relativ klein und kurz geschnitten und ein bisschen dicker als die klassische Nudel aussehen."
Gerade haben zwei Doktoranden Fischmehl, Weizenstärke, Gluten und ein bisschen Blutmehl vermischt. Auch Bestandteile aus Erbsen, Raps, Kartoffeln, Algen, Muscheln oder Insekten wären denkbar. In Büsum wurde schon vieles ausprobiert. Aber nicht alles schmeckt den Fischen, erzählt Carsten Schulz. "Das sind häufig solche Stoffe, die die Pflanzen synthetisieren, um sich vor Fraß zu schützen. Sie kennen das vielleicht von Rapsprodukten, dass diese so Senföle beinhalten, die doch auch einen sehr, sehr scharfen Geschmack haben. Und das sind Produkte, die den Fischen auch nicht passen."
Immerhin ist es bereits gelungen, für räuberische Fische wie Lachse und Regenbogenforellen Futter zu entwickeln, deren Fischmehlanteil unter zehn Prozent liegt.
Woher weiß man, ob es dem Fisch gut geht?
Wie den Fischen ihr neues, meist pflanzenreiches Futter bekommt, muss man natürlich immer im Auge behalten. Aber woher weiß man eigentlich, ob es dem Fisch gut geht? "Schwierige Frage." Physiologische Parameter etwa zum Stoffwechsel helfen hier meist wenig, meint Schulz. Sie sind von zu vielen verschiedenen Faktoren abhängig. "Ein anderer Weg ist, dass man versucht, über das Verhalten der Fische, wie man das auch bei anderen landwirtschaftlichen Nutztieren zunehmend betreibt, das Wohlbefinden dann besser zu charakterisieren. Jeder Fischzüchter wird ihnen sagen, dass mein Fisch selber und das Verhalten der Fische der beste Bioindikator ist, um einzuschätzen, wie es ihm geht."
Doch dafür muss man das Tier natürlich gut kennen. Gerade bei Meeresfischen gibt es unzählige verschiedene Habitate, Verhaltens- und Ernährungsweisen. Relativ viel weiß man schon über die Haltung der wichtigsten Speisefische aus Zuchtanlagen, über die Süßwasserfische Karpfen, Tilapia und Pangasius sowie über die Meerbewohner Lachs und Garnele. Aber sollte man auf die Idee kommen, neue, vielleicht auch eher heimische Arten zu halten, wird es schwer.
"Wir wissen nahezu nichts bei neuen Arten aus der Aquakultur, wie diese unter den kontrollierten Bedingungen dann aufgezogen werden können. Wir wissen nicht, wie wir sie vermehren können. Wir wissen nicht, wie wir sie ernähren können, welche Ansprüche die Fische haben. Und die Erarbeitung eines solchen Aufzuchtprotokolls ist teilweise ein wissenschaftliches Lebenswerk. Beispielsweise hat es circa 25 bis 30 Jahre gedauert, um den Dorsch aquakulturfähig zu gestalten."
Der "Augenstielschnitt" bei Garnelen - in Deutschland verboten
Noch länger dauert es dann oft, bis Fischarten so effizient gehalten werden können, dass sich die Aufzucht auch wirtschaftlich lohnt. Selbst bei der weltweit gehaltenen Weißbeingarnele gibt es noch so manche Wissenslücke, sagt Bert Wecker.
"Also man weiß über diese Garnele super, super viel. Und eigentlich würde man denken, so eine Nachzucht kann eigentlich gar kein Problem sein. Aber der Teufel liegt wie so oft im Detail. Man hat zum Beispiel Methoden, die nach deutschem Tierschutzrecht nicht erlaubt sind. So werden den Garnelen die Augen abgeschnitten, um hormonelle Prozesse in Gang zu setzen."
Warum diese ebenso grausame wie abstrus klingende Methode wirkt, weiß man noch nicht genau. Es könnte mit hormonsteuernden Zellen am Augenstiel zusammenhängen, aber auch mit der Lichtwahrnehmung der Garnelen.
"Das heißt, wir müssen eine weltweit gängige Praxis neu erfinden. Wir müssen jetzt gucken, wie können wir ohne den Augenstielschnitt ein ähnliches Ergebnis erzielen. Das funktioniert, aber es ist doch ungleich schwerer."
Garnelen paaren sich nur bei optimalen Bedingungen
In diesem Jahr ist es ihm zum ersten Mal gelungen, selbst Garnelen aufzuziehen. Wecker versucht, den Elterntieren eine angenehme Umgebung zu schaffen: Sediment auf dem Boden und gedimmte Beleuchtung.
"Man sieht hier im hinteren Bereich, wie die Tiere sich sehr schön eingraben. Damit versuchen wir eine sehr natürliche Lebensweise zu erreichen, sodass sie dann auch reifen und auch sich paaren miteinander. Und das ist derzeit so ein bisschen unser Problem. Wir haben zwar Paarungen und wir produzieren auch Larven, aber es passiert nicht so kontrolliert, wie das vielleicht mit dem Augenstielschnitt möglich wäre."
Wenn das irgendwann zuverlässiger klappt, wäre der nächste Schritt, die Garnelen auf bestimmte Eigenschaften zu züchten. Doch bisher, meint Bert Wecker, lohne sich das alles noch nicht. Wie alle europäischen Züchter – lässt er die Larven größtenteils aus Kalifornien einfliegen.
Welche Fische sollten eigentlich gezüchtet werden?
Tatsächlich steht die Züchtung der "Nutzfische" und "Nutzkrebse" aus dem Meer noch ganz am Anfang. Aber diese Anfänge seien vielversprechend, meint Matthias Halwart von der FAO. Nicht nur bei den Lachsen, auch bei den Tilapien habe es schon deutliche Verbesserungen gegeben
"Tilapien oder Buntbarsche werden in über 140 Ländern gehalten und aufgezogen. Und wenn man nun die verbesserten mit lokalen Tilapia-Beständen vergleicht, dann wächst der verbesserte Buntbarsch nicht nur schneller, sondern er weist auch bessere Überlebensraten, ein höheres Filetgewicht, bessere Fleischqualität und Krankheitsresistenz und auch eine gute Anpassung an verschiedene Haltungssysteme auf."
Will man die Fehler der Landwirtschaft nicht wiederholen, ist es aber auch wichtig, die unterschiedlichen Ansätze insbesondere in Entwicklungsländern zu berücksichtigen. Etwa, dass man bei der Zucht nicht nur auf teure, große und ökologisch unvorteilhafte Raubfische wie den Lachs setzt, sondern auch auf kleinere Fische.
"Kleine Fische deswegen, weil die in der Regel als Ganzes verzehrt werden und nichts von den wertvollen Inhaltsstoffen verloren geht bei der Zubereitung. Also wir gehen in der Tat davon aus, dass eine breitflächige Anwendung selektiver Zuchtprogramme für die derzeit verwendeten aquatischen Arten die zukünftige Nachfrage an aquatischen Produkten decken würde, ohne dass zusätzliche Futtermittel, Land, Wasser oder andere Inputs benötigt werden."
Wildformen und gezüchtete Tiere kaum unterscheidbar
Auch Mark Heuer vom WWF hält die Frage, welche Arten gezüchtet werden, für einen zentralen Punkt, sieht aber die Weichen längst nicht richtig gestellt: "Es gibt zum Beispiel überhaupt keine Anzeichen dafür, dass sich die wildlebenden Fischbestände erholen würden, weil wir jetzt mehr Fisch aus Aquakultur essen. Das Gegenteil ist eigentlich der Fall, weil die Fischfarmen ebenso einen starken Einfluss auf den Lebensraum von diesen Wild-Fischarten haben. Wenn man diese Probleme in den Griff kriegen würde, dann könnten Aquakulturen natürlich auch Teil der Lösung sein. Dann müssen wir uns eben mehr auf Arten konzentrieren, die man mit geringen Umweltauswirkungen züchten kann, wie Muscheln, Algen oder eben Friedfische."
Wachsen wird die Aquakultur so oder so. Es hat erstaunlich lange gedauert, bis sich die Idee, Nutztiere zu halten, vom Land auch auf das Wasser übertragen hat. Natürlich gibt es die Haltung von Karpfen und Co bereits seit Jahrtausenden. Aber erst mit der steigenden Nachfrage und der Überfischung der Meere hat sich ein echtes Pendant zur Agrikultur entwickelt. Diese "neue Meerwirtschaft" ist auf Masse ausgelegt und könnte sich bald ähnlich rasant verändern wie die Landwirtschaft. Matthias Halwart:
"Im Allgemeinen ist die Aquakultur doch ein sehr junger Produktionszweig, der erst in den letzten Jahrzehnten intensiviert wurde. Das sehen Sie ja auch, wenn Sie sich mal die gezüchteten aquatischen Organismen ansehen und mit den Ursprungsformen unserer heutigen Pflanzen und Tierhaltung vergleichen. Also beispielsweise die Urform unseres heutigen Mais ist das doch relativ unscheinbare Wildgras Teosinte. Oder die Urform von unserer kommerziellen Schweineproduktion mit dem eurasischen Wildschwein. In der Aquakultur ist das anders. Da können Sie Wildformen und gezüchtete Tiere meistens kaum auseinanderhalten und manchmal nur über den Preis an der Verkaufstheke."
"Einfacher" Zuchtfisch ist billiger, "Öko-Zuchtfisch" teurer als Wildfisch
Für den Preis gilt: Stammt der Fisch aus Zuchtanlagen, bei denen kaum auf Nachhaltigkeit geachtet wird, ist er oft billiger als Wildfisch. Kauft man dagegen Bioware, wird es meist deutlich teurer. Aber das seien ja lediglich die Preise, nicht die wirklichen Kosten, meint Mark Heuer vom WWF.
Für die weltweite Lachsproduktion aus Aquakultur haben Forscher unlängst ausgerechnet, "dass ungefähr 60 Prozent der Kosten, die diese Zucht erzeugt, von den Produzenten getragen wird. Und nochmal 40 Prozent eigentlich die Gesellschaft als Ganzes. Und das liegt daran, dass eben diese Umweltbelastung oder Umweltzerstörung auch Kosten verursacht, zum Beispiel wenn der Lachs krank wird und sich Krankheiten auf wild lebende Bestände übertragen und die dann krank werden."
Doch wie soll der Verbraucher wissen, aus welcher Haltung der Fisch an der Ladentheke oder dem Tiefkühlregal stammt? 90 Prozent der Aquakultur-Produkte werden weit weg in Asien produziert. Und sowohl in Europa als auch in Deutschland wird ein sehr großer Teil des Fischkonsums durch Importe gedeckt. Wo genau der meist tiefgekühlte oder in Konserven verpackte Fisch einmal produziert wurde und unter welchen Bedingungen, wissen die wenigsten.
Aquakultur-Siegel geben grobe Orientierung
Eine grobe Orientierung könnten Siegel bieten, meint Mark Heuer, und hebt drei von ihnen hervor. Zum einen gibt es das Pendant zum bekannteren MSC aus der Fischerei, den sogenannten ASC: "Aquaculture Stewardship Council". Das sei schon mal ein guter Anfang. "Die haben einen recht breiten Kriterienkatalog, der zum Beispiel auch soziale Themen mit abdeckt. Also wir sagen quasi einen Mindeststandard."
Dann gibt es das EU-Biosiegel, das auch empfehlenswert ist. "Die haben zum Beispiel keine sozialen Kriterien mit drin. Dafür sind die natürlich an anderen Stellen strikter. Also das Futter z.B. muss da auch biozertifiziert sein."
Und schließlich gibt es Naturland. "Und das ist wirklich ein Siegel, wo ich sagen würde, die decken alle Themen ab. Es ist ja oft so, dass für konventionelle Shrimp-Farmen Mangrovenwälder abgeholzt werden und bei Naturland wird halt aktiv wieder aufgeforstet."
Will die Aquakultur die Fehler der Agrikultur nicht wiederholen, wird es allerdings allein mit Siegeln und mehr Transparenz nicht getan sein. "Es läuft ja auch nicht jeder ständig mit einem Fisch-Ratgeber in den Supermarkt. Wir wissen aber aus ganz vielen Umfragen, dass es einen Konsens gibt, dass niemand Fisch kaufen möchte, für dessen Erzeugung Menschenrechte verletzt wurden oder die Umwelt zerstört wurde. Also müsste doch hier die Politik dafür sorgen, dass Mindeststandards festgesetzt werden, die verhindern, dass solche Dinge passieren." Die FAO arbeitet gerade an weltweiten Richtlinien für eine nachhaltige Aquakultur. Die Ergebnisse sollen im November 2021 verhandelt werden.
Direktvermarktung und Frischeversprechen
Der Garnelenproduzent Bert Wecker setzt indes darauf, dass ähnlich wie beim Fleisch auch beim Fisch langsam ein stärkeres Bewusstsein für die Produktionsweisen entstehen wird und dass die Vorteile der regionalen Aquakultur dann besser zum Tragen kommen.
"Einerseits hat man die technologischen Probleme gelöst, auch die biologischen Probleme. Man weiß jetzt mehr, was man tut. Und viele Farmen sind auch dazu übergegangen, wirklich Direktvermarktungskonzepte aufzubauen. Das heißt, dass man direkter mit dem Kunden kommunizieren kann, man kann besser seine Story erzählen. Und Markenbewusstsein bei Seafood war eigentlich; wurde vor zehn Jahren schlichtweg nicht gemacht."
Neben einer nachhaltigen Produktion versucht Bert Wecker seine Kunden auch mit einem Frischeversprechen zu überzeugen: Heute abgefischt, morgen da. Obwohl er dafür einen Preis von 135 Euro für 2,5 Kilo Garnelen nimmt, kommt er mit dem Produzieren und Verpacken der Ware kaum noch hinterher. Er plant schon eine ganz neue Halle, in der die zehnfache Menge an Garnelen produziert werden kann. Dann werden auf den grünen Wiesen an der Kieler Förde rund zwei Millionen Garnelen pro Jahr heranwachsen. Auch das ist die neue Meerwirtschaft.
[*] Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle ist uns ein Fehler unterlaufen, für den wir uns entschuldigen möchten. Anders als ursprünglich behauptet bietet die Firma frische, gekühlte Ware an.