Al Wakra, ein Vorort von Doha, vor wenigen Tagen. Der Fußballfan Nadim Rai betritt aufgeregt das Al-Janoub-Stadion. 2015 ist er aus seiner Heimat Syrien über die Balkanroute nach Europa geflohen. Inzwischen ist er deutscher Staatsbürger. Und nun in Katar beim Arab Cup sieht er zum ersten Mal ein Spiel des syrischen Nationalteams. Nadim Rai filmt das Abspielen der Hymnen. Er schätzt, dass 4.000 Menschen mit syrischen Wurzeln im Stadion sind. Viele sind eigens angereist, andere haben sich in Katar eine neue Existenz aufgebaut. Als Gastarbeiter erhalten sie weniger Lohn als die Einheimischen, aber am Persischen Golf sind sie sicher vor Bomben und Terror.
Seit Jahren muss die syrische Mannschaft ihre Spiele außerhalb des eigenen Landes bestreiten. Und selten trifft sie dabei auf gute Gegner. Das ist beim Arab Cup anders, sagt Nadim Rai: „Ich fühlte mich tatsächlich angesprochen. Wenn Tunesien oder Ägypten spielt, oder Algerien, ich kenne ja die Spieler. Und ich finde es halt krass, dass Syrien endlich mal eine Chance bekommt, gegen die zu spielen. Deswegen sehe ich das als positiv.“
Spiele gegen Vorurteile
Mehr als 420 Millionen Menschen leben in den 22 Staaten der arabischen Welt, von Mauretanien im Nordwesten Afrikas bis zum Oman in Vorderasien. Ihre Dialekte, ihre politischen Systeme, ihre Ausprägungen des Islam sind unterschiedlich. Etliche Staaten stehen sich feindselig gegenüber. Eine der wenigen Leidenschaften, die sie eint, ist Fußball. Der Arab Cup, organisiert durch die Fifa, soll der Region eine Bühne bereiten. Das wird schon bei der Eröffnungsfeier Ende November deutlich. Auf der Ehrentribüne sitzen Politiker wie Michel Aoun, Präsident des Libanon, oder Mahmud Abbas, Präsident der palästinensischen Autonomiebehörde. Videos und Reden verweisen auf den kulturellen Reichtum der arabischen Welt. Aber auch auf die Ernüchterung darüber, dass viele Intellektuelle in den Westen gehen mussten.
Auch die WM in Katar solle nun positive Effekte für die Region bringen, sagt die ehemalige katarische Fußballnationalspielerin Fatima Al Ghanim, die für das Doha Film Institute arbeitet: „Unsere Region befindet sich in einer historischen Phase von großem Leid. In Syrien, in Jemen, im Irak. Wir haben Millionen junge Menschen, die nach Hoffnung suchen. Der Fußball kann ihnen ein Gefühl der Repräsentation geben. Im Westen ist der Blick auf die arabische Welt oft von Vorurteilen geprägt. Durch den Arab Cup und die WM 2022 können wir unsere Geschichten für ein großes Publikum endlich selbst erzählen.“
Sätze wie diese hört man häufig von katarischen Entscheidungsträgern. Katar gibt sich gern neutral, verfolgt aber auch eine eigene Agenda. Schon während des Arabischen Frühlings unterstützte Doha etliche Reformkräfte und Rebellen, in Ägypten, Libyen oder Syrien. Saudi-Arabien wollte seinem aufstrebenden Nachbarn Einhalt gebieten und verhängte 2017 eine Blockade gegen Katar. Ein Vorwurf: Katar würde Terrorgruppen unterstützen.
Auch Iran will von WM profitieren
Doha richtete seine Außenpolitik neu aus. Anfang dieses Jahres hob Saudi-Arabien die Blockade auf, berichtet der Politikwissenschaftler Danyel Reiche von der Georgetown University in Doha, die zur staatlich gestützten Education City gehört: „Katar macht das, was alle kleinen Länder machen, die suchen sich einen großen Schutzpatron. Früher war es das Osmanische Reich, dann waren es die Briten, jetzt sind es die Amerikaner, die eine große Militärbasis hier im Land haben. Aber sicherlich ist die Kernfähigkeit von Katar das, was wir in der Politikwissenschaft Hedging nennen. Das bedeutet, das man auch Freund von den Feinden der Freunde ist. Und im Fall von Katar bedeutet das, hervorragende Beziehungen zum Beispiel zu Iran und zu den Taliban zu haben. Der Vorteil daran ist, dass man sich dann als Mediator andienen kann.“
Katar übernimmt in einigen Streitfragen eine vermittelnde Rolle, zuletzt bei der Evakuierung zehntausender Afghanen aus Kabul. Und so könnte es bei der WM 2022 weitergehen. Katar teilt sich mit dem Iran das größte Erdgasfeld der Welt. Im November brachte Teheran die Insel Kisch vor der iranischen Küste als WM-Herberge für Fans und Teams ins Gespräch. Noch immer leidet Teheran unter US-Sanktionen.
Politische Symbolik ist unerwünscht
Der Nahost-Experte Kristian Ulrichsen vom Baker Institute in Houston glaubt, dass die WM zu einer Annäherung beitragen kann: „Viele Menschen aus der Region werden die Weltmeisterschaft besuchen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich auch die Mannschaften der großen Rivalen Saudi-Arabien und Iran qualifizieren werden. Also könnten sich in Katar dann Tausende Saudis und Iraner auf einer relativ kleinen Fläche zum ersten Mal begegnen. Und sie könnten merken, dass sie mehr verbindet als trennt.“
Doch die Spiele könnten auch für Kontroversen sorgen. Während des Arab Cups setzte die Fifa die Schulungen der Sicherheitsordner fort. Es ging dabei weniger um Gefahren europäischer Hooligans, sondern mehr um politische Symbolik in der arabischen Welt. Flaggen oder Schriftzüge, die auf syrische Rebellen oder den Anspruch auf eine kurdische Nation hinweisen, sind in Stadien unerwünscht. Katar erwartet bei der WM auch viele Fans aus Europa. Allein in Deutschland leben 1,5 Millionen Menschen mit arabischem Wurzeln. Sie sind mit einer Meinungsfreiheit aufgewachsen, die es in Katar nicht gibt.