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Arabische Zeitenwende?

Die arabischen Revolutionen kamen auch für Fachleute unerwartet. Auf der Jahreskonferenz der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient" waren sie sich jedoch einig, dass der arabische Wandel für den Westen Folgen habe: in der Wahrnehmung der Region und in den politischen Beziehungen.

Von Kersten Knipp |
    Menschen, die sich für Ideengeschichte interessieren, könnten an den arabischen Revolutionen verzweifeln. Denn die arabische Welt kennt zwar eine große liberale Tradition. Diese begann im 19. Jahrhundert mit der so genannten "Nahda", zu Deutsch "Wiederauferstehung" oder auch "Renaissance". Deren Vertreter, etwa Rifa´a al Tahtawi, Muhammed Abduh oder Jamal al-Din al Afghani versuchten, die westliche Moderne mit den Prinzipien des Islam in Einklang zu bringen. Im späten 20. Jahrhundert gingen Intellektuelle wie Qunstantin Zurayq, Sadeq al Azm oder Mohammed Arkoun noch weiter. Sie stellten die Frage, inwieweit der Islam überhaupt noch fähig ist, die arabischen Gesellschaften der Gegenwart politisch, wirtschaftlich und ethisch angemessen zu organisieren. Große Traditionen also – aber die inspirierten die Demonstranten in Tunesien, Ägypten und anderswo ausgesprochen wenig.

    "Sie haben überhaupt keine Bedeutung. Die Zusammenhänge sind so spontan und so ungeplant entstanden, dass wir alle theoretischen Vorüberlegungen völlig ausblenden können. 99,9 Prozent der Menschen in der arabischen Welt hätten sie vorher fragen können, und niemand hat erwartet, dass ein derartiger Umbruch möglich sein würde","

    erklärt der Mainzer Geograph Günter Meyer, der Vorsitzende der "Deutschen Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient". Die Intellektuellen der "Nahda" und ihre heutigen Nachfolger mögen eine große Tradition bilden. Die aber litt vor allem an einem Manko: Sie gründete sich auf ein altes Medium: die Bücher und Zeitungen. Was sich nun aber in der arabischen Welt ereignete, so Günther Meyer, gründete auf einem ganz anderen Medium, war durch dieses überhaupt auch erst denkbar.

    ""Das heißt, wir haben hier tatsächlich ausgelöst durch einen Zufall in Tunesien – dadurch, dass diese Aktion aufgegriffen worden ist, verbreitet worden ist, dadurch dass sich immer mehr junge Menschen – und da kommt der wichtige Aspekt hinzu, die Vernetzung durch das Internet, so dass man aktiv handeln kann, dass man gemeinsam zu Aktionen, zu Streiks, zu Protesten aufrufen: Das war der entscheidende Rahmen für die Protestbewegung, die sich in Tuneisen herausgebildet hat."

    Bleibt man vorerst bei den Ideologien, dann, erklärt die Berliner Politikwissenschaftlerin Cilja Harders, haben die arabischen Revolutionen vor allem eines bewiesen: Dass die europäische Einschätzung, die vom Islam geprägten Länder seien nicht reif für die Demokratie, schlichtweg nicht haltbar sei. Viele Menschen im Westen hätten sich zu sehr auf den Islam konzentriert, ihn als Erklärungsfaktor für sämtliche Entwicklungen in der arabischen Welt herangezogen und dadurch übersehen, dass auch ganz andere, ganz grundlegende Motive eine Rolle spielen. Und zwar nicht nur seit diesem Frühjahr, sondern bereits vorher.

    "Menschen jeder Religion, jeder Klasse und jeder politischen Überzeugung sind immer bereit für Menschenrecht und Freiheit. Das ist eine Frage, die nicht so sehr mit Ideologie zu tun hat, sondern eben mit der Basis. Eben, was steckt hinter 'Würde'? Also parlamentarische Demokratie ist eine ziemlich spezifische Sache, die es in nicht so viele Ländern auf der Welt gibt, die Mehrheit sind so diffuse Geschichten. Aber ich habe immer vertreten, dass die Menschen in der arabischen Welt genauso wie in Lateinamerika oder in China für diese grundsätzlichen Werte bereit sind."

    Umgekehrt gilt, dass auch die Araber selbst sich einiger alter Ideologien entledigt haben – oder besser, gezeigt haben, dass sie an manche der offiziellen Verlautbarungen ohnehin nicht oder nur bedingt glauben. Seit der Dekolonisierung sind manche arabische Regime ganz bewusst auf Distanz zum Westen gegangen. Durchaus erfolgreich haben sie versucht, durch eine überzogene Diskussion um die arabische Identität, um den vom Westen angeblich bedrohten Islam oder durch den ständigen Verweis auf den Sündenkatalog des Kolonialismus die eigene Politik und vor allem die Stabilität der eigenen Herrschaft zu legitimieren. Diese Rechnung ging lange auf. Aber dieses Jahr, so der Politikwissenschaftler Werner Ruf, griffen die üblichen Slogans ins Leere.

    "Interessant an diesen Bewegungen war ja, dass die alten Feindbilder, die immer gerade auch von Diktatoren gepflegt worden sind, um von den eigenen Missständen abzulenken, also 'der Imperialismus', 'das böse Israel ist an allem schuld' – diese Slogans waren nicht da. Sondern es ging um soziale Rechte. Hinter dem Begriff 'Würde' verbirgt sich eigentlich eine ganz harte materielle Forderung nach einem menschenwürdigen Leben auch unter materiell menschenwürdigen Gesichtspunkten. Und das ist eine Forderung, die haben wir in Lateinamerika, das sind die Forderungen, die haben wir in Griechenland, in Spanien, die hatten wir in Israel."

    Damit zeigt sich vor allem eines: Die arabischen Revolutionen dieses Jahres waren ausgesprochen ideologiefreie Veranstaltungen. Es ging vor allem um eines, so der Geograph Günter Meyer: nämlich die Durchsetzung grundlegender Rechte. Gezeigt habe sich nämlich:

    "dass es sich hier um eine zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Chancen, der wirtschaftlichen Perspektiven der Jungen handelt; die sozialen Perspektiven werden immer schlechter, die Korruption ist ohnehin schon ein großes Problem. Aber wenn dann zusätzlich noch steigende Preise für Grundnahrungsmittel dazukommen, dann ist irgendwann der Punkt, wo unter den drängenden wirtschaftlichen Verhältnissen der Bevölkerung ein Auslöser reicht, wo man plötzlich merkt, wir können etwas bewegen, wir können gemeinsam auf die Straße gehen."

    Im Westen war man erleichtert, dass die Revolutionen keinen islamistischen Charakter annahmen. Man feierte die säkularen Prinzipien, denen die meisten Menschen folgten. So sehr, wie man sich vorher auf den Islam konzentriert hatte, so sehr feierte man nun den Liberalismus der Revolutionäre. Das ist kein Zufall, meint der Politologe Werner Ruf. Denn die Konzentration auf die ideellen Aspekte erlaube es, gewisse Fragen eben nicht diskutieren zu müssen.

    "Das lässt sich dadurch erklären, dass man sich für die bürgerlichen Aspekte dieser Revolte begeistert, um nicht auf die ökonomischen Ursachen eingehen zu müssen. Denn die ökonomischen Ursachen, das spiegelt sofort die Verhältnisse auf uns zurück."

    Genau dies, erklärt die Politikwissenschaftlerin Cilja Harders, ist auch der Grund dafür, dass die Europäische Union in den letzten Jahren in der arabischen Welt einigen Kredit verspielt hat – und zwar insbesondere bei den jungen Menschen. Die EU habe eine mit Beginn des sogenannten Kriegs gegen den Terror eine historisch einmalige Chance gehabt, sich im Mittelmeerraum positiv zu etablieren. Anders als die USA, die auf ihre militärische Kraft vertrauten, habe die Europäische Union auf eine Politik der Nicht-Intervention und auf die friedliche Durchsetzung ziviler Werte gesetzt. Oder besser: Sie hätte darauf setzen können. Tatsächlich aber habe sie nicht viel getan, sondern im Gegenteil sogar auf Geschäfte mit sehr fragwürdigen Regimes eingelassen. Anstatt auf Distanz zu ihnen zu gehen, haben sie sie zumindest indirekt gestützt. Das, erklärt Cilja Harders, hat sie nun einen großen Teil ihrer Glaubwürdigkeit gekostet.

    "Jetzt konkret hat die EU aber auch das Problem, dass sie natürlich von Seiten der Bewegung sehr kritisch gesehen wurde, weil sie jahrelang mit den Autokraten paktiert hat – das hat sie. Zugleich ist es notwendige Folge von nicht-militärischer Intervention. Also wenn seine regionalen Beziehungen über Verträge strukturiert, macht man Verträge mit den Regierungen. Man sucht sich seine Partner nicht aus. Aber die Bewegungen sind sehr skeptisch, und das Militär zumindest in Ägypten ist es jetzt auch, weil die natürlich eine ernsthafte Umstrukturierung auch fürchten, und nicht richtig klar ist, ob die Europäer jetzt an dieser Stelle ernst machen. Und deshalb ist auch die Frage tatsächlich, ob Europa im Moment so viel erreichen kann. Weil es sozusagen von oben und von unten nicht willkommen ist."

    Während in der arabischen Welt einige Regime stürzen, bahnt sich im Westen eine Revolution der Wahrnehmung an: Langsam, ganz langsam beginnt man zu verstehen, dass der Islam nicht alles ist. Es gibt viel mehr, teils auch viel stärkere Motive als die Religion. Dass sie in Europa und den USA nun endlich in den Blick geraten, das kann man jetzt schon als einen Erfolg des arabischen Frühlings verbuchen. Und das wiederum, so der Tenor der Konferenz, sollte Anlass sein, zu jenen Herrscher auf Distanz zu gehen, die im Namen eines angeblichen Kampfes gegen den Terror die Freiheitsrechte unterdrücken – und so dazu beitragen, diesen Terror überhaupt erst entstehen zu lassen.