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Arachnophobia

Acht Beine, im Zweifelsfall auch noch behaart; mächtige Mundwerkzeuge, im Zweifelsfall auch noch giftabsondernd; ein plötzlicher Auftritt, im Zweifelsfall auch noch mitten im Wohnzimmer - viele erschrecken beim Anblick von Spinnen. In Zukunft könnte es allen Grund dazu geben, denn in Europa etablieren sich immer mehr exotische Spinnen, Spinnengift inklusive.

Von Volker Mrasek |
    "Jetzt haben wir’s gefunden hier."

    "Ja, das ist die Internetseite."

    "Und zwar das Forum mitteleuropäischer Spinnen."

    "Ja, da hat uns eine Kollegin, die wir persönlich noch gar nicht kennen, viel Information vermittelt. Die hat nämlich an der Isenburg im Essener Stadtwald diese noch unbekannte Art gefunden. Und erstaunlicherweise gleich in großen Mengen. Diese ganz neuen Eintragungen, die kenn’ ich noch gar nicht."

    Arachnophobia!

    "September ist das hier." "Ja. Wie war denn das im September? Aha ..."

    "Ah ja, hier genau."

    "... da kommen Daten."


    Exotische Spinnentiere auf dem Weg nach Europa.

    "Am 16.9.2007 hat sie 466 Tiere gezählt!"

    "Die Tiere gehen halt hier in die Spalten rein und ..."

    "Quasi überall da, wo es besonders schummrig ist und wenig Licht hinkommt."

    Von Volker Mrasek.

    "Ich leg’ die jetzt mal hier drunter, hol sie aus den Glasröhrchen ’raus. Jetzt geh’ ich hier ans andere Mikroskop."

    Zitat:

    Ein Körper kaum erbsengroß, stark gepanzert und auffällig schimmernd, wie Metall

    "Den Wattestopfen tu’ ich jetzt auch ’mal raus. Jetzt muss ich mal durchgucken hier."

    Zitat:

    Acht Beine, schwarz. Dünn zwar, aber extrem lang. Wie Kraken-Arme überragen sie den Leib um das Zehnfache, mindestens

    "Und dann haben wir hier ... – was ist das denn?"

    Zitat:

    Riesig auch die kräftigen Kauwerkzeuge. Das ideale Instrumentarium, um Beutetiere zu zerstückeln.

    "Das werden dann also tatsächlich regelrecht bedrohliche Ansammlungen, schwarze Tier-Metapopulationen muss man beinahe sagen, die zusammengedrängt in Mauerecken sitzen."

    In einer Burgruine mitten im Ruhrgebiet tauchen wie aus dem Nichts merkwürdige Spinnentiere auf. Zunächst bloß ein paar. Wochen später aber sind es schon Dutzende, schließlich ganze Horden. Augenscheinlich Weberknechte. Doch vieles an ihnen ist nicht geheuer. Ihre Art, sich zusammenzurotten:

    "In ganz großen Mengen: zu Hunderten, gegebenenfalls sogar zu Tausenden."

    Ihr Verhalten, wenn man der Rotte zu nahe kommt:

    "Der Körper schwingt zwischen den acht Beinen auf und nieder. Und das kann immer schneller passieren, je stärker sich diese Gruppe erregt."

    Ihr völlig rätselhaftes Auftauchen:

    O"Dass niemand erklären kann, wie die dort hingekommen sind."

    Schließlich ihre dunkle Herkunft:

    "Keine einzige europäische Weberknecht-Art tritt in Hunderten oder gar Tausenden Individuen auf, die dicht geballt etwa in Mauerecken oder unter Dachvorsprüngen sitzen."

    Die Invasion unheimlicher Spinnentiere. Es gibt sie wirklich! Und Jochen Martens schildert wahrheitsgetreu, was über die plötzlich aufgetauchte Weberknecht-Art aus dem Essener Stadtwald bisher bekannt ist – und was nicht:

    "Eine Neuschöpfung oder eine generatio spontanea, wie man vielleicht vor 200 Jahren gesagt hätte, ist es mit Sicherheit nicht. Aber wir können auch nicht sagen, wo sie denn nun wahrscheinlich ihren Ursprung hat."

    Martens ist Professor für Zoologie an der Universität Mainz. Es gibt allenfalls eine Handvoll Forscher in Deutschland, die sich wie er mit Arachniden auskennt, mit Spinnentieren. Nach der biologischen Systematik ist das ein Oberbegriff, und zwar für eine Tierklasse, deren Vertreter nicht sechs Beine besitzen wie Insekten, sondern acht. Neben Spinnen und Weberknechten zählen dazu auch Milben und Skorpione.

    Spinnen sind also keine Insekten, wie manche glauben. Als Räuber ernähren sie sich vielmehr von Insekten, sorgen dafür, dass deren Bestände nicht überhandnehmen. Insofern spielen sie eine wichtige Rolle als Regulatoren in verschiedensten Ökosystemen. Doch viele fürchten sich vor ihnen.

    "Es handelt sich hierbei um Urängste des Menschen. Menschen haben vor bestimmten Dingen Angst, sei dies nun begründet oder nicht. Sie haben Angst vor kleinen Tieren, die sich schnell bewegen, viele Beine haben und schwarz sind. Das sind Spinnen."

    Wolfgang Nentwig, Professor für Ökologie an der Universität Bern in der Schweiz. Auch bei dem in Essen aufgetauchten Weberknecht kann man sich solche Reaktionen vorstellen. Axel Schönhofer, Doktorand am Zoologischen Institut in Mainz:

    "Also, wenn man sich überlegt, dass bei den Spinnen die absolute Größe anhand der Beinspannweite gemessen wird und die größte Spinne 32 Zentimeter Beinspannweite hat. Und man dann überlegt, dass dieser Weberknecht schon achtzehn hat – das ist ja dann schon mehr als ’ne Handvoll: Dann hört sich das natürlich furchteinflößend an."

    Nach jüngsten Forschungsergebnissen ist der Essener Weberknecht nicht die einzige Spinnentier-Art, die sich hierzulande festsetzt. Still und leise breiten sich die exotischen Arachniden in Europa aus. Manche Art ist winzig klein und harmlos, andere Exemplare dagegen dürften bald auch schon dem gemeinen Mitteleuropäer auffallen. Jüngst berichtete die Boulevardpresse etwa über eine Giftspinne, die Deutschland erobere und angeblich blitzschnell zubeißt.

    "Das ist eine relativ große Spinne, die aus Italien eingewandert ist. Sie wird annähernd so groß wie eine Hauswinkelspinne. Das sind diese großen schwarzen, die man hin und wieder mal in der Badewanne findet."

    Martin Kreuels. Der Zoologe unterhält ein eigenes arachnologisches Gutachter-Büro in Münster:

    "Und sie hat einfach einen kräftigen Körper. Baut also keine Netze, sondern läuft aktiv in der Gegend herum, um nach Futter zu suchen. Und die ist momentan ein Thema, weil das Tier relativ aggressiv sein kann, wenn sie sich bedroht fühlt, das heißt aufgrund ihrer Größe kann die durch die menschliche Haut durchbeißen. Und das tut einfach dann auch weh."

    Als Kräuselspinne ist die Art bei uns inzwischen bekannt. Ihr Biss ist zwar nicht giftig, schmerzt aber ähnlich stark wie ein Wespenstich. Nentwig:

    "Wir gehen jetzt ’mal in den Zuchtraum."

    "In diesem Zuchtraum haben wir in der Mitte einen großen inselartigen Arbeitsbereich. Und dominiert wird der ganze Raum von Ein- bis Zwei-Liter-Gläsern mit einem Deckel darauf. Hier haben wir in dem ganzen Raum mehrere hundert dieser Gläser. In jedem Glas sitzt eine Spinne, ein einzelnes Individuum."

    "Die hängen im Glas am Deckel fest."

    "Es handelt sich um Copiernius saleii. Im Deutschen sagt man gerne Bananenspinne, weil die Art vor 50 Jahren mit Bananenschiffen nach Europa gebracht wurde."

    Am Berner Zoologischen Institut forscht Wolfgang Nentwig nicht nur über Spinnen. Er züchtet sie auch. Im Vergleich zu seinen Labortieren ist die gemeine Hauswinkelspinne ein possierliches Geschöpf.

    Zitat:

    Ein wulstiger brauner Körper und dicke, dicht behaarte Beine.

    Nentwig:

    "Das wäre so ein Hardcore-Test für die Phobiker."

    Zitat:

    Die kräftigen Läufe aufgeklappt wie die Speichen eines Regenschirmes – handtellergroß.

    Nentwig:

    "Also, mehr als hundert Spinnen aufs Mal von diesen doch recht großen Tieren, die alle da sitzen. Und der Phobiker denkt: Sie lauern auf mich!"

    Zitat:

    Wie Zangen ragen bedrohlich die Mundwerkzeuge aus dem Kopf. Zu erkennen sind sie mit bloßem Auge.

    Nentwig:

    "In der Regel frage ich auch, bevor ich einen Besucher hineinlasse, ob er eine Spinnenangst hat."

    In dem Berner Labor werden die Spinnen regelmäßig gemolken, wie Nentwig es nennt. Er betäubt sie, reizt sie mit Schwachstrom, bis die Tiere ihr Gift absondern - Bananenspinnen sind nämlich giftig. Es ist ein wahres Gift-Gebräu, mit dem die Bananenspinne ihre Beute lähmt. 50 bis 100 Komponenten hat Nentwigs Arbeitsgruppe bisher identifiziert. Jetzt versucht er herauszufinden, wie sie in dem Potpourri zusammenwirken. Nentwig:

    "Es gibt Giftkomponenten, die auf bestimmte Rezeptoren wirken. Und wenn ein solcher Rezeptor etwas mit Schmerzempfinden zu tun hat, könnte man einen solchen Rezeptor blockieren und damit einen Schmerz blockieren. Das ist die medizinische Anwendung. Von der sind wir aber Welten entfernt. Und wenn man vor dem Mikrofon konkreter wird, dann gibt es hunderte verzweifelte Leute mit einer solchen Krankheit, die einen Liter Gift haben wollen."

    Die aus Südamerika stammende Bananenspinne wird noch immer gelegentlich nach Europa verschifft. Richtig Fuß gefasst hat sie aber bisher nicht. Wie viele achtbeinige Aliens dagegen dauerhaft eingeschleppt werden und woher sie kommen, das hat Manuel Kobelt in seiner Doktorarbeit am Zoologischen Institut untersucht. Der Schweizer sichtete die gesamte einschlägige Fachliteratur aus den letzten 150 Jahren. Wolfgang Nentwig betreute die Arbeit:

    "Und im Endeffekt blieben ganz grob 100 Arten übrig, die in Europa ein neues Verbreitungsgebiet gefunden haben. Sie stammen zum Teil aus nicht-europäischen Kontinenten, zum Teil waren sie zuvor – vor 50, 100, 150 Jahren – nur an einigen Randecken von Europa bekannt. Und haben sich dann in ganz Europa ausgebreitet."

    Eine Entwicklung, die sich nach Manuel Kobelts Analysen zuletzt beschleunigte:

    "In den letzten 50 Jahren ist das massiv gestiegen. Und dort haben wir festgestellt: Eine Art pro Jahr wird eingeführt in Europa."

    Dieser Trend wird anhalten. Nentwig:

    "Man kann aufgrund der letzten Jahrzehnte extrapolieren. Unsere Diagnose ist: pro Jahr eine neue Spinnenart für Europa."

    Viele Veränderungen von Flora und Fauna werden heute mit der Klimaerwärmung in Verbindung verbracht. Natürlich bleibt sie nicht ohne Einfluss auf die Verbreitung von Arten – auch von Spinnen. Doch die treibende Kraft hinter der europäischen Immigrationswelle, wie sie Wolfgang Nentwig beschreibt, ist eine andere. Man nennt sie gemeinhin Globalisierung. Nentwig:

    "Weltweit werden Güter gehandelt, Menschen bewegen sich von A nach B. Und mit beiden Möglichkeiten werden alle möglichen Arten mitverschleppt. Wenn Tiere oder Pflanzen als Samen, als ein Überdauerungsstadium oder auch als aktives Stadium in einem Container, außen an einem Container, in einem Koffer oder wo auch immer sind, können diese Organismen transportiert werden. Und wir kennen Beispiele von Arten, die vom anderen Ende der Welt – Australien, Südamerika – zu uns verfrachtet wurden in kurzer Zeit und hier einen geeigneten Lebensraum fanden, das heißt eine neue Population aufbauen können."

    Exemplarisch ein Fall, wie ihn jeder von uns selbst erleben könnte. Nach einem ganz gewöhnlichen Einkaufsbummel. Nentwig:

    "Ein Bekannter hat in einem international tätigen Warenhaus eine größere Zierpflanze gekauft und zu Hause festgestellt, dass an dieser Pflanze ein Kokon ist. Aus diesem Kokon schlüpften Spinnen. Die Spinnen konnten aufgezogen und später bestimmt werden. Und es stellte sich heraus, dass es eine nordamerikanische Spinnenart ist."

    In dem Kokon waren die darin enthaltenen Spinnen-Eier wie in einer Versandtasche geschützt. Aber auch ausgewachsene Tiere reisen als blinde Passagiere von Kontinent zu Kontinent und können in der Fremde Fuß fassen. Nentwig:

    "Man sagt: Theoretisch reicht ein schwangeres Weibchen. Aber wenn ein Ei-Gelege, ein Kokon, verschleppt wird, dann schlüpfen daraus gleich 50, 500 oder 1000 Tiere. Dann haben wir von Anfang an fast schon eine Population."

    In der Fremde überleben können die unfreiwillig Verfrachteten nur dann, wenn sie es schaffen, der Konkurrenz durch einheimische Arten zu trotzen. Außerdem müssen sie mit den Klimabedingungen in der neuen Heimat klarkommen. Den erfolgreichen Baldachin-, Krabben- oder Springspinnen ist dabei ein Merkmal gemein: Sie sind eher groß gewachsen. Nentwig:

    ""Stellen Sie sich einen ein- bis vierwöchigen Schiffstransport in einem Container vor. Wenn man den Äquator überquert, knallt die Sonne auf den Container. Trocken ist es in den Containern in jedem Fall. Das heißt die Tiere erleiden einen massiven Temperatur- und Feuchtestress. Kleine Arten, das gilt generell für Tiere, sind besonders austrocknungsgefährdet, weil in Relation zu ihrem Körpervolumen die Oberfläche sehr groß ist. Die großen überleben. Und das, was wir im Endeffekt in Europa dann feststellen, ist, dass die neuen Spinnenarten im Vergleich zu dem, was wir in Europa haben, tendenziell größer sind."

    Doch das ist noch nicht alles. Nentwig:

    "Sehr viele der von uns nachgewiesenen, in Europa vorkommenden neuen Spinnenarten leben in und an Gebäuden. Das sind oftmals Arten aus den Tropen, die es gerne etwas wärmer haben wollen. Europa ist nicht so wärmebegünstigt und hat im Winterhalbjahr massive Fröste, die einen natürlichen Riegel der Ausbreitung vieler tropischer-subtropischer Arten entgegensetzen. In unseren Gebäuden haben wir aber einen frostfreien, sehr großen Lebensraum - ein Trittbrett, eine Insel für die Tropen- und subtropischen Arten in Europa. Die Spinnenfauna in unseren Gebäuden nimmt mit Sicherheit zu, wird artenreicher. Mein Tipp sind Zitterspinnen. Kennt jeder. Kamen vor 100 Jahren in Europa fast nicht vor, hatten Seltenheitswert. Und kommen heute in vielen Arten fast überall vor."

    "Was ist denn jetzt diese entscheidende Serie?"

    "Ein Männchen, ein Weibchen. Das ist die erste Serie."

    "Schon mit Nummer in der…"

    "Ja, ja!"

    "... Sammlung drin?"

    "Die ist auf jeden Fall schon da."

    "Welche ist das?"

    "Und zwar 5315."

    "5315. Das heißt, dann schauen wir mal nach."

    In Mainz durchforsten Axel Schönhofer und sein Doktorvater Jochen Martens ihre Sammlung von Weberknechten. Seit rund 40 Jahren wird am Zoologischen Institut der Universität über die Tiere geforscht. Einige tausend Exemplare sind in dieser Zeit zusammengekommen - alle fachmännisch konserviert, in Glasröhrchen mit Alkohol.

    "Man muss halt immer den Alkoholstand überprüfen."

    "Wenn wir sehen: Da ist der Alkohol abgesunken, der Deckel ist vielleicht nicht mehr ganz dicht…"

    "So wie hier im Prinzip jetzt."

    "... dann muss natürlich sofort etwas getan werden. Das ist die kritische untere Marke, so dass schon genau hingeschaut werden muss, dass der Alkohol nicht auf gefährliche Weise absinkt."

    Die Wartungsarbeiten sind Routine und rasch erledigt. Die beiden Zoologen können sich wieder auf das konzentrieren, was sie eigentlich vorhatten: ihrer Sammlung ein bestimmtes Exemplar zu entlocken:

    "Da ist es doch hier!"

    "Genau!"

    "5315."

    "Das ist dieser Leiobunum, der eingeschleppt worden ist und von dem wir den Namen überhaupt noch nicht wissen. Und da haben wir damals, vor anderthalb Jahren jetzt, die ersten Exemplare von unserem holländischen Kollegen Hay Wijnhoven bekommen. Aus der ursprünglichen Population, die dieser holländische Kollege als erster in Europa gefunden hat. Und da ist die ganze Sache ins Rollen gekommen."

    Nr. 5-3-1-5. Ein Alkohol-Präparat unter vielen. In dem fingerdünnen Reagenzglas sind die beiden Weberknecht-Exemplare regelrecht eingepfercht, die Beine angewinkelt. Jochen Martens vergewissert sich noch einmal durch einen Abgleich mit der Inventarliste: Es handelt sich um die ominösen, langbeinigen Fremden, die auch in der Burgruine im Essener Stadtwald scharenweise aufgetaucht sind. Martens:

    "Wir wissen einfach nicht, wie dieses Tier heißt. Bis auf die Gattung: Leiobunum. Das war sehr schnell klar. Aber der Artname ist bis jetzt unbekannt. Und auch sorgfältige und umfangreiche Nachforschungen etwa im Senckenberg-Museum, wo auch eine große internationale Leiobunum-Sammlung eingestellt ist, hat bis jetzt nicht zum Erfolg geführt."

    Was Martens und sein Doktorand Axel Schönhofer aber wissen, ist, dass sich der unbekannte Neueinwanderer ziemlich rasant ausbreitet. Schönhofer:

    "Also, die ersten Funde stammen aus den Niederlanden. Da ist die Art jetzt eigentlich relativ weitverbreitet schon gemeldet worden. Also, bis Amsterdam haben wir Funde. Bis an die deutsche Grenze haben wir Funde. Dann haben wir Funde im Ruhrpott. Aus dem Saarland haben wir gemeldet bekommen. Koblenz, aus der Ecke. Wir haben auch noch einen Fund, den wir prüfen mussten, in Wiesbaden. Also Hessen hat die Art wahrscheinlich auch schon erreicht. Und aus Österreich haben wir mittlerweile auch bestätigte Funde."

    Hinzu kommt eine ganze Reihe von Verdachtsfällen. Vermutlich hat die Art ihren neueroberten Lebensraum in Mitteleuropa inzwischen noch stärker ausgedehnt. Schönhofer:

    "Eine Frau aus der Schweiz, von der wir eigentlich gehofft haben, dass sie uns noch Tiere schickt, dass wir die Art halt dort auch bestätigen könnten, oder Fotos – die hat dann nur geschrieben: Ja, ich gehe einmal in meinen dunklen Schuppen, da hängen so Spinnen an der Decke, und versuche einmal ein Foto zu machen. Und danach hat sie sich nie wieder gemeldet. Aber ich glaube nicht, dass da irgendwas passiert ist."

    Martens:

    "Angesprungen wird man nicht. Und wenn man angesprungen werden würde, wäre es auch ungefährlich. Die Weberknechte sind ja absolut ungiftig und haben auch sonst keine ekelhaften Sekrete. Und wenn zwei oder auch zwanzig über den Ärmel laufen, ist das auch unbedenklich."

    Den Arachnologen macht etwas ganz anderes Angst: Nicht die direkte Begegnung mit den feingliedrigen Tieren, sondern Ihre Ausbreitungsdynamik in der Natur. Auch die fremde Weberknecht-Art könnte in einem Transport-Container eingereist sein, vielleicht im Hafen von Rotterdam. Nun schwärmt sie offenbar nach Osten aus. Martens:

    "Zunächst ist recht bedenklich für uns Biologen und auch Naturschützer, dass diese Art in großen Individuenzahlen auftritt. Und überall da, wo neue, zunächst kleine Kolonien entstehen, vergrößern sich diese Kolonien. Und haben dann schon kraft dieser großen Individuenmengen Einfluss auf die lokale Fauna. Unser Bedenken besteht vor allem darin, dass andere lokale Weberknecht-Arten sich gegen diese, ich möchte sagen, Übermacht an Individuen nicht durchsetzen können."

    Die Zoologen sprechen von einer "indirekten Verdrängung" durch das vorrückende Invasoren-Heer.

    "Wir müssen aber auch damit rechnen, dass eine direkte Verdrängung einheimischer Weberknecht-Arten stattfindet. Wir wissen inzwischen auch, dass die Jungtiere dieser neuen Art nicht an Mauern, nicht an Felswänden leben, sondern am Boden. Und dort treffen sie mit anderen einheimischen Arten zusammen, die etwa im Juli, August auch noch jung sind. Und da sieht es ganz so aus, dass eine direkte Konkurrenz, ein gegenseitiges Sich-Auffressen, stattfinden könnte."

    "Wir hatten den Fall, dass eine Art vor 40, 50 Jahren eingewandert ist von der italienischen Halbinsel. Und hat eine der häufigsten Arten an unseren Hauswänden so gut wie ersetzt. Und das befürchten wir im Prinzip auch, dass es in noch stärkerem Maße mit diesem neuen Leiobunum geschieht."

    "Bodenfallen in der Eifel einzugraben ist oftmals ein bisschen schwierig, weil der Boden hier so steinig ist. Zurzeit habe ich eine ganz normale handelsübliche kleine Schaufel in der Hand, mit der ich einen Joghurtbecher in den Boden eingrabe. Die Finger werden jetzt auch ein wenig taub. Es ist relativ eisig hier."

    Ein ungemütlicher Wintertag im Nationalpark Eifel. Der Wind fegt frostig über die Dreiborner Hochfläche, einen früheren Truppenübungsplatz. Ringsherum flaches, geducktes Gras und ein paar Ginsterbüsche. Im Hintergrund Burg Vogelsang, ein klobiges Gemäuer, bekannt als frühere Kaderschmiede der Nationalsozialisten.

    "So, ich gehe jetzt weiter zur nächsten Falle. Ganz schön kalt an den Händen! Drei Grad und Wind machen doch ’was aus."

    Volker Hartmann, Zoologe und Doktorand an der Universität Münster, hat einen Forschungsauftrag in der Eifel. Er besteht darin, die Spinnenfauna des noch jungen Nationalparks zu erfassen. Hartmann:

    "Also, im Sommer können teilweise innerhalb von wenigen Wochen bis zu 300, 400 Spinnen in eine Bodenfalle hineinfallen. Und jetzt im Winterhalbjahr kann es sein, dass innerhalb eines Monats vielleicht zehn Tiere in die Bodenfalle hineinfallen. Spinnen sind taktil unterwegs, also sie ertasten ihre Umgebung. Und dementsprechend: Die nehmen die Falle jetzt nicht optisch wahr, sondern stürzen einfach hinein, weil auf einmal der Boden vor ihren Füßen verschwunden ist."

    Nach sechs Wochen ist es wieder an der Zeit, die Fallen zu leeren. Sie enthalten ein Gemisch aus Formalin, Alkohol und Wasser. Alles, was in die eingegrabenen Becher plumpst, wird darin konserviert. Auch Spinnenexperte Martin Kreuels ist an dem Projekt in der Eifel beteiligt und mit vor Ort an diesem lausigen Wintertag. Kurze Inspektion der ersten Bodenfalle. Kreuels:

    "Ein, zwei Schnecken sind da reingefallen. Ohrenkneifer sind drin. Hier vorne ist ein Ohrenkneifer, da oben an der Ecke ist ein Ohrenkneifer. Drei Stück insgesamt. Dann an den Seiten sind so kleine Baldachinspinnen. Die sind schon ein bisschen größer. Das ist wahrscheinlich Centromerita bicolor. Die kommt hier relativ häufig vor. Die hat auch leider wieder keinen deutschen Namen. Und dazwischen liegen jetzt noch ein paar kleine Fliegen. Im Winter haben wir natürlich erheblich weniger Tiere als in den Sommermonaten. Aber das Interessante ist, dass überhaupt ’was aktiv ist. Und es kommt ja nicht immer auf die Menge an, sondern es kommt darauf an, was man fängt. Da kommt jetzt noch ein bisschen Alkohol drauf. Das war’s? Gut. Dann fahren wir jetzt weiter."

    Welche Spinnen in der früheren militärischen Sperrzone vorkommen, war bisher nicht bekannt. Und kaum beginnt die erste systematische Sammelaktion, da tauchen auch im heutigen Naturreservat fremdstämmige Arten auf. Kreuels:

    "Ein spektakulärer Fund aus unserer Sicht ist eine ganz kleine Baldachinspinne. Das sind die kleinsten Spinnenarten, die wir hier in Deutschland haben. Die werden etwa so einen halben bis anderthalb Millimeter groß. Und da haben wir eine Spinne nachweisen können, die wohl aus Amerika eingeschleppt worden ist und hier im westlichen Teil Deutschlands vor allem Truppenübungsplätze besiedelt. Also, wir gehen davon aus, dass sie nach Karlsruhe auf einen Truppenübungsplatz von den Amerikanern eingeschleppt worden ist, und sich von da aus in Europa langsam ausbreitet."

    Auch für diese unscheinbare Art gibt es keinen deutschen Namen. Der lateinische lautet Eperigone trilobata. Wie andere Baldachinspinnen lauert sie in einem besonderen Gespinst. Kreuels:

    "Es ist ein Netz, was eine baldachinartige Struktur hat. Nach oben ein ziemliches Durcheinander von Fäden, die in die Vegetation hineingesponnen werden. Und dann schließt sich nach unten hin eine Art Decke an, wie so eine Art Baldachin. Und unter diesem Baldachin sitzt die Spinne dann bäuchlings nach oben und wartet darauf, dass oben in diesem Wirrwarr von Fäden Insekten hineinfliegen, die dann herunterfallen auf diese baldachinartige Fläche und von der Spinne dann gefangen werden können."

    Auch Wolfgang Nentwig in Bern kennt die Baldachinspinne mit der Vorliebe für militärische Übungsplätze sehr gut. Nach seinen Beobachtungen dringt sie inzwischen auch in gewöhnliche Gras- und Strauchbiotope vor, Nentwig,

    "... die in der Schweiz und Süddeutschland in den letzten zehn Jahren sehr, sehr häufig geworden ist, vielleicht die häufigste dieser Neuankömmlinge bei Spinnen ist. Weil diese Art so häufig ist, haben wir analysiert in einer Vielzahl von Lebensräumen, in der sie neu vorkommt, wie sich die Spinnengesellschaft daraufhin verändert haben könnte."

    Die Vermutung war: Wenn sich die neue Art in Europa etabliert, dann sicher auf Kosten hiesiger Baldachinspinnen mit ähnlicher Lebensweise. Doch die Berner Ökologen fanden bisher keinen Hinweis dafür, dass der Exot einheimische Arten verdrängt. Nentwig betont aber:

    "Für andere Tier- und Pflanzenarten gibt es genügend viele Belege, dass Neuankömmlinge sich negativ auswirken."

    Negativ bedeutet hier nach Lesart der Biologen, dass alteingesessene Arten den Kürzeren ziehen und vielleicht gänzlich verschwinden. Doch ist das überhaupt weiter tragisch? Könnte man nicht argumentieren, dass bloß konkurrenzkräftigere Arten an die Stelle der alten treten und deren Rolle übernehmen – ganz gleich, woher sie stammen? Wäre der Wandel der einheimischen Fauna wirklich ein Problem? Auf alle Fälle, meint Ökologie-Professor Nentwig und mahnt,

    "dass wir nicht nur Spinnen, sondern auch all die immensen Zahlen von Pflanzen und Tieren, die kontinuierlich nach Europa gebracht werden – dass wir diese fremden Arten nicht als Bereicherung empfinden. Wir müssen versuchen, der McDonaldisierung, dieser Gleichförmigwerdung der Lebensräume, entgegenzuwirken. Denn das ist eine Angleichung nach unten. Unsere Biodiversität, die Einzigartigkeit unserer Lebensräume, letztlich unser wirtschaftlicher Wohlstand und unsere Gesundheit sind dadurch bedroht. Die heutige Artenfülle von Millionen Arten ist ja nur dadurch entstanden, dass sie separiert waren in verschiedene Lebensräume. Wenn wir jetzt all diese Trennwände aufheben, dann führt die Vermischung nur dazu, dass sehr viele auf der Strecke bleiben."

    Nentwigs Kollege Jochen Martens in Mainz sieht dieses Schicksal auf einheimische Weberknecht-Arten zueilen. Wegen der neuen, noch unbekannten Art, die in Horden aus Holland anrückt. Martens:

    "Dass die Tiere in unserem Klima in ganz kurzer Zeit diese enorm großen Populationen aufbauen können, Das ist im Augenblick für uns besonders spannend, wenn wir auch sagen müssen, dass die Effekte sehr wahrscheinlich für unsere einheimische Weberknecht-Fauna eher schädlich, wenn nicht sogar katastrophal sein werden."

    Nach Ansicht von Wolfgang Nentwig sollte man zudem bedenken: Wenn Spinnentiere eingeschleppt werden, dann können darunter auch giftige Arten sein. Nentwig:

    "Unter den 40.000 weltweit vorkommenden Spinnenarten ist vielleicht ein Dutzend oder zwei Dutzend für den Menschen gefährlich. Man stirbt nicht an einem Biss. Aber in der Regel ist der so unangenehm, dass man sofort den Arzt aufsucht. Es ist eine Behandlung nötig, und man kämpft einige Tage mit den Bissfolgen dieser Spinne. Schwarze Witwen sind ein solches, gut bekanntes Beispiel. Einige Arten weltweit."

    Fast verschlug es eine giftige, australische Variante der Schwarzen Witwe schon einmal nach Belgien und Norddeutschland. Nentwig:

    ""Die Tiere wurden nachgewiesen, haben sich aber nicht etablieren und ausbreiten können. Und sind punktuell dann auch wieder ausgestorben."

    Der Welthandel sollte dafür Sorge tragen, dass Fälle wie dieser in Zukunft ausgeschlossen sind, verlangt der Berner Hochschullehrer Nentwig:

    "Wenn Waren nach Europa verfrachtet werden, dann müssen Minimal-Standards eingehalten werden, was die Sauberkeit der Container, die Kühlung, die Begasung angeht. Wenn ein Importeur Ware aus einem exotischen Land bekommt, muss er eine Verpflichtung dafür haben, dass die Ware, die er erhalten hat, nur das umfasst, was er haben wollte, und nicht blinde Passagiere, die Folgekosten verursachen können. Umgesetzt ist das leider noch lange nicht."

    Immer mehr Weberknechte rotten sich in den schattigen Winkeln der Burgmauer zusammen. Geduldig warten sie auf den Eintritt der Dunkelheit. Nentwig:

    "Natürlich muss man etwas unternehmen. Ich rede nicht nur über Spinnen, sondern auch alle anderen Arten."

    Zitat:

    Es dämmert, die Nacht bricht herein. Der Pulk wird unruhig, beginnt sich aufzulösen. Das Jagdfieber hat die Spinnentiere erfasst.

    Nentwig:

    "Sehr viele Schädlinge in landwirtschaftlichen Kulturen sind irgendwann eingeschleppt worden."

    Zitat:

    Zu Hunderten schwärmen die Weberknechte im Schutz der Dunkelheit aus. Auf ihren langen Beinen durchkämmen sie jeden Winkel des Geländes: Wiesen und Wege, Gestrüpp und Gemäuer.

    Nentwig:

    "Alle Lagerschädlinge an Lebensmittelvorräten, Kornkäfer, Motten und so weiter, sind irgendwann eingeschleppt worden."

    Zitat:

    Nichts ist vor den hungrigen Mäulern sicher. Mit ihren mächtigen Mundwerkzeugen stürzen sich die Weberknechte auf alles, was ihnen in die Quere kommt. Nicht nur auf Schnaken und Fliegen, sondern auch auf ihresgleichen – auf die Spinnentiere, die eigentlich hier hingehören.

    Nentwig:

    "Es ist keine Bereicherung!"