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"Araf"
Die Last mit der Liebe

Die junge Zehra arbeitet in einer Raststätte an der Autobahn zwischen Ankara und Istanbul. Sie befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Kindheit und Erwachsensein. An dieser Heldin bleibt die türkische Regisseurin in ihrem Film "Araf" stets nah dran und zeigt eine Generation ihrer Heimat, die ziellos umher irrt - auch in der Liebe.

Von Josef Schnelle |
    Die türkische Regisseurin Yesim Ustaoglu auf dem 69. Filmfestival in Cannes.
    Die türkische Regisseurin Yesim Ustaoglu auf dem 69. Filmfestival in Cannes. (picture alliance / dpa - Claudio Onorati)
    "Kürzlich ist etwas Furchtbares passiert. Erzähl mir davon. - Sie sagten ich hätte etwas getan. Aber ich hab nichts getan. - Was sollst Du getan haben?"
    Zehras "Tat" ist eines der Geheimnisse in diesem Film, die besser nicht in einer Besprechung vorab verraten werden sollten. Zehra arbeitet im trostlosen Schnellrestaurant einer Raststätte an der Autobahn zwischen Ankara und Istanbul. Sie befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Kindheit und Erwachsensein. Das ist auch die Bedeutung des Filmtitels dieses kleinen aber feinen türkischen Films von Yesim Ustaoglu.
    Besagter Schwebezustand ist für Zehra zusätzlich einer zwischen der Provinz und dem Traum von der großen Stadt. Doch der Mehltau der Kleinstadt, in der alles von den Traditionen bestimmt zu sein scheint, erdrückt sie fast. Da nützt es auch nicht, dass der etwa gleichaltrige Kollege Olgun sie aufrichtig liebt und aus seiner Zuneigung auch kein Geheimnis macht.
    Ehe ohne Leidenschaft
    Zehras Weg führt eigentlich zwangsläufig in eine typische türkische Ehe ohne Leidenschaft, so wie die Elterngeneration sie ihr vorlebt. Doch sie ist nicht bereit dazu, besonders als sie Mahul kennenlernt, einen Lastwagenfahrer mit grauem Bart, der cool ständig mit seiner Komboloi-Kette spielt und dessen physische Präsenz ihr Begehren weckt. Nach der ersten Begegnung bei einer Hochzeit wartet immer wieder der rote Lastwagen auf sie. Mit Mahul erlebt Zehra eine erste echte Leidenschaft und natürlich repräsentiert er als Lastwagenfahrer auch den Traum von der Ferne. Gleichzeitig lässt sie ihren jugendlichen Verehrer im Unklaren. Schon wieder ein Schwebezustand, der schwerwiegende Folgen hat. Olgun erfährt von der Parallelbeziehung, dreht durch, wird gewalttätig und muss sogar kurzzeitig ins Gefängnis.
    "Liebling, die Polizei sucht nach dir. - Was hast du getan? Sag doch was. - Du solltest dir einen Mann suchen. Dann könntest du weg von hier."
    Der desillusionierte Rat der älteren Freundin und Kollegin spiegelt das ganze Dilemma des Frauseins in der ländlichen türkischen Gesellschaft wieder: Nur wenn man scheinbar den Konventionen folgt, kann man sich mit List und Tücke ein wenig Freiraum erkämpfen.
    Männerfiguren des Films sind abstoßend
    Auch Olgun will weg. Sein Traum ist: in der Fernsehshow "Deal or No-Deal" der große Sieger zu sein. Doch vorerst ist er gefangen in den pubertären Spielen mit seinem Freund, mit dem er nächtelang über Penisgrößen philosophiert. Überhaupt sind, abgesehen von dem freundlichen Olgun, die Männerfiguren in diesem Film abstoßend. Sie sind alkoholabhängig, sexistisch und neigen zur Gewalt. Zehra trifft eine radikale Entscheidung.
    "Was geschieht jetzt? - Wir hauen zusammen ab. - Lach nicht!"
    Yesim Ustaoglu bleibt mit der Kamera stets nah bei ihrer Heldin. Ob es sich um die Leidenschaft der ersten Liebesnacht, um die Sehnsucht nach dem geliebten Mann oder die Fehlgeburt des ungewollten Kindes handelt, stets ist die Großaufnahme von Zehras Gesicht die bestimmende "Landschaftsaufnahme" des Films.
    Ustaoglu verschließt sich nicht gelegentlichen Stimmungsbildern von verschneiten Autobahnen, Smog verhangenen Industriegeländen und trist-schönen Betonwüsten. Aber ihr Film bleibt stets dicht bei den handelnden Personen. Anders als etwa der frisch gebackene Cannes-Gewinner Nuri Bilge Ceylan versagt sie sich jegliche Romantisierung durch winterliche Landschaftsbilder. Das macht den Film jedoch so außerordentlich intensiv und eindrucksvoll. Manchmal scheint die Zeit still zu stehen, um dann wieder zu rasen.
    Fegefeuer der Selbstfindung
    Zwischen Internet, Fernsehshows und Shoppingcentern wächst in der Türkei eine Generation heran, die im Fegefeuer der Selbstfindung immer noch ziellos herumirrt. "Fegerfeuer" das ist eine der Bedeutungen des Titels "Araf". Zum Schluss gibt es ein "vergiftetes" Happy End. Olgun heiratet Zehra. Die Hoffnung auf ein besseres selbstbestimmtes Leben, die in der letzten Szene aufscheint, ist schon morsch.
    "Ich hatte keine Wahl und Du auch nicht."