Wie feine Spinnennetze überziehen die Baugerüste den Betonkern des Al Khalifa-Stadions. An einigen Stellen glitzern bereits die Aluminiumsegmente der Außenhaut. Weite Teile des Sporttempels sind aber noch Rohbau. Wie Ameisen wirken die in rote und gelbe Schutzwesten gekleideten Arbeiter, wenn sie sich auf den verschiedenen Ebenen bewegen. Fragt man sie bei der geführten Besichtigung, ist alles prima auf der Baustelle und in der Unterkunft. Mit der Arbeit sei es genauso, erklärt etwa ein Arbeiter aus Bangladesh. Beginnt ein Gespräch mal etwas in die Tiefe zu gehen, ist gleich ein Aufpasser zur Stelle - und bricht den Dialog ab.
Um an ungefilterte Informationen zu gelangen, muss man ins Industrial Area. Man fährt über staubige Straßen, reiht sich ein in den endlosen Strom von Lastwagen und Werksbussen. Links und rechts Lagerhäuser, Werkstätten, kleine Industrieklitschen. Alles wirkt roh, wie alpgeträumter Manchesterkapitalismus. Mitten in diesem Industrieareal immer wieder Unterkünfte. Auch solche vom Stadion-Hauptauftragnehmer Midmac.
Die Firma hat im gerade herausgekommenen Bericht des Workers Welfare Committee des Supreme Committees, also der Arbeiterrechteabteilung des WM-Organisators, die Ampelfarbe grün für ein Erfüllen der Standards erhalten. Midmac habe neue Unterkünfte für seine Arbeiter errichtet, heißt es lobend im Bericht. Der beim Stadionbesuch gefragte Arbeiter aus Bangladesch wohnt offenbar in so einer. Andere Midmac-Arbeiter sind aber im Industrial Area untergebracht und haben nur wenig Platz.
Ampelfarbe grün trotz klarer Mängel
"Sieben, sieben Mann. Alle in Doppelstockbetten. Alle haben Doppelstockbetten, nur die Angestellten nicht. Wir hängen Duschvorhänge zwischen die Betten, so dass wir Privatsphäre haben", erzählt Gulliver, ein philippinischer Baggerfahrer, der vor kurzer Zeit noch im WM-Stadion von Al Khor arbeitete und gerade ins Khalifa-Stadion versetzt wurde. Der Schlüssel von 4,5 qm pro Person, den das Supreme Committee als Standard vorgibt, ist nicht erreicht.
Die Ampelfarbe grün ist fehl am Platz. Schreiendes Rot wäre angebracht. Denn Gulliver hat Rekrutierungsgebühren zahlen müssen, um nach Katar zu kommen, sagt er: "Ja, wir zahlten 34.100 Pesos. Wenn ich in diesem Monat mein Gehalt bekomme, kann ich alles abzahlen. Aber es ist bislang noch nicht gekommen wegen der Umstellung auf die Geldautomaten."
Die Umstellung der Lohnzahlungen von Bargeld auf Konten ist eigentlich ein Teil des Reformpakets. Dank der digitalen Spur will das Arbeitsministerium Katars die Zahlungsflüsse kontrollieren und säumige Arbeitgeber abstrafen. Nun hat die Umstellung selbst zu Verzögerungen geführt. Gulliver wurde versprochen, dass er morgen, Sonntag, den 14. Februar, den Januarlohn erhält. Kommt er nicht, kann er wenig machen. Denn die Arbeiter sind den Unternehmen ausgeliefert wie früher Leibeigene ihren Herren.
Beschwerden erst nach der Rückreise
"Sie haben Angst. Eine Beschwerde trauen sie sich allenfalls zu machen, wenn sie schon außerhalb des Landes sind. Denn wenn der Arbeitgeber ihnen keine Ausreiseerlaubnis gibt, dann haben sie keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Und wenn der Staat dann sieht, dass dein Visum schon abgelaufen ist, landest du im Gefängnis," erzählt Frank, ein im Untergrund arbeitender Abgesandter einer internationalen Gewerkschaftsorganisation. Gewerkschaften sind verboten in Katar. Frank versucht die Männer zu organisieren, ihnen die Angst zu nehmen, für ihre Rechte einzutreten.
Skandalöser als die verspätete Gehaltszahlung, die bei Midmac vielleicht tatsächlich die Ausnahme ist, ist die Tatsache, dass der Bauarbeiter Rekrutierungsgebühren zahlen musste. Die sind nicht nur unfair, sondern schlichtweg ungesetzlich, von Katar selbst verboten. Selbst Megan Jenkins, eine smarte Juristin und Verantwortliche des Workers Welfare-Programm des Supreme Committees, muss eingestehen, dass ihre Bilanz in Sachen Vermittlungsgebühen bescheiden ist.
Es werden noch viel mehr Arbeiter kommen
"Wir haben uns bisher noch nicht so sehr auf die ethische Rekrutierung und Beschäftigung konzentriert. Das liegt auch daran, dass viele der Arbeiter, die in den Stadien tätig sind, bereits in Katar waren. Wir können da nicht rückwärts gehen. Aber wenn die Anzahl der Arbeiter ansteigt, dann werden wir mit den Auftragnehmern zusammenarbeiten, damit dieser Prozess gut abläuft."
Nun ja, Gulliver kam vor sieben Monaten in Katar an. Sein Anwerbungsprozess ist keine Altlast, sondern ein ziemlich frisches Versagen. Was droht alles, wenn in zwei Jahren anstelle der aktuell 3987 Beschäftigten etwa 70.000 Mann an den Arenen werkeln? Über Mangel an Arbeit muss sich Gewerkschafter Frank sicher nicht beklagen.